Nekrassow - Philipp Preuss inszeniert Jean Paul Sartres Posse aus dem Kalten Krieg
Piff Paff Puff
von Andreas Wilink
Dortmund, 14. November 2009. Hatte Moskau ihm den Kopf verdreht, hat er sich auf Suche nach dem "dritten Weg" in der Richtung geirrt oder ist er bloß in die falsche literarische Gattung gelaufen? Wollte der Dichter-Philosoph und Propagandist der Tat sich rein waschen von seinem die kommunistische Parteilinie als blutigen Zickzackkurs nachzeichnenden Balkan-Drama "Die schmutzigen Hände" von 1948? Sieben Jahre nach dieser dialektischen Finesse verfasste Jean-Paul Sartre seinen "Nekrassow" als Posse gegen das korrupte kapitalistische System in der Klimakrise des Kalten Krieges.
Während die Anti-Kommunisten in "Nekrassow" – Presse, Polizei und Politik – allesamt Heuchler, frivole Geschäftemacher und manipulierende Marionetten des Mammon sind, der Betrüger der einzige Wahrhaftige und die Idee der Freiheit kein utopisches Projekt, sondern ein großer Bluff ist, überholte die Realität schnell die dramatische Farce.
Ohne Lachen, Licht und Schuhe
Der Ungarn-Aufstand 1956, im Jahr der geplanten (west-)deutschen Erstaufführung, hatte den Spaß daran verdorben. Auch Sartre protestierte gegen das Vorgehen der UdSSR im Block-Bruderland. "Nekrassow" kam dann – bei der Uraufführung in Paris 1955 mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen und danach propagandistisch nützlich in Moskau und Prag aufgeführt – an der Volksbühne in Ost-Berlin heraus. Unter den Premierengästen: der damalige DDR-Präsident Wilhelm Pieck. "Nekrassow" teilte das Schicksal von Billy Wilders garstiger Coca-Cola- und Kommunismus-Komödie "Eins, Zwei, Drei", gedreht kurz vor Bau der Berliner Mauer 1961.
Sartres Vaudeville-Stück, wäre es weniger wortreich und nicht so mühevoll spaßig, verfügte es überhaupt nur über etwas Esprit, hätte wie Wilders Doppelschlag gegen Ost und West wirken können; zu einer Zeit, da der Westen hinterm Eisernen Vorhang im Paradies des Proletariats am liebsten ein Potemkinsches Dorf erblickte und das Elend der Massen – ohne Lachen, ohne Licht, ohne Schuhe, ohne Brot – in schwarz-weißer Kontrastschärfe zur freien Welt sehen wollte.
Der Club der Erschossenen
Ein Komplott. Ein Scoop. Eine mediale Mogelei. Georges de Valéra ist flüchtig. Der Betrüger großen Stils und Künstler-Hochstapler, der zu Anfang von einem Clochard-Paar in einem ironischen Pariser Unter-den-Brücken-Idyll aus der Seine geangelt wird, spielt falsch. Palotin, Chefredakteur des "Soir à Paris", der unter Druck seines Verlagsherrn, der Auflage und des rechten offiziellen Regierungskurses steht, benutzt Valéra als Quotenmacher und Attraktion der bourgeoisen Salons. Sein Redakteur Sibilot gibt ihn als russischen Innenminister Nekrassow aus, der scheinbar in die Freiheit verschwunden ist.
Valéra macht Sensation, indem er "Plan C" und das wahre Gesicht der Genossen mit phantastischen Kreml-Greueln enthüllt. Inklusive einer angeblich geheimen Liste, die die Namen potenzieller Todeskandidaten enthält, die bei Einmarsch der Roten Armee nach Frankreich liquidiert werden sollen. Wer in Paris auf sich hält, will diesem exklusiven "Club der Erschossenen von morgen" angehören. Enthüllungsjournalismus verkehrt. Alle wissen um die Maskerade und setzen die Lüge für ihre Zwecke ein. Nur Valéra, fast eine Sternheim-Figur, zeigt Gewissen, eingeflüstert von einer linken Muse. Aber zu spät. Auch Palotin, dieser "Napoleon der objektiven Information", erlebt sein Waterloo.
Großspurig kleinkariert
Vielleicht ginge es ja noch, würde ein Regisseur Monsieur Palotins Journalisten-Credo beherzigen und auf sein Meter anwenden: "Rhythmus, Tempo" und so den Abend zum Tanzen bringen. Im Schauspiel Dortmund aber schleppt er sich während drei Stunden dahin: zäh, fad und langatmig. Zwar kreisen auf Ramallah Aubrechts Bühne drei Dutzend Türen, die die Auftritte und Abgänge bestimmt fix verklappen könnten, dass die Wände wackelten, aber das tun die hier nur wegen der instabilen Verhältnisse der Sperrholz-Kulisse.
Das Übergeschnappte wirkt mühsam einstudiert und alles andere ebenfalls ziemlich verspannt, steifbeinig und ausgebrütet: angeklebte Bärte, Geschlechter-Travestie, Gummi-Gesichtsmasken und wie nachsynchronisierte Originalstimmen. Die Aufführung gibt sich großspurig und ist doch kleinkariert (und zudem darstellerisch recht kümmerlich).
Philipp Preuss beschwört zwar im Programmheft mit Slavoj Zizek die Aktualität der Krise und deren Systemimmanenz, hat seinen Sartre aber von jedem kritischen und politischen Bewusstsein gesäubert, wie es Stalins Zensur kaum besser bewerkstelligt hätte – auch wenn sich am Ende ein bisschen modisch intellektuelle Depression des Regie-Besserwissers zeigt. Dann macht's noch ein paar Mal Piff Paff. Und es ist verpufft.
Nekrassow
von Jean-Paul Sartre
Regie: Philipp Preuss, Ausstattung: Ramallah Aubrecht, Dramaturgie: Felix Mannheim.
Mit: Michael Kamp, Claus Dieter Clausnitzer, Alexander Gier, Harald Schwaiger, Barbara Blümel, Andreas Vögler, Bernhard Bauer, Andreas Wrosch, Matthias Scheuring, Anne Breitfeld.
www.theaterdo.de
Mehr zu Philipp Preuss im nachtkritik-Archiv: im Mai 2009 brachte Preuss am Theater Dortmund die Uraufführung von Marie Luise Fleißers Historiendrama Karl Stuart heraus, für die Box des Berliner Deutschen Theaters adaptierte er im Januar 2009 mit Almut Zilcher Ingmar Bergmanns Film Persona. Am selben Ort inszenierte der 1974 im österreichischen Bregenz geborene Preuss im Oktober 2007 die Uraufführung von Martin Heckmanns' Ein Teil der Gans, womit er nicht zuletzt unter den Lesern dieser Seite eine heftige Debatte auslöste.
Kritikenrundschau
Regisseur Philipp Preuss inszeniere Sartres satirische Farce in Dortmund als "Spiel der Identitäten", schreibt Stefan Keim in der Westfalenpost (16.11.). Nicht nur der Darsteller des Fake-Nekrassow George de Valera, sondern auch die anderen Schauspieler wechselten oft auf offener Bühne die Rollen. Manchmal erstarrten sie dabei "zu lebenden Bildern. Dann hat die Angst sie ganz in ihren Klauen. Der Betrug des falschen Innenministers kann nur gelingen, weil sich alle so sehr fürchten." Michael Kamp spiele den Hochstapler "erst mit theatralisch ausgestellten Gesten und dann berührend, als er feststellt, dass nicht er die Fäden in der Hand hält sondern vom System benutzt wird". Trotz einiger Längen gelinge es "dem kraftvollen Ensemble, Sartres kommunistisch-linientreue Satire auf die gegenwärtige Angstgesellschaft zu übertragen".
Diese Farce verknüpfe "Weltpolitik mit Medienkritik", heraus komme eine "bedrohliche Mischung aus Angst und Drohgebärden", so Rainer Wanzelius auf dem Portal Der Westen (16.11.). Nach dem "Ende des Sowjet-Imperiums, müssten Angst und Drohung vollends mit anderen Inhalten gefüllt werden", weshalb Preuss und sein Dramaturg Felix Mannheim gar nicht erst den Versuch machten, das Stück "ins frühe 21. Jahrhundert zu 'übersetzen'". Stattdessen setzten sie "ausschließlich auf die Mittel der Schauspielerei", um der "zeitgebundenen Satire neue Lebendigkeit einzuhauchen", wobei "die Farce zur Groteske oder die Groteske (...) zum Comedyhorrorstück" mutiere – "ein Versuch, der geglückt ist", nicht nur wegen der Schauspieler, sondern auch dank der "vielen kleinen, mitunter perkussiv anmutenden Gags, die das Theatergeschehen in Fluss halten". Dabei lasse Preuss das "Theater immer wieder neu erfinden". Und fast jeder habe da "sein Bravourstückchen", man erlebe "ein fast schon spielsüchtiges Ensemble mit den zentralen Akteuren" Michael Kamp, Alexander Gier und Andreas Vögler.
Als "Nekrassow"-Besucher sei man "am Ende mit Theatralem abgefüllt", berichtet Andreas Schöter in den Ruhr Nachrichten (16.11.). Zwar hätte "etwas weniger gereicht", doch habe Preuss "den Dortmundern sieben Monaten vor dem Ende der Ära Gruner noch einmal eine große Produktion geschenkt". Die "Bezüge zur Gegenwart" lägen bei dem Sartre-Stück – "Stichwort Angst vor dem Fundamentalismus" auf der Hand. Ramallah Aubrechts Bühnenbild der zahlreichen Türen ermögliche "lauter Raus' und Reins und viel Geknalle". Der Kritiker hat "eine ganze Reihe von sehenswerten Szenen und Details" gesehen: "Harald Schwaiger als kühle Sekretärin, Barbara Blümel als duckmäuserischer Journalist Sibilot mit Bart oder eine eindrucksvoll mit Masken agierende Zeitungsbesatzung". Dieser "Nekrassow" sie "kein Leichtgewicht für ein entspanntes Zurücklehnen am Wochenende, es ist ein Theaterstück, bei dem man hochkonzentriert auf der Stuhlkante sitzt, um auch ja alles mitzukriegen, und das einen noch lange nach dem Schlussapplaus beschäftigt".
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Mit dieser Grundeinstellung lässt sich nur schwer heute verständliche - wenn auch aktuelle - Gesellschafts-und Medienkritik erzeugen und herüberbringen. Immerhin, ein Versuch. Also: Puff, piff und "baff".
Mir hat das alles zu denken gegeben, auch die Schlussszene mit den Selbstmorden: wer denkt da nicht an die Serienselbstmorde in ausländischen Redaktionen ?
Geht mir heute den ganzen Tag durch den Kopf. Gelungene Umsetzung - zumal das Stück vor über 50 Jahren geschrieben wurde;unpolitisch sehe ich die Inszenierung überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Nur ist es eben nicht 1-2-3. Und das ist gut so !
Den Satz "hat seinen Sartre aber von jedem kritischen und politischen Bewusstsein gesäubert, wie es Stalins Zensur kaum besser bewerkstelligt hätte" finde ich nicht nur völlig daneben, er grenzt auch an Beleidigung.
"Großspurig kleinkariert" erscheint in meinen Augen insofern nicht die Inszenierung.
Ich sehe das so, dass die Kernaussagen, nämlich die Angst, die Manipulation, das In-sich-Zusammensacken der Angsterfüllten, die Mutation vom Hochstapler zum Medienopfer brennende Gültigkeit haben.
Die Vorgänge sind die ähnlichen, die Beteiligten können nach Belieben ausgetauscht werden.
Ich glaube auch, Herr Kritiker Wilink hat diesen, meiner Meinung nach gelungenen Versuch, einen defacto wegen der politischen Versenkung der UdSSR kaum mehr gespielten "Nekrassow" dadurch zu neuem Leben zu erwecken, dass der allgemeingültige gesellschaftspolitische Moment in den Vordergrund gestellt wird. Die heutige Angstgesellschaft und deren Verursacherinstrumentarien werden hier mit einer Mischung von Horror und Groteske nahegebracht.
Nochmals: Wer sich eine Inszenierung des Nekrassow als "Retourkutsche" für 1-2-3 vorgestellt hat, hat natürlich etwas ganz anderes vorgesetzt bekommen, dürfte aber auch Experimenten und Neuumsetzungen extrem konservativ gegenüberstehen.