Das Unheimliche als Heimat

von Martin Kagel

Athens/Georgia, 28. Juli 2007. Als sich George Tabori 1970 entschied, in Deutschland zu leben und zu arbeiten, hatte er eigentlich schon ein ganzes Leben hinter sich. 56 Jahre war er alt, hatte, 1914 in Ungarn geboren, in Deutschland, im Nahen Osten, in England und den U.S.A. gelebt, sich als Lehrling im Hotelfach, als Korrespondent, im Dienst des Britischen Geheimdienstes, als Schriftsteller, Drehbuchautor, Übersetzer und Regisseur verdingt.

In Kalifornien, wo er seit Ende der vierziger Jahre seine Zelte aufgeschlagen hatte, machte er sich durch Drehbücher für Alfred Hitchcock und Anatole Litvak einen Namen. Auch in New York, wo er sich in den fünfziger und sechziger Jahren dem Theater verschrieb, galt er etwas, wenngleich sein eigenes Theater dort eher auf Unverständnis oder Indifferenz stieß. Und dann entschied er sich auf einmal, einfach wieder nach Europa zurückzukehren, schnell noch einmal berühmt zu werden und ein weiteres Leben zu leben, in einem Alter, in dem andere an Ruhestand oder Selbstmord denken.

Therapeutische Premiere mit Fluchtauto

1969 war er dann nach Berlin gekommen, wo er zuletzt Anfang der dreißiger Jahre gewohnt hatte, um dort gemeinsam mit Martin Fried die Holocaust-Groteske "Die Kannibalen" zu inszenieren. Das Stück, das heute in einem Atemzug mit Peter Weiss’ "Ermittlung" und Rolf Hochhuths "Stellvertreter" genannt werden muss, bot Schauspielern und Zuschauern die Möglichkeit einer quasi-therapeutischen Befreiung vom Trauma des Vergangenen (jedem auf seine Weise) und wurde, in der Schiller-Werkstatt inszeniert, zu einem unerhörten Erfolg. Angeblich hatten Fried und Tabori am Abend der Premiere ein Fluchtauto bereitstellen lassen, dass sie zum Flughafen hätte fahren können, falls es Probleme gegeben hätte.

Aber vor den Deutschen fliehen musste der gebürtige Ungar, dessen Name auf den verweist‚ der aus dem Lager kommt, nun nicht mehr. Im thematischen Zentrum des Stückes stand George Taboris in Auschwitz ermordeter Vater, Cornelius, seines Zeichens Marxist und Jude, eine, wie man im Stil des Sohnes sagen könnte, ausgesprochen tödliche Kombination. Von Schuldgefühlen gegenüber dem Vater wollte Tabori sich durch sein Stück befreien und zugleich Tabus zerstören, die dem Verständnis aller Opfer als Menschen im Wege standen.

Befreiung von den Vätern

Formal galt das Stück dazu der Befreiung von einem ganz anderen Vater, Bertolt Brecht. Dass Tabori zuletzt am Theater am Schiffbauerdamm arbeitete und nun auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt werden soll, auf dem auch Brechts sterbliche Überreste lagern, entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie. Denn obschon eine Begegnung mit Brecht im amerikanischen Exil Tabori dazu bewegte, sich ausschließlich dem Theater zu widmen, war es zugleich Brechts Theater, dem Tabori 1968, also ein Jahr vor der Premiere der "Kannibalen", beim Brecht-Kongress in Ost-Berlin unter Tränen abgeschworen hatte. Es sei unendlich schön, so hieß es damals, aber er, Tabori, könne es nicht machen.

Dennoch war Tabori einem Wahl-Vater verpflichtet, und zwar dem, der selbst vom Vatermord schrieb: Sigmund Freud. "Totem und Tabu" oder "Das Unbehagen in der Kultur" sind Leittexte von Taboris Werken und Inszenierungen. Brecht benutzte er brechtisch lediglich, um sich seiner zu entledigen. In den "Kannibalen" wird nicht zur Identifikation mit den Opfern eingeladen, sondern zur Identifikation mit den Söhnen, die deren Schicksal auf der Bühne vermitteln. Im rituellen Bühnenmord wurden dabei alle möglichen Geister exorziert – zuletzt auch der des epischen Theaters.

Lieber Freud als Brecht

Zum Einfluss Freuds gehört auch die unablässige Betonung des Witzes im Werk Taboris. Nicht diskursiv in der Form der Erkenntnis, birgt der Witz die Möglichkeit, die gesellschaftliche Ordnung im Augenblick radikal in Frage zu stellen und deren Abgrund aufzutun. In seinen den besten Stücken, "Mein Kampf", "Courage", "Jubiläum", "Weisman und Rotgesicht" gelang es Tabori, die radikale Logik des Witzes gegen das autoritäre Denken zu wenden und tatsächlich ein Moment von Befreiung herzustellen. In anderen Texten, und Tabori war sich nicht zu schade, auch schlechte Literatur zu verfassen, gerann ihm der Witz zur Manier. Kein Witz ist an sich subversiv.

Dessen ungeachtet verhalf der Witz Tabori das Menschliche im Unmenschlichen zu sehen, aber er machte es ihm auch unmöglich, nur den Unmenschen zu zeigen und das Unmenschliche als solches zu verdammen. Immer musste es die Wunde und das Messer zugleich sein. Demgemäss stand auch Taboris Verhältnis zu den Deutschen im Zeichen der Versöhnung. Sein persönliches Verhalten, seine Menschenliebe, haben ihm die Deutschen hoch angerechnet, und liebten ihn, den ungarischen Juden, der aus Amerika bei Ihnen eingetroffen war, zurück.

Erotisches Verhältnis zum Feind

Tabori war sicher kein Versöhnler und konnte im Denken hart und ungemein konsequent sein, doch in seiner öffentlichen Person verstand er sich als Liebender. Sein Verhältnis zum Feind war am Ende ein erotisches. Ansonsten war er, ganz nach Lessing, aller Menschen Freund – sogar der Deutschen. Die selbstinszenierte persona Taboris hatte in den letzten anderthalb Jahrzehnten sein literarisches Werk und Theaterschaffen längst abgelöst, doch auch das kam im Land der Täter zu hohen Ehren. Verdientermaßen wurden ihm Theater- und Literaturpreise zuteil, unter ihnen die höchste deutsche Auszeichnung für Literaten, der Georg Büchner-Preis.

Er ist wohl der einzige deutsche Autor, dem diese Auszeichnung zugesprochen wurde, der gar nicht in deutscher Sprache schrieb, denn bis zu seinem Lebensende verfasste Tabori praktisch alle seine Texte auf Englisch und ließ sie zwecks Veröffentlichung übersetzen. Tabori kultivierte diese Distanz im Schreiben, obschon sein Englisch keineswegs besser als sein Deutsch war.

Ohne Erben

Als transnationaler Autor suchte er eine Sprache, eine Position, die ihn zum Fremden unter den Deutschen machte. Subjektiv mag ihm das gelungen sein, und alle die selbst gern fremd sein wollen, Schriftsteller und Regisseure zumal, projizierten diese Fremdheit gern in ihn hinein. Objektiv aber war Tabori unter den Deutschen alles andere als ein Fremder. Er war, zumindest im deutschen Theater, ein stilles Zentrum, jemand, bei dem man sich ausruhen konnte, an dessen Weisheit man nicht zu zweifeln brauchte, dem man sich in seiner ganzen Hässlichkeit zeigen konnte, ohne fürchten zu müssen, verdammt zu werden. Unheimlich war dieser Ort im Freudschen Sinne und eben deshalb Heimat.

George Tabori lässt sich nicht beerben. Dafür gibt es viele Gründe, etwa den, dass er als Autor nie eine eigene Ästhetik entwickelte, aber eben auch die Unnachahmlichkeit seiner Person. So kann man seinen Verlust nur betrauern und dankbar dafür sein, dass er seinerzeit so unvermutet in Berlin erschien. Kein schlechter Witz.

 

mehr porträt & reportage

Kommentar schreiben