Das Fleisch im Bett, die Ideen im Himmel

von Irene Grüter

Berlin, 30. August 2007. "Spartakus" oder "Von der Barrikade ins Ehebett", "Das sterbende Gespenst" oder "Anna, die Soldatenbraut". – Das sind nur einige der vielen Titel, die Bertolt Brecht für sein zweites Bühnenstück in Erwägung gezogen hatte; als "Trommeln in der Nacht" wurde es 1922 in München uraufgeführt. Gleich mehrere große Zeitthemen verarbeitete der 21jährige in dieser herben Komödie – chaotische Zustände nach dem Ersten Weltkrieg, den Spartakus-Aufstand, Liebe in Zeiten der Revolution.

Volkstheater

Die Bühne, die Etienne Pluss für Philip Tiedemanns Inszenierung im Berliner Ensemble gebaut hat, deutet Volkstheater an, ein weiß gedeckter Tisch steht in der Mitte und eine Live-Kapelle begleitet jeden Auftritt mit Tusch und Trommelwirbel. Claudia Burckhardt segelt mit Dutt und Schürze als Mutter Balicke herein, ringt holzschnittartig die Hände und beklagt das Schicksal ihrer Tochter. Vier Jahre hat Anna auf ihren Verlobten gewartet, nun ist es genug und Pragmatik angesagt. Sie soll, so wollen es die Eltern, einen neureichen Kriegsgewinnler heiraten, doch Charlotte Müller verkneift als Anna stur die Lippen, äugt pantomimisch zum Vater (Manfred Karge), bis der proletet: "Jetzt heul nur los, ich leg gleich den Schwimmgürtel um."

Zwischen Commedia und Stummfilm

Diese ausgestellte Komik lädt halb zum Weglachen ein, halb wirkt sie verfremdend, betont einstudiert und abgespult. Und tatsächlich setzt sich am rechten Bühnenrand eine rostige Kurbel in Bewegung, leise plinkert die Nationalhymne und im Hintergrund bläht sich ein käsiger Mond auf. Philip Tiedemann inszeniert Brechts Erstling wie eine überdrehte Spieluhr; die Figuren schnurren wie aufgezogen und alles bleibt mechanisch lustig, ohne dass die überdrehte Komik ins Bösartige umschlägt. Da wird zwar gekonnter Bühnenzauber betrieben, kunstvolles Schattenspiel geleuchtet und eine dekorative Ästhetik zitiert, die mal an frühe Stummfilme, mal an Commedia dell’ Arte erinnert: Kellner mit schmalem Schnäuzer, ein Redakteur mit Stumpen und hochgeschlagenem Kragen, die Nutte im feuerroten Mantel, alle mit slapstickartigen Bewegungen. Und doch lässt die Betriebsamkeit kalt.

Die Verlobung geht über die Bühne, und als es ans Feiern geht, weht auf einmal Kragler, der Verschollene herein, mit Nebelschwaden und einer Handvoll Herbstlaub, verbrannt und in Lumpen gehüllt, und kann nur noch heiser röcheln. Doch da ist kein Platz am bürgerlichen Esstisch für diese Misere von Mensch, denn "Realpolitik, daran fehlt es in Deutschland", sagt Vater Balicke und erklärt dem Totgeglaubten, der Anspruch auf seine frühere Verlobte erhebt: "Ganz einfach. Haben Sie die Mittel, eine Frau zu unterhalten? Tja."

Mein Fleisch im Rinnstein?

Nach dem Rausschmiss irrt er durch die Stadt, schließt sich den Aufständischen an, gerät in eine malerisch choreographierte, historisierende Kneipenszene – da werden Schnapsgläser auf dem Kopf balanciert, es wird zu trunkenen Songs geschunkelt, und Zeitungen segeln im richtigen Moment aus dem Bühnenhimmel. Nur Thomas Niehaus als Kragler versucht hin und wieder, die Lustigkeit zu durchbrechen, kippt in surreale Schräglage. Als er die verlorene Braut wiederfindet, lässt er allerdings die Aufständischen gerne weiterziehen: "Mein Fleisch soll im Rinnstein verwesen, dass Eure Ideen in den Himmel kommen? Seid ihr besoffen?", ruft der eben noch Stimm- und Heimatlose, legt sich mit Anna ins Ehebett und macht es sich im warmen Lichtkegel gemütlich. Das Volk trommelt weiter. Wenn das Private stimmt, können sich andere um das Politische kümmern; Revolution bleibt denjenigen, die nichts mehr zu verlieren haben.

Warum Tiedemann dieses Thema mit forcierter Komik und historisierenden Zitaten angeht, bleibt so unverständlich wie die Frage, was ihn an Brechts selten gespieltem Zweitling eigentlich interessiert hat. Dabei bietet doch gerade die Frage, wie das kleine Glück mit politischer Verantwortung zusammengeht, Stoff für viel mehr als bloß routinierte, ohne jedes Herzblut gearbeitete Volkstheater-Unterhaltsamkeit.

 

Trommeln in der Nacht
von Bertolt Brecht
Regie: Philip Tiedemann, Bühne: Etienne Pluss, Kostüme: Stephan von Wedel, Musik: Jörg Gollasch.
Mit: Charlotte Müller (Anna), Thomas Niehaus (Andreas Kragler), Claudia Burckhardt (Mutter Balicke), Manfred Karge (Vater Balicke). Musiker: Matthias Trippner und Lukas Fröhlich.


www.berliner-ensemble.de

Kritikenrundschau

Ein wenig ratlos, wie er das denn finden solle, was er da zuvor gesehen hatte, berichtet Hartmut Krug im Deutschlandradio (30.8.2007) von Tiedemanns Inszenierung. Einerseits ästhetisierte, sehr schön in Bilder aufgelöste Szenen, andererseits kann auch Krug nicht angeben, was den Regisseur denn nun eigentlich am Inhalt des Stückes interessiert haben könnte. Ist es ein Drama? Ist es eine Komödie? Sicher ist nur, dass vom Liedtext beim Marsch in die Revolution nurmehr die Vokale gesungen werden.

Peter Laudenbach, Berliner Theater-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, macht sich lustig (1.9.2007). Er sieht Brechts "Revolutions-Pulp-Fiction-Comic", gespielt von "bunt ausstaffierten Knallchargen" in einem "Bühnen-Niemandsland, in dem sich Groteske und Bürgerunterhaltung gute Nacht wünschen". Der Plot: ziemlich "egal". Die Ästhetik: "expressionistischer Stummfilm", "durchaus BE-typisch", kurzum: eine Inszenierung, in der "die Verkarnevalisierung und kunstgewerbliche Einmottung des alten Brecht-Bügerschreck-Boheis eine Endstufe erreicht habe dürfte".

In der FAZ (1.9.2007) dagegen ist es für Gerhard Stadelmaier ein "mephistophelisches Vergnügen, im Hause Brechts den verfemten Herrn Kragler so unkorrekt rehabilitiert zu sehen". Denn: linke Theatermacher hatten "Trommeln in der Nacht" von den Spielplänen verbannt, weil sie eine Figur wie Kragler als Verräter der Revolution verachteten. Dabei hätten sie selbst "all das" doch "alle auch längst verraten". Noch mehr aber erfreut ihn Tiedemanns Inszenierung, die "Brecht näher zu den Absurden als den Abstrusen" rückt, die den "expressionistischen Kitsch einer Revolutionskomödie ohne Revolution mit der freiluftigen Musikbatteriemunition des angewandten Dadaismus durchschießt" und statt des Gesellschaftpanoramas einen "urkomischen Albtraum" aufführt.

Jan Oberländer bemängelt im Tagesspiegel (1.9.2007) die Inszenierung als "unentschieden". Sie beginne spaßig im bourgeoisen Milieu, mache dann mit dem Erscheinen Kraglers ernst, und würde am liebsten "sehr, sehr ernst" werden, wo es um die Frage Politik oder privates Wohlergehen sich drehte, das traue sich Tiedemann dann aber nicht. "Vielleicht auch, weil sich die Situation des Brecht’schen Lumpenproletariats nicht mehr ohne Weiteres ins Heute ziehen lässt, obwohl der Abend mit einem vom versammelten Proletariat hinterm Gazevorhang hervorgezischten 'Jetzt!' zu Ende geht."

Gunnar Decker schreibt in seinem emphatischen Text im Neuen Deutschland (1.9.2007): Die "ganze Inszenierung ist eine Austreibung der Romantik, jene versteckte des jungen Brecht inbegriffen". Und: "Tiedemann verdirbt mir meine Vorstellung von 'Trommeln in der Nacht', das ist gemein. Aber dann wird es Schritt für Schritt besser, es wird grandios – eben weil es alle scheinbaren akademischen Restsicherheiten auf den Müll wirft und den Blick frei macht für das, was wirklich passiert. Die Inszenierung erlebe "zwei Revolutionen. Den Auftritt Kraglers als "Sinnbild einer verlorenen Generation" und wenn die Schauspieler im "Schnapstanz" im vierten Akt noch die kleinste Rolle zur Hauptrolle machten. Decker endet seine Kritik mit einem Wort: "Groß!"

Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (1.9.2007) findet, dass die Haltung der Inszenierung von Brecht aus gesehen "hinter dem Mond" ist. Tiedemann rühre "einen Szenen-Cocktail zusammen, der an Unbedarftheit kaum zu überbieten" sei. Aus "Verfremdung ist hier Vergackeierung geworden, aus dem politischen Impetus peinliches Getue. Der Zuschauer wird von der bangen Frage heimgesucht, was Tiedemann eigentlich mit Brecht zu schaffen hat, wenn er nichts mit dessen radikalen Einspruch wider die Verhältnisse zu tun haben will".

 

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