Urknall der Verzweiflung

von Marcus Hladek

Frankfurt am Main, 10. Januar 2010. Ist Simon Stephens, den deutsche Kritiker 2008 zum "Dramatiker des Jahres" kürten, fromm geworden? Der Gedanke lässt sich nicht leicht von der Hand weisen. Für einen Autor, der mit 14 Jahren Atheist geworden sein will, sich einen Antitheisten nennt und alle Religionen für gefährlich erklärt, ist in dem Monologstück "Steilwand" von 2008, dem seither zwei weitere Dramen gefolgt sind (eines trägt den Titel "Heaven"), oft und viel von Gott die Rede.

Alex, der immer wieder auf Gott zurückkommt, hat freilich kurz zuvor sein einziges Kind verloren, die achtjährige Lucy, ein Unglücksfall, dem er sich – nach einem Einstieg über den gottgläubigen Schwiegervater und Ex-Soldaten Arthur und dessen Gottesbeweis aus der Zahl Pi – chronologisch, in therapeutischer Redekur, immer klarer annähert, bis er das fatale Ereignis schonungslos detailliert offenbaren kann. Was für Alex gilt, dass nämlich der Tod aus Lauen Gläubige machen und fromme Atheisten zum Abfall von ihrer Orthodoxie bringen kann, muss noch lang nicht auf den Autor zutreffen. Wohl aber fasziniert es ihn sichtlich, welche unterseeische Steilwand ("sea wall") unter der Alltags-Oberfläche seiner Figur greifbar wird.

Gottesbeweis und Familientüfftüff

Olga Ventosa Quintana aus Barcelona, die unter der neuen Frankfurter Intendanz Oliver Reeses schon für zwei Literaturbearbeitungen (nach Heinrich Heine und Thomas Mann) die Bühne besorgte, hat sich in "Steilwand" für einen breiten, geometrisch exakt begrenzten Streifen Kiesstrand entschieden, der zwei Gruppen von Zuschauern voneinander trennt wie Gottvater die Wasser des Roten Meeres. Isaak Dentler, dieser schnell aufstrebende Jungdarsteller, der in kurzer Frist eine ganze Reihe erster Antagonisten und Hauptnebenrollen spielen durfte, fängt darauf in sommerlicher Urlaubskluft aus Sandalen, umgekrempelter Jeans und blau-schwarz gestreiftem Langarm-T-Shirt (Kostüme: Katharina Tasch) ganz harmlos und gutgelaunt zu spielen an.

Es hat etwas kindlich Verspieltes, wie Dentler neben der Eingangstür mit Kreide die theologische Argumentation von Opa Arthur aus mathematischem Geist, aber auch das Familientüfftüff mit Frau Helen und dem Töchterchen oder seine komische Karte Südfrankreichs und, über allem, in dicker, großer Schrift den Namen LUCY aufmalt. So enthusiasmiert wie viele Väter, erzählt Alex von der Geburt seiner Tochter durch Kaiserschnitt, die ihn für Helens Leben beten ließ ("Das ist, wie wenn man in ein Foto redet... um Gott geht es da nicht"). Vom "gelben Etwas in ihrem Bauch", das gesehen zu haben eine Beziehung auf eine ganz neue Ebene stelle. Von Arthur und seinen Tauchgängen, seiner Großzügigkeit im jährlichen Ritual der Sommerferien, den theologischen Diskussionen über Gottes Geschlecht und Ort "im Raum zwischen zwei Zahlen" oder, vielleicht, in fünfzehn Milliarden Lichtjahren Distanz von uns. Vom Glück der Eltern an ihrem Kind, das als "Helens Verbündete" spielerisch Familie strukturiert.

Ein Hiob im Kapuzenshirt

Seine Spielerei mit dem Mikrofongalgen und der etwas pannenanfälligen Technik des MP3-Players am Lautsprecher abgerechnet, transportiert Dentler die ganz plastische, realitäts- und widerspruchsgesättigte Gestalt seines bekennenden Heulers auf sympathische, nie überinstrumentierte Weise, bis es mit dem harmlosen Satz "Sie ist acht" auf den Urknall seiner Verzweiflung zugeht. Ohne eingreifen zu können, ohne das Gesehene im Brandungsgeräusch auch nur zu hören, sieht und beschreibt Alex in völliger Klarheit Lucys Stolpern und ihren zwei Meter tiefen Fall auf die Felsen, der das Geplauder über Gott auf einmal in einen Abgrund reißt und aus Alex/Dentler einen modernen Hiob in Kälte und Abwendung signalisierender Kapuzenjacke macht.

Ging die Londoner Uraufführung des Stückes in dreißig Minuten über die Bühne, so nehmen die Regisseurin Lily Sykes, Absolventin der Universität Oxford, und ihr Darsteller sich eine knappe Stunde Zeit, zu diesem Punkt und darüber hinaus zu gelangen: zu Alex' scheinbar eiskalter Rede vom "Stück Fleisch" in seinen Armen, seiner schmerzhaft distanzierten Beschreibung der Abflughalle und des Listenvermerks mit den "menschlichen Überresten" am Ende der Gepäckstücke. Endlich zur sprachlosen Ellipse im Sprechtext, wenn Alex Arthur anspricht und ihm mit ungesagten Worten "das Grausamste, was ich je jemandem angetan habe" zufügt: ein Zerbrechen der Sprache, das an König Lear, an Woyzeck erinnert und in der kurzen, extensiven Pause einzig vom Zuschauer ausgefüllt werden kann.

Private Apokalypse

"Wenn das passieren kann, kann alles passieren", sagt Alex noch, eine nüchterne Feststellung, der Dentler ein schnödes "ne?" hinzufügt, bevor er sich die Kapuze überstreift, die Tür öffnet und zum Theaterausgang schreitet, von wo noch ätzend banale Beobachtungen aus dem Leben danach herüberwehen. Als hätte der Autor die "gottlose Mystik" der Jahrhundertwende um 1900 im Sinn, treibt er Alex noch mit den letzten Sätzen – "Dass wir nicht wissen, heißt nicht, dass wir nicht wissen werden. Doch, glaube ich" – in eine Richtung, die man hierzulande mit dem "Ignorabimus" der Nietzsche, Rilke, Hofmannsthal verbindet: der zerbrochene Mensch in seiner privaten Apokalypse. Die unaufdringliche Inszenierung eines schwierigen, glückhaft bewältigten Stückes.

 

Steilwand
von Simon Stephens
Aus dem Englischen von Barbara Christ
Regie: Lily Sykes, Bühne: Olga Ventosa Quintana, Kostüme: Katharina Tasch.
Mit: Isaak Dentler.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Mehr lesen über Simon Stephens im nachtkritik-Archiv: Etwa über Sebastian Nüblings Inszenierung von Stephens' Pornographie, das im Juni 2007 beim Festival Theaterformen in Hannover herauskam und 2008 zum Theatertreffen eingeladen wurde. Überdies wurde das Stück in der Theater heute-Umfrage 2008 zum ausländischen Stück des Jahres gewählt.

 

Kritikenrundschau

"Vor der Aufführung findet man es verwunderlich", schreibt Sylvia Staude (Frankfurter Rundschau, 12.1.), "dass das Frankfurter Schauspiel die deutsche Erstaufführung eines Stückes von Simon Stephens (...) in die winzige, bühnenbildlose "Box" packt." Immerhin gelte Stephens in seiner Heimat Großbritannien als einer der wichtigsten zeitgenössischen Theaterautoren. "Nach der Aufführung findet man, dass der Schauspieler Isaak Dentler nicht nur so oder so ein perfekter Alex ist, sondern ein Stück weit auch deswegen ein perfekter Alex sein kann, weil er nur ein Stück Kreide und einen schmalen Kieselstreifen (...) hat, um uns seine Geschichte zu erzählen." Simon Stephens sei "sparsam mit Gefühlen und Worten. Ein paar Details reichen, auf dass der Zuschauer das Furchtbare eines Kindstodes vor Augen hat". Dentler und die Regisseurin Lily Sykes verstärkten "das Stephens´sche Understatement eher noch". Passenderweise offenbar, denn Simon Stephens "erzählt zwar einerseits von der Tragik ganz normaler Menschenleben, aber er scheut sich nicht, zuletzt noch eine Tür zu größeren Themen aufzustoßen".


Eine jsc genannten kritische Stimme der Frankfurter Neuen Presse (12.1.) "spürt", dass man es in dieser Inszenierung mit einem Mann zu tun hat, der "mit seinem Leben nicht zufrieden ist" und "nach einem Sinn hinter den Dingen sucht". Es müsse sich was ändern im Leben, nur was, bleibe ungewiss: "Alex öffnet die Tür der "Box", tritt ins Foyer hinaus und spricht weiter, egal, ob jemand zuhört oder nicht." Das ergebe "Experimentiertheater auf mittlerem Niveau. Dass mit Lily Sykes eine Regisseurin genannt wird, nimmt man zur Kenntnis, ihre Handschrift ist kaum erkennbar."

 

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