Abwehrzauber auf ollem Sofa

von Simone Kaempf

Berlin, 19. Februar 2010. Kaum ein Dramatiker, der seine Stücke so kontinuierlich mit ausholenden Erklärungen, Bedeutungen, Weltdeutungen begleitet wie Edward Bond. Als ihm Leander Haußmann vor zehn Jahren mit seiner Erstaufführung von "Das Verbrechen des einundzwanzigsten Jahrhunderts" in Bochum noch einmal einen großen Auftritt beschert hatte, saß Bond in Haußmanns Büro, arbeitete Interviews ab, nicht müde, immer wieder zu erklären, worum es gehe: Gewalt auf der Bühne nicht zu protokollieren, sondern ihre Bedeutung aufzuzeigen. Gewalt nicht zu benutzen, sondern gewalttätige Vorgänge auszustellen.

Also nicht auf therapeutische Schockeffekte von Gewaltausbrüchen zu setzen, sondern sie durchschaubar zu machen. In der Vorbemerkung zu seinem mittlerweile vierzig Jahre alten Stück "Gerettet" ist es ein "fast unverantwortlicher Optimismus", mit dem  Bond sein Stück erklärt: Die Hauptfigur Len laufe vor den Ereignissen nicht davon, wende sich nicht ab von Menschen, die sich in denkbar schlechter Lage befänden. In aller Munde geriet dann trotzdem jene Szene, in der fünf Jugendliche einen Säugling in seinem Kinderwagen steinigen.

Eine Geburtsstunde der Milieu-Dramatik

Angesichts dieser gewichtigen Vorgeschichte, der Geburtsstunde einer Dramatik, die nah ans Sozial-Milieu und seinen Jargon rückte und Vorbildfunktion für spätere Generationen ausübte, überrascht Benedict Andrews' Inszenierung an der Schaubühne Berlin erstmal mit einer Luftigkeit, ja nachgeraden Verspieltheit, die auf Null zurückspult und auf einer leeren Bühne beginnt. Auf der führt Stefan Stern als Len einige pantomimische Gesten vor, die Stückszenen vorweg nehmen: Baby schaukeln oder mit der Hüfte gen Boden rattern.

Auf einem Sofa, das Pam (Marie Rosa Tietjen) hereinrollt, beginnen beide eine erotische Sofaturnerei, die im Gestus lockeren Improvisationstheaters in eine Bootsfahrt übergeht. Das Boot wird auf Rollen über die Bühne gezogen von Fred (Sebastian Schwarz), einem ziemlich düsteren Typen, schwarze Lederjacke, gegelte Haare. Dunkle Vorahnung mischt sich unter die Leichtigkeit und ergibt durchaus ein kleines Minidrama.

Die ewige Weitergabe der Gewalt

Dann aber geht es weiter, und die Regie arbeitet sich ins Milieu vor, mit ollem Sofa, Fernseher und Frittenteller, den Mutter Mary serviert, wenn sie gekocht hat. Dieses Echo aufs Soziale macht es einfacher, den Ausbruch der Gewalt einzubetten, wenn die fünf Typen im Park beginnen, das Kind zu malträtieren. Die berühmte Szene funktioniert bei Andrews exzellent. Die vier Freunde von Kindsvater Fred spielen erst mit dem Kinderwagen, kicken mit seinem Teddy, zwicken den schlafenden Säugling. "Hau mal drauf", "Immer sachte", "Sieht doch keiner!" Die zunehmende Gewalt entwickelt sich ganz aus der Sprache, aus dem gegenseitigen Anstacheln, bis das Spiel in verbissenen Ernst kippt.

Die Familienszenen davor und danach bilden das erklärende Pendant, Hinweis auf die ewige Weitergabe von Sprech-, Verhaltens- und Denkweisen samt allen menschlichen Makeln. Pam ähnelt auf der Bühne nicht nur optisch ihrer Mutter. Im Laufe des Stücks, wenn sie laut mit Len streitet, ist unschwer der Duktus von Mutter Mary herauszuhören - Fluch der Abstammung.

Und die verbalen Streitigkeiten zwischen Pam und Len oder Mutter und Vater ähneln in ihrer Mechanik im Grunde dem Gewaltausbruch im Park. Es ist dann halt nur eine Teekanne, die Steffi Kühnert als Mutter Mary von einer Sekunde auf die andere an der Stirn vom Thomas Bading zerschmettert.

Mit robustem Comic-Gestus

Ganz im Sinne Edward Bonds wird hier in wenigen Szenen die Dynamik von Gewalt skizziert. Und doch ist die Inszenierung ein Kompromiss. Das Soziale soll als Basis dienen, aber nur ein wenig. Ein Tick Marzahn ist angedeutet, jedenfalls ein Ort, wo man Glitzerjacken zum Minirock trägt, und die Ausstattung von Magda Willi frisch eingekauften Modernismus ausstrahlt. Jede psychologische Entwicklung wird verwehrt und das heiter-komödiantische in den Familienszenen bis zur Satire betont. Die Inszenierung scheut keineswegs das große Gelächter. Und doch wird man den Verdacht nicht los, dass viel Abwehrzauber produziert wird, um nur ja kein Sozialstück zu zeigen.

Der Slapstick hängt sich an wenige Objekte und ihre Tücken: das Sofa, den Fernseher, die Fernbedienung, die während der Premiere ausfiel, zur Erheiterung von Schauspielern und Zuschauern. An den robusten Comic-Gestus von Steffi Kühnert als Mutter Mary muss man sich erstmal gewöhnen, genauso daran, dass Stefan Stern seine Klassenclownerien bis zum Ende strapaziert. Im Komischen ermüdet der Abend. Die wenigen Szenen, in denen sich düstere Kräfte Bann brechen, setzen sich umso geglückter davon ab.

 

Gerettet
von Edward Bond
Aus dem Englischen von Klaus Reichert
Regie: Benedict Andrews, Bühne und Kostüme: Magda Willi, Musik und Video: Malte Beckenbach, Dramaturgie: Maja Zade.
Mit: Marie Rosa Tietjen, Steffi Kühnert, Lena Vogt, Stefan Stern, Sebastian Schwarz, Thomas Bading, David Ruland, Franz Hartwig, Nico Selbach, Matthias Lamp.

www.schaubuehne.de

 

Mehr zu Benedict Andrews' Arbeit an der Berliner Schaubühne? Von nachtkritik.de besprochen wurden seine Inszenierungen von Endstation Sehnsucht (mit einer herausragenden Jule Böwe), Der Hund, die Nacht und das Messer von Marius von Mayenburg, Betrunken genug zu sagen ich liebe dich? von Caryl Churchill sowie Stoning Mary von Debbie Tucker Green.

Kritikenrundschau

Den Grund, warum Edward Bonds Stück derzeit wieder vermehrt gespielt wird, sieht Harald Staun in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (21.2.2010) in seiner Aktualität des Stückes. Doch so gruselig es auch ausfallen könne,  moderne Klassiker "in Jargon und Kostüm der Zeitgenossenschaft" zu stecken, so hilflos findet der Kritiker, "sich vor den ganz offensichtlichen Gegenwartsbezügen von "Gerettet" so zu drücken, wie es der australische Regisseur Benedict Andrews in der Berliner Schaubühne getan hätte." Das fängt für Staun schon mit den Dialogen an, "die die Schauspieler im rastlosen Schlagabtausch herausrotzen, damit ja nicht der Verdacht aufkommt, sie könnten noch etwas bedeuten." Und es endet für ihn "bei den im wahrsten Sinne aufgesetzten Hip-Hop-Kappen, die Freds Freunde tragen: Sie sehen damit so lächerlich aus, wie Bildungsbürger in Getto-Klamotten, und das sollen sie vermutlich auch." Andrews nehme die Aktualität des Stoffs zwar zur Kenntnis, "aber sie interessiert ihn nicht. Als ob er mit jedem Versuch, sich der Authentizität zu nähern, nur verlieren kann, setzt er alles in Anführungszeichen. Und weil er sich nicht traut, das Stück in der Gegenwart anzukommen zu lassen, bleibt es in einer schlecht zusammengesampelten Welt stecken, die höchstens noch ästhetisch brutal ist."


Benedict Andrews bleibe die Antwort schuldig, was ihn an dem Text interessiert, findet auch Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (22.2.2010). "Die Milieustudie war es sicher nicht, zu offenkundig vermeidet er das Idiom der Unterklasse, für eine rein psychologische Annäherung dagegen ist gerade die Schlüsselszene des Kindsmords mit Licht und Ton zu distanzierend durchchoreographiert." Dabei habe der Abend durchaus seine Momente. Als Pam anfangs mit Len zu einer romantischen Ruderpartie aufbriche, "da wird das Unheil in Gestalt des Bootsverleihers Fred von Andrews gut vorbereitet, indem er ausgerechnet Fred die Strippe in die Hand drückt, an der er das Paar über (...) die Bühne zieht. "Der Rest verliert sich in Unschärfe."


Bonds "Milieustück aus den vernagelten Ich-Universen postmoderner Konsumgesellschaften zeigt unter Andrews' subtiler Regie plötzlich auch seinen komödiantischen Kern", so Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (22.2.2010). "Vor dem gigantischen Hintergrundbild einer William Turnerschen Landschaftsstimmung aus Sturm und Idylle, Heiterkeit und undurchdringlichem Nebel" behalte die tragikomische Doppelbödigkeit stets Oberhand. "Eine Gratwanderung, die auch durch jene Textstreichungen gelingt, die alle direkten Kriegsbezüge entfernen und die bröckelnde Industriegesellschaft der 60er in die prekäre Niedriglohn-Servicehölle von heute verlegen." Wie Thomas Bading als Familienvater Harry in bester Buster-Keaton-Manier über jeden Strohhalm stolpere, sobald er sich nur vom Fernsehsofa aufrafft, "lässt bloßen Realismus weit hinter sich". Das sei fein gemacht, allerdings wendet die Kritikerin auch ein: "je näher das Stück an die halbironische, selbstreflexive Stimmung heutigen Gegenwartstheaters heran kommt, um so läppischer wird es.

Die "witzige Pantomime", in der Len schnell noch Umarmen, Küssen, Beischlaf übt, gebe die Atmosphäre der Inszenierung vor, die zwar "Milieu und Prekariat betont, dabei aber gekonnt die komischen Zwischentöne und den schwarzen Humor des Textes unterstreicht", so Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (23.2.2010). "Dezent aktualisiert, wenn etwa im Fernsehen über den Klimawandel gesprochen wird", zeige sich einerseits, wie verständig Andrews das Stück "aus heutiger Perspektive zu interpretieren vermag", und andererseits, "wie gültig es nach wie vor ist". Die "sozial benachteiligten Unterschichtsfiguren" seien "so gegenwärtig wie allgemein typgerecht gezeichnet". Stefan Stern gebe Len den "einzigen emotionalen Feinmotoriker" unter lauter "traurigen Rohlingen, erträgt alles, alle und sich in seiner anstrengenden Menschlichkeit dazu". Steffi Kühnert und Thomas Bading glänzten als Elternpaar "mit hinreißenden Slapstick-Einlagen". Hier werde Bonds "Gerettet" "putzmunter vom Blatt gespielt, Benedict Andrews drängelt sich nicht vor den Autor. Gerade dadurch wird seine Inszenierung unangestrengt maßgeblich."

 

Kommentare  
Gerettet und das Theater in Allgemeinen: Kontext, Kontext
@ Rosa Stegemann: Anders rum, im Theater gehts immer um den Kontext. Natürlich gibt es, global gesehen, extreme Unterschiede in den Lebensbedingungen der Menschen. Aber deswegen gleich das Theater in Deutschland abschaffen zu wollen, das kann doch auch keine Lösung sein, oder?
Ich empfinde es als schwierig, den Kontext der Dritten Welt thematisieren zu wollen, wenn man gar nicht dort lebt. Ist den dort lebenden Menschen denn tatsächlich mehr geholfen, indem man hier ÜBER sie Theater macht? Da ist die Spendensammlung für die Erdbebenopfer Haitis durch die Schauspieler der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" nach Ende der Vorstellung am dt vielleicht eben doch hilfreicher als die von Stemann dekonstruierte "Bühnenshow".
Nochmal anders verhält sich das im Bereich des zeitgenössischen Tanzes (zum Beispiel von Constanza Macras). Diese Truppen sind von der kulturellen Herkunft der Tänzer her meist so vielfältig zusammengesetzt, dass sich daraus gleichsam automatisch eine autorisierte "Sprecherposition" ergibt.
Bei Edward Bond schließlich gehts um den europäischen Raum, wo der Klassenbegriff mittlerweile durch den Milieubegriff ersetzt bzw. im Kontext der Herausbildung der sogenannten "Dienstleistungsgesellschaft" völlig aufgelöst wurde. Ich würde sagen, dass Agamben mit seinem Begriff des "planetarischen Kleinbürgers" möglicherweise genau darauf abzielt. Diesen globalen Dienstleister gibts zum Beispiel auch in den Callcentern von Kalkutta (Rimini Protokoll).
Warum diesen Handwerks-Begriff so abwerten? Kunst ist eben nicht nur reine Psychologie (Einfühlung), sondern vor allem auch Gestaltung und Formung. Man kann dieses Milieu natürlich auch einfach als "Dreck" abtun. Ist klar.
Und einfach "dem System" die Schuld zu geben, das ist gegenüber dem dialektischen Verfahren Brechts zu vereinfacht gedacht. Wenn sich das individuelle Denken nicht ändert, wird sich auch an den materiellen Verhältnissen nichts ändern. Und umgekehrt.
Theater überhaupt und Gerettet: Theater mit Überschuss
so ist eben das leben, immer wirkt alles hin und her, die gesellschaft macht das individuum und das individuum die gesellschaft. was ist aber dann genau das theater? in gerettet hat mir len ganz gut gefallen, ein verrückter typ, der bis an die schmerzgrenze und noch darüber hinaus an seinem wunsch etwas richtig und bis zu ende zu machen festhält und wie immun wirkt für kränkungen, was ich ihm nicht ganz glauben will, weil ich mir vorstelle, so jemand hält es vielleicht nur aus, weil er nicht anders kann, weil das einmal gegebene versprechen für ihn nicht mehr zu lösen ist. im konflikt mit den verschiedenen geboten ( du sollst versprechen halten, du sollst nicht jede kränkung aushalten) bleibt ihm so kaum eine wahl. ich fand halt alles ein wenig zu distanziert und humoristisch behandelt, weil dadurch kein überschuss entstehen konnte. ich verstehe das zwar irgendwie, das kommt wohl von dieser sozialdemokratischen grundhaltung des theaters her, das gerne für die benachteiligten eintritt, aber immer ein bisschen auch ein schlechtes gewissen hat, weil sie von diesen menschen genau genommen keine ahnung haben und auch nicht wirklich was mit ihnen zu tun haben möchten. man tritt gerne für sie ein, weil man gelernt hat, das das gut ist, aber mehr auch nicht. deshalb ist so ein theater von volker lösch für viele zuschauer interessanter, weil dieser konflikt direkt auf der bühne anzugucken ist. zwar finde ich das stück von bond eigentlich tiefer als die fassung von alexanderplatz, die an den roman natürlich nicht ran kommt, aber darum geht es im theater halt auch nicht immer, an irgendwelche vorlagen heran zu kommen, wenn eben der auftritt etwas bietet, was keine vorlage von sich aus kann - also das ist das, was ich mit dem überschuss meine. vielleicht erwähne ich noch, das mir pam besonders gefallen hat, obwohl sie von der inszenierung her nicht genügend in den mittelpunkt gestellt worden ist, denn eigentlich ist ja diese geschichte die, die mich am meisten an dem stück bestürzt, dass die scheinbare kraft ihrer erotik sich wie eine schlinge um sie zieht. weil die sexualität eben ein völlig von gewalt durchdrungenes soziales gemurkse ist, zwar stimmt es schon, das es da wohl auch so ein moment von frühling geben kann, aber eigentlich ist das nicht richtig beobachtet oder gelesen - deshalb kapiert man als zuschauer auch nicht, wieso da so ein gewaltausbruch stattfindet, der wirkt wie von aussen angeklebt, weil eben die grundsätzliche zerstörtheit dieser beziehungen, eben wegen des schlechten gewissens der regie so harmlos und kindertheatermäßig abläuft. aber wie pam versucht sich in die pose des stolzes zu hieven hat mir gut gefallen, also ich glaube jedenfalls, das die schauspielerin weiß wovon da gehandelt wird, während die männer sich nicht zeigen dürfen. was ich meine ist, dass der stolz und die kraft, die da über die witzigkeit eben nur halb zur geltung kommen kann, erst mit einer viel radikaleren verve entstehen kann, die akzeptiert, das die gewalttätigkeit tiefer eingeschrieben und verfestigt ist, als sich in sketchen mittler heiterkeit so darstellen lässt. sone probleme hat die volksbühne viel weniger, da da eben viel mehr riskiert wird, weil die selbsbewusster sind, von sachen ihnen, oder diesen entsprechend zu handeln. die schaubühne ist total ängstlich und will immer anständige abende machen, aber trotzdem immer von unanständigen sachen handeln, das wirkt hat dann doch ziemlich verklemmt und spießig. für theater ist das im prinzip nicht nur schlecht, weil ja die meisten zuschauer ähnlich drauf sind, die wollen auch was toll schlimmes sehen, aber gut beleuchtet mit musik und witzen. ich finde das auch überhaupt nicht schlimm. eigentlich ist das sogar sehr gut, für diese zuschauer und auch für die , die so theater machen wollen, aber ich will brecht mit überschuss.
Befindlichkeit: mit Heideggerschem Besteck souppieren
@ hm, Stefan und Mini-Behrens:
Besten Dank, meine Herrschaften. Zumindest ist ein Diskurs entbrannt. Ich werde heute mal mit dem Heidegger´schem Besteck zu dem Begriff Befindlichkeitstheater hantieren. Hoffe, ich komme dem Begriff näher. Wenn´s nicht zu vermessen erscheint.
Befindlichkeit in Gerettet
@ 123:
Susi, Sie benutzen recht gewöhnliche Worte, sagen aber manchmal ungewöhnliche Dinge, d.h. Sie treffen den Kern, ohne die umständliche wissenschaftliche Seminar-Sprache zu benutzen (in der ich auch mal schreiben musste und die ich auch kann).
Sie haben ja fast schon ein Grundproblem der Schaubühne in ihrer aktuellen Verfassung angesprochen:
"sone probleme hat die volksbühne viel weniger, da da eben viel mehr riskiert wird, weil die selbsbewusster sind [...] die schaubühne ist total ängstlich und will immer anständige abende machen, aber trotzdem immer von unanständigen sachen handeln, das wirkt hat dann doch ziemlich verklemmt und spießig."
Ich denke auch, dass in "Gerettet" - dem vorläufigen Tiefpunkt der Schaubühne - die Gewalt teilweise wie von außen aufgeklebt wirkt, so dass ihr durch die Art, wie mit ihr umgegangen wird, durch den spielerischen Charakter wieder viel an Wirkung verlorengeht. Die großen Abende der Schaubühne sind leider vorbei, wären wir jetzt in der 70er oder 80er-Jahren, würde ich sagen: das Theater ist im Umbruch, befindet sich in einer Identitätskrise. Wie das Befinden dort ist, weiß ich nicht. Vielleicht kommt bald die eigene Befindlichkeit auf die Bühne.
Susi, da bleiben Sie doch besser bei Ihrem Brecht, z. B. "Heilige Johanna der Schlachthöfe" am Dt ist eine hervorragende Inszenierung. Der Chor war fast so gut wie der bei "Maßnahme/Mauser" in der Volksbühne.
Gerettet: Durchschaubarkeit wie BB wollte
@ susi: Nein. Hier soll kein schlechtes Gewissen produziert bzw. triefendes Mitleid für die "Erniedrigten und Beleidigten" erzeugt werden. Sondern hier wird ganz klar demonstriert, dass das "alles nur Spiel" ist, dass die Schauspieler nicht diesem Milieu zugehörig sind und dass sie diese Erfahrungen demnach auch nicht auf dem Theater authentifizieren können. Aber sie können diese Lebenswelt vorführen und damit in ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit (zum Beispiel, dass "die Unterschicht" immer nur gewalttätig sei) verfremden. Im Grunde ist das das brechtische Verfahren, wonach die Wirklichkeit im Theater nicht nur wiedererkannt, sondern auch durchschaut werden soll. Um das zu ermöglichen, muss sich das Bühnengeschehen als etwas künstlich Gemachtes zu erkennen geben bzw. seine "Produktionsmittel" zeigen (die Requisiten werden durch die Schauspieler selbst auf- und wieder abgebaut). Dieses Auffälligmachen der Differenz zwischen der Realität des Theaters und der von ihm dargestellten Realität ist eben dieser Akt der "Verfremdung".
Im Übrigen geht es hier möglicherweise auch um die Frage, inwiefern eine "authentische" Darstellung von Gewalt auf dem Theater die medialen Mechanismen der Manipulation des Zuschauers nicht bloß weiterführen würde. In dieser Inszenierung dagegen geht es nicht um die heimliche Faszination an der bzw. um die Verurteilung von Gewalt, sondern um deren gestische Ausstellung (inklusive einer intelligenten Lichtregie), um das Denken dazwischen kommen zu lassen. Man könnte sich zum Beispiel einerseits fragen, welche Strukturen eine solche "Verwahrlosung" begünstigen. Und man könnte andererseits nach der Verantwortung des einzelnen für sein Handeln fragen.
Gerettet: was meinen Sie mit "Überschuss"?
@ susi
Brecht mit Überschuss, meinen Sie da so etwas wie Robert Wilsons Dreigroschenoper mit viel Musik und tamm tamm am BE, oder eher so was wie Die heilige Johanna am DT.?
Da muss ich auch mal drüber nachdenken.
Gerettet: was bedeutet "Überschuss"?
@ Stefan: Und was verstehen Sie selbst unter "Überschuss"? Das würde mich sehr interessieren.
Gerettet: wie bei jedem zweiten Stück
Weiter oben las ich etwas von "intelligenter Lichtregie". Tatsache ist, dass die Bühne bei "Gerettet" fast die ganze Zeit über gleichmäßig erhellt war. Intelligent kann das nur jemand finden, der mit einer dunklen Bühne gerechnet hat.
Es soll also um eine "gestische Darstellung" der Gewalt gehen. Solch ein Vorhaben kann man bei jedem zweiten Stück konstatieren, wenn einem nichts Besseres einfällt.
Nachdenken lässt sich immer etwas, beispielsweise auch, was sich aus einer derartigen Verwahrlosung ergibt. Vielleicht noch mehr Verwahrlosung oder eine Rückbesinnung auf mehr Moral mit dem Resultat der Sehnsucht nach einem starken Staat? Und wer trägt nun die Verantwortung? Der Einzelne, die kleine Gruppe, der man angehört, die Gesellschaft oder das System? Das sind Fragen, die sich ebenfalls bei etlichen Stücken stellen lassen.
Man kann an "Gerettet" durchaus Gefallen finden - ich tue es nicht -, aber man sollte diesem Stück nicht seltsame Gründe zu seiner Verteidigung unterschieben.
Ging es dem Regisseur überhaupt um einen Verfremdungseffekt? Jeder, der sich dieses Stück angesehen hat, wird wohl gemerkt haben, dass es sich um eine künstliche Herstellung von Realität handelt, da brauchen keine "künstlichen Produktionsmittel" wie Requisiten herumgetragen zu werden. Im Übrigen habe ich noch nie ein Theaterstück für nackte Realität gehalten, und für die Demonstration, dass hier eine künstliche Realität aufgebaut wurde, braucht es keine Extrabemühungen, die als Dreingabe und Bonus für geistig Hungrige noch einen Verfremdungseffekt liefern.
Den letzten Anflug eines geistigen Rausches hatte ich in der Schaubühne bei "Kabale und Liebe", "Hamlet" und "Trust" waren auch noch ganz passabel, keine Meisterwerke wie in früheren Zeiten zwar, aber goutierbar.
Gerettet: Genauer schauen und beschreiben!
@ Flohbär: Schauen Sie genauer hin. Ich habe die Inszenierung auch nur einmal gesehen, aber diese Steinigungsszene vollzog sich ungefähr so: Zunächst dunkles Licht (blau oder grün, weiss ich nicht mehr), während sich die unvorhersehbar aus dem Nichts hervorschießende Aggression allmählich aufbaut, die Geste des erhobenen Arms mit Stein in der Hand sowie das rasche Absenken des Arms in Richtung Kinderwagenöffnung. In diesem Moment wird (meiner Erinnerung nach) sowohl der Zuschauerraum als auch die Bühnenraum taghell erleuchtet. Mögliches Fazit: Schaut hin und nicht weg! Mehr Zivilcourage zeigen!
Gerettet: und dunkel tönende Musik
@ Flohbär: Und wenn Sie während dieser Szene auch noch hingehört haben, dann konnten Sie feststellen, dass während des dunklen Lichts dunkel tönende Musik (war mir persönlich ein wenig zu manipulativ-dräuend) eingespielt wurde, welche beim Lichtwechsel plötzlich verstummte. Gespenstische Stille.
Gerettet: unromantische Bühnenbeleuchtung
@10: Was ist denn mit Ihnen los? So weit ich Sie kenne, habe ich mit mehr Aggressivität gerechnet. Sie sind so milde gestimmt - haben Sie Geburtstag?
Da haben Sie sich einen der wenigen Lichteffekte herausgegriffen, der allerdings kaum darüber hinwegtäuschen kann, dass die Bühne fast die ganze Zeit über in eine übertriebene Helligkeit getaucht war und eine aseptische Atmosphäre wie im Krankenhaus herrschte. Von punktuellen Lichtquellen hat der Lichtmeister offensichtlich noch nicht viel gehört. Immerhin, ich konnte bei den Akteuren jeden Pickel und jede Regung des Mienenspiels deutlich erkennen. Auch die angegessenen Mc Donalds-Produkte (wahrscheinlich von der U-Bahn-Station Adenauerplatz), von Ruland und seinen Proll-Kollegen mit scheinbarem Heißhunger vertilgt, stachen ins Auge. Angesichts der Bühnenbeleuchtung war, was diesen Abend anbelangt, das Sitzen im Café schon der Gipfel der Romantik. Mehr hatte dieser Abend dann nicht mehr zu bieten.
Schwarz sollte seine Schauspielerkarriere als Rocker fortsetzen. In diesem Terrain liegen seine wahren Talente.
Bevor Sie sich Ihren Lichteffekt beim Baby-Mord noch einmals ansehen, gehen Sie doch besser in "Entgrenzung". Ein sehr leichtes, flockiges Stück ohne Tiefgang, aber recht unterhaltsam.
Gerettet: das Interessanteste war noch das Programmheft
@ Rosa L.
Schade das es keine Slow Motion an der Schaubühne gibt, dann hätten wir jetzt wahrscheinlich gewusst, ob das Licht an oder aus war und ob dabei Musik gespielt wurde.
Was wollen Sie denn jetzt noch aus dieser Inszenierung rausholen. Das war wirklich alles sehr solide gemacht aber das interessanteste war wirklich noch das Programmheft.
@Flohbär: Von welcher früheren Zeit an der Schaubühne schwärmen Sie denn so? Von der vor Ostermeier oder sind die Anfänge von ihm jetzt wirklich schon so lang her, das man früher sagen muss?
Gerettet: romantische Wünsche
@ Flohbär: Ist doch klar, das direkte Licht (ohne punktuelle Lichtquellen) sollte für mich sowas wie eine Proben- bzw. Laborsituation suggerieren. Mit Ihren romantischen Wünschen gehen Sie dann doch besser in die nächste Hollywood-Kino-Schmonzette. Glotzt nicht so.. na ja, Sie wissen schon.rn@ Stefan: Ich kann da soviel rausholen wie ich will. Warum wollen Sie mir das denn verbieten?
Gerettet: über das Erreichen des Möglichkeitsraums
@ Rosa L.
Ja das ist so eine Sache mit dem wollen und können. Verbieten will ich Ihnen nichts, aber ob Sie deswegen trotzdem können? Für mich war übrigens Agamben noch nicht ganz aus erzählt. Sie haben ja nun schon lang und breit über das Erreichen des Möglichkeitsraums durch das Spielen auf der Bühne geschrieben. Wie erreichen Sie denn eigentlich den, um den es eigentlich geht, der aber gar nicht anwesend ist? Heidegger sagt, dass das Vermögen einer Möglichkeit, dann hinfällig wird, wenn sie Wirklichkeit wird. Also wie trage ich den Möglichkeitsraum nun nach draußen?
Gerettet: Verweis im Einsatzraum Theater
@ Stefan: Kunst kann immer nur Einsatzräume des Politischen ERÖFFNEN, jedoch niemals erzwingen oder gar ersetzen. Und nehmen Sie es mir nicht übel, aber Heidegger-Apologeten finde ich manchmal ein wenig anstrengend, ob ihrer offensichtlichen Annahme wegen, dass es auch bei menschlichen Subjekten das reine Sein bzw. ein Authentisches, Natürliches, Kreatürliches ausserhalb der symbolisch konstruierten Realität geben könne. Ich würde dem nicht zustimmen, denn nach Agamben ist der Mensch dasjenige Tier, das sich selbst als menschlich erkennen muss, um es zu sein. Es geht hier also nicht um das ERREICHEN eines Möglichkeitsraums im Sinne einer idealistischen Zielsetzung, sondern um die immer wieder neue Hervorbringung des eigenen Selbst über den Prozess der Wiederholung in der Differenz. Es geht also darum, dass jeder, der diese Inszenierung wahr-nimmt, eine eigenständige Erkenntnis daraus ziehen kann. Darüberhinaus gibt das Theater aber keine einfachen Lösungen an die Hand, wie diese Erkenntnis ausserhalb des Theaterraums anzuwenden sei. Stattdessen kann immer nur auf die Verantwortung jedes einzelnen für das eigene Leben verwiesen werden. Dass man sich nur am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann (siehe Len). Wenn derjenige, um den es hier Ihrer Meinung nach geht, nicht anwesend ist, dann nehmen Sie ihn doch das nächste Mal einfach mit. Wie zum Beispiel die Lehrer ihre Schulklassen mitnehmen, aber wohl nicht zu dem Zweck, um sie über ein besseres Leben zu belehren, sondern um sie selbst mit- und nachdenken zu lassen. Nach Heiner Müller lernt man nur und sogar schneller aus Fehlern.
Gerettet: loslegende Schauspieler an der Volksbühne
eine kleinigkeit fehlt allerdings, ich finde auch theater als theater schön, ich brauche hauptsächlich tolle spieler-innen, die unglaublich loslegen und mich umhauen können, mit dem was sie da machen. an der volksbühne treten solche auf.
Gerettet: So etwas wie die Schaubühne in den Bezirken
@ Rosa L.
Nicht das ich die Diskussion über Gerettet wieder aufleben lassen möchte, aber ich wir Ihnen wohl noch eine Antwort schuldig. Ich versuche beim analysieren des im Theater gesehenen immer auch die Konsequenz mit zu denken. Deshalb mein Beharren auf der Auflösung des Möglichkeitsraumes. Der ist im Theater natürlich nicht möglich, aber Sie kommen dann mit Schulklassen. Es gibt nicht Schlimmeres als uninteressierte Schüler im Theater. Ich kann mir auch schlecht einen Obdachlosen unter den Arm klemmen und ins Theater schleppen. Wenn der, um den es geht, nicht ins Theater kommt, muss das Theater vielleicht zu ihm kommen. So etwas wie Schaubühne in den Bezirken. Die Volksbühne hat so was ja mit ihrer rollenden Roadshow mal versucht. Ich kann für mein Leben natürlich was aus dem Theater mitnehmen und mich für bestimmte Sachen, die mir wichtig sind, einsetzen, aber es geht ja nicht immer nur um einen selbst.
Gerettet: Theater von, mit und für die Betroffenen
@ Stefan: Wenn Sie den Möglichkeitsraum (also Imagination und Phantasie) im Theater aufheben wollen, dann enden Sie im totalen Stillstand der abgeschlossenen Repräsentation und damit im Terror der Präsenz bzw. in der Geschichts- und Zukunftslosigkeit. Meines Erachtens wäre eben das das Fatale. Kunst IST die Politik, insofern sie Einsatzräume des Politischen offenhält, allerdings ohne Garantie für die Transformation der dort gewonnenen Erkenntnisse in die Realität. Theater ist schließlich keine Ware.
Woher wissen Sie eigentlich, dass "alle Schüler" am Theater uninteressiert seien? Schließen Sie da nicht vielleicht ein wenig vorschnell von sich selbst auf "alle Anderen"? Schließlich, um realistisch zu bleiben, wieviele Obdachlose gehen Ihrer Meinung nach denn wohl im Schnitt ins Theater, sei es nun die Freie Szene oder die Großen Bühnen? Ihr Idealismus in Ehren, aber so würde sich kein Theater auf Dauer halten können. Das finanziert sich alles nicht von allein.
Ist es dann nicht vielleicht sinnvoller, ein Theater allein von, mit und für die Betroffenen (und andere interessierte Zuschauer) zu machen? Wie es zum Beispiel das Obdachlosentheater die "Ratten 07" praktiziert? Es kommt auf die Vielfalt der Theaterformen drauf an. Jeder sucht sich das raus, was ihm entspricht.
Gerettet: Pams Schrei
ihr redet so, dass man genau merkt, das ihr kein theater gucken könnt, sondern bloß über sachen quatschen, die mit theater gar nix zu tun haben. es hat auch was von einer verdrückten selbstbefriedigung, sich andauernd noch mal zu erklären, was für ein passables weltmodell man vor sich her tragen kann, das zwar alles lebendige und spielerische ignoriert, aber eine hübsche selbstdarstellung als schmalspurpriester eines langweiertheaters vor sich her trägt. liebt eure sprüche, aber verschont die aufmerksamen betrachter. der schrei der pam, sage ich nur, aber solche fragen interessieren hier niemand.
Gerettet: der totale moralische Konsens
@ susi
Pams Schrei ist auch nur so ein emotionales Stilmittel. Kann man machen, kann man aber auch lassen. Mich stört das eher beim nachdenken. Das Stück liefert fertige Denkansätze wie am Fließband, auf die man sich prima verständigen kann. Allgemeingültige Wahrheiten, es herrscht der totale moralische Konsens. Das ist auf Dauer langweilig und deshalb bleibt nicht viel von dieser Inszenierung haften.

@ Rosa L.
Ich glaube nicht, dass Schüler generell uninteressiert am Theater sind. Nur man sollte niemanden gegen seinen Willen dorthin zwingen, das fällt mir nur hin und wieder auf.
Das Obdachlose nicht ins große Theater gehen ist mir klar. Die Ratten 07 kenne ich auch, eben so wie das Projekt Aufbruch das mit Strafgefangenen arbeitet. Diese Projekte von freien Trägern sind begrüßenswert und bedürfen unser aller Unterstützung. Das Mitwirken Betroffener im Stadttheater sollte sich ja eben nicht nur im Ausstellen dieser als Unterstützung des Gezeigten erschöpfen.
Gerettet: Theaterzwang habe ich nie erlebt
@ Stefan: Sind Sie Schulleiter, Lehrer, Schulpsychologe oder Schüler? Oder woher nehmen Sie bloß, dass irgendjemand gegen seinen Willen ins Theater gezwungen werden könnte? Sowas hab ich tatsächlich noch nie miterlebt. Wenn Schüler keine Lust haben, dann bleiben Sie der Vorstellung doch wohl eher einfach fern, als dass sie sich von irgendwem zwingen lassen würden. Und das ist auch gut so. Ihre Mitschüler werden ihnen berichten, was ihnen möglicherweise entgangen ist.
Und was war jetzt Ihrer Meinung nach der "moralische Konsens" dieses Stücks? Dass es ohne Verantwortung und individuelle Entscheidung keine Ethik und Moral gebe?
Gerettet: das Bequeme am moralischen Konsens
@ Rosa L.
Ich möchte das Stück oder die Inszenierung gar nicht interpretieren, das haben Sie doch hier schon so schön für uns erledigt. Ich rede von den Stilmitteln der Inszenierung, die uns die Moral Verantwortung zu Übernehmen gerade zu aufdrängen. Hier ist eben keine freie Entscheidung mehr vorgesehen, die hat Andrews dem Zuschauer bereits abgenommen. Genau so arbeite auch Volker Lösch mit seinen Chören. Das ist das Bequeme am moralischen Konsens, immer auf der richtigen Seite zu stehen, aber so einfach ist es eben nicht. Übrigens ich bin weder das eine noch das andere, ich interessiere mich nur wie Sie für das Theater, mehr nicht.
Gerettet: Ethik kann man nicht lassen
@ Stefan: Und nun sind wir möglicherweise bereits mitten in der "Authentizitätsdebatte". Ich würde sagen, dass Benedict Andrews ganz anders und viel differenzierter arbeitet als Volker Lösch mit seinen Laienchören. Bei Andrews wird diese Differenz der Darsteller zum Dargestellten im Theaterkontext ganz klar ausgestellt und eben gerade nicht verschleiert. Jeder hat ein anderes Leben, und das muss man erstmal aushalten! Dass andere eben nicht - wie ich zum Beispiel - über die Sprache kommunizieren wollen und/oder können, sondern (nur) über Gewalt, das muss man erstmal aushalten! Eine demokratische, freie und offene Gesellschaft kann meines Erachtens aber nur auf der Basis des wechselseitigen sozialen Vertrauens funktionieren. Und das ist auch das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen, zum Beispiel, dass das Gewaltmonopol weiterhin beim Staat liegt und dieser dieses nicht missbraucht (siehe die Debatte zur Aufhebung des Folterverbots zum Zweck der Verbrechensaufklärung auch in Deutschland).
Ich finde nicht, dass Andrews uns hier etwas aufzwingt, er eröffnet bloß einen alternativen Handlungsraum gegenüber dem vermeintlich einzigen Ausweg der immer nur gewaltsamen Lösung. Sie dürfen gern so weiterleben wie die Figuren auf der Bühne (wenn Sie denn so leben/leben wollen). Ich möchte nicht so leben, und eine solche Haltung spüre ich auch auf Seiten des Regisseurs. Eine solche klare und entschiedene Stellungnahme gegenüber dem postmodernen anything goes muss doch erstmal nichts Schlechtes sein, oder?
Vielleicht könnte man hier ja auch die These aufstellen, dass eine demokratische bzw. globalisierte Gemeinschaft eben tatsächlich nur dann funktioniert, wenn individuelle Entscheidung und soziale bzw. globale Verantwortung zusammenkommen. Ethik ist etwas, das man nicht lassen kann, auch wenn darunter immer auch die Gewalt schlummert und durchbrechen kann. Auch ich hab mal meine aggressiven Seiten, keine Frage. Aber das muss ja nicht sein. Oder?
Oder wie schreibt Edward Bond dazu?: "I write about violence as naturally as Jane Austen wrote about manners." Das heisst für mich übersetzt: Du musst mich nicht töten, auch wenn du es könntest.
Gerettet: diffizil, aber gemacht
@ 23
Was hat das mit Authentizität zu tun, Rosa? Mag sein das Andrews das ganz diffizil macht. Aber er macht es eben. Ich möchte immer noch selbst entscheiden, wann ich betroffen bin, und ob ich Ihre so gepriesene demokratische Grundordnung wie sie sich jetzt darstellt mag, entscheide ich auch lieber selber. Dieses Selbstverständnis von Ihnen das könnte man ja fast beneiden. Aber ist das nicht auch ein bisschen feige, sich immer auf der richtigen Seite zu wähnen? Das meine ich mit moralischem Konsens. Der schließt ja mal eben die anderen, die sich nicht genau danach verhalten, aus. Wenn Sie sich nur so wohlfühlen, bitte, es ist nicht wirklich was dagegen zu sagen, nur ist mir das irgendwie zu einfach gedacht.
Übrigens zur "Authentizitätsdebatte" habe ich etwas in den Wirklichkeitswahn-Thread (#9) geschrieben. Ist Authentizität erstrebenswert oder gar überhaupt möglich? Was halten Sie davon?
Gerettet: Rahmung als Kunst bringt mich zum Denken
@ Stefan: Mir ging es darum, dass zum Beispiel "echte Strafgefangene" auf der Bühne noch lange nicht besser sein müssen als von Schauspielern verfremdend gespielte Strafgefangene oder im Fall von "Gerettet" eben "Unterschichtler". Die Rahmung als "Kunst" ermöglicht es, eine eigene Bühnenrealität hervorzubringen, was mich persönlich viel mehr zum Denken anregt als die vermeintliche Beglaubigung von Romanstoffen und Stücktexten durch "echte Betroffene". Da besteht meines Erachtens immer die Gefahr, dass man im authentischen Gefühlskitsch steckenbleibt, ohne noch mit- und weiterzudenken und sich differenzierter mit der Thematik auseinanderzusetzen. Über die Imagination kann meines Erachtens viel mehr entstehen als über die eben auch nur vermeintliche Identifikation mit "echten Betroffenen". Es sei denn, diese werden nicht in ein feststehendes Inszenierungskonzept eingebunden, sondern erzählen wirklich frei aus Ihren Biografien (und auch das natürlich immer als dargestelltes Leben). Beispiele dafür wären zum Beispiel die "Dritte Generation" an der Schaubühne oder auch "Rimini Protokoll".
Und was heisst Ihrer Meinung eigentlich "richtige Seite"? Für mich ist das keine Frage von "richtig" oder "falsch", sondern eine Frage des dialektischen Denkens, also des Denkens in Widersprüchen. Bloß, irgendwann muss man dann vielleicht auch mal von diesen reflexiven Aporien der Unentscheidbarkeit zu den klaren Urteils- und Entscheidungsprozessen der politisch-gesellschaftlichen Praxis gelangen, oder? Oder wollen Sie nur darauf warten, dass irgendwann "das Proletariat" wie der Messias auf Erden erscheint und Sie erlöst?
Hier wird auch niemand ausgeschlossen, im Gegenteil, hier wird darauf verwiesen, dass jeder Mensch ein politischer Bürger ist und sich als solcher eben auch kritisch gegenüber politischen und strukturellen Fragen artikulieren kann. Sie müssen ja nicht immer nur die RAF kopieren, oder? Fällt Ihnen wirklich nichts Besseres dazu ein?
Gerettet: durch damit
@ Rosa L.
Zu Lösch habe ich schon eine klare Meinung geäußert. Ich finde sein Theater mit seiner ausgestellten und überlegen Moral nicht authentisch. Aber Rimini Protokoll kann man schwer mit dieser Art Theater vergleichen. Es entzieht sich konsequent einer klaren Einordnung. Ich halte es aber trotzdem für hoch politisch, obwohl keinerlei Wertungen abgegeben werden. Die Leute definieren sich aus sich selbst heraus, ohne Einwirkung eines klaren Konzepts. Es wird nur ein vermeintliches Überthema ausgewählt, zu dem jeder Protagonist aus seiner Perspektive heraus frei assoziiert. Ob das authentisch ist kann ich natürlich als Außenstehender nicht wirklich beurteilen, aber das ist den Machern auch nicht wichtig.
Richtige Seite, falsche Seite, Dialektische Denken? Was für Widersprüche gibt es denn in Gerettet? Lesen Sie bitte noch mal, was ich unter 17 gesagt habe. Genau das selbe versuchen Sie mir jetzt aufzutischen, „...zu den klaren Urteils- und Entscheidungsprozessen der politisch-gesellschaftlichen Praxis gelangen,... Von was rede ich denn die ganze Zeit, doch von notwendigen Konsequenzen. Ich warte auf das Proletariat? Hatten wir das nicht gerade erst mit Hilfe der These von Agamben abgeschafft? Ich warte auf niemanden. Ich kann mir selber helfen, und dafür brauche ich auch nicht Denkanstösse durch gut gemeinte Theaterinszenierungen a la Lösch und Andrews. Das führt zu nichts.
Und wie kommen Sie denn jetzt auch noch auf die RAF, die haben sich doch auch auf der richtigen Seite gewähnt. Nur weil ich geschrieben habe, das ich unter Umständen die demokratische Grundordnung wie sie sich zur Zeit entwickelt in Frage stellen würde? Da ist es aber noch ein weiter Weg bis zur Anwendung von Gewalt. Nicht jeder extreme Denkprozess muss wie im Falle von Ulrike Meinhof zwangsweise in die Gewalt gegen den Staat und somit in die eigne Isolation und Entfernung von den Massen, für die sie eigentlich kämpfen wollte, führen. Das Grundkonzept der wehrhaften Demokratie verbietet ja auch noch nicht den Gedanken, sondern nur die aggressive Tat. Kritisches Denken widerstrebt noch nicht dem grundsätzlichen Bekenntnis zur Demokratie. Das nennt man dann Ausübung seiner Grundrechte. Aber das wird jetzt zu einem Seminar über Verfassungsrecht.
Also zur Authentizität von Theater können wir gerne noch im Wirklichkeitswahn-Thread weiter diskutieren, mit Gerettet bin ich durch.
Gerettet: offenes und dialogisches Mit-Sein
@ Stefan: Sehen Sie, Ihnen geht es also auch um die Denkprozesse, welche das Theater anstoßen kann. Aber das ist eben nur eine MÖGLICHKEIT. Die Kunst ist nicht Imitation oder Antizipation von Politik/Ideologie und beinhaltet auch keine Garantie für politisches Handeln. Ich empfinde es auch als kontraproduktiv, das vermeintlich Passive gegen das Aktive ausspielen zu wollen. Mir persönlich geht es um ein offenes und dialogisches Mit-Sein zwischen Künstlern, kritischen Intellektuellen und der politischen Bewegung auf der Straße.
Und es ist ja auch die Frage, wie das funktionieren soll, dieses abstrakte "für die Massen kämpfen". Für mich fängt das eben schon bei der Erkämpfung der individuellen Würde an, ganz klein, im alltäglichen Miteinander (wie Len) und nicht gleich mit der roten Fahne in der Hand. Wer groß denkt, kann auch groß irren.
Schließlich, Ihre Formulierung von der "wehrhaften Demokratie", die gefällt mir irgendwie überhaupt nicht. Klingt leider sehr rechts. Ich würde dagegen eher vom rechtlichen Begriff des "Gewaltmonopols des Staates" sprechen.
Gerettet: streitbare Demokratie
@ Rosa L.
Da sehen Sie, dass schon Begrifflichkeiten zu Missverständnissen führen können. Den Begriff wehrhafte Demokratie habe ich direkt aus dem Verfassungsschutzgesetzt entlehnt. Er ist sehr abstrakt und man assoziiert damit gleich staatliche Gewalt. Rechts finde ich das nicht, nur etwas gruselig und habe damit eben auch so meine Probleme. Sie können den Begriff auch mit streitbarer Demokratie übersetzen. Darin findet sich dann doch eher auch das Recht auf freien Gedankenaustausch unter der Prämisse der Beibehaltung der freiheitlich demokratischen Grundordnung wieder. Und davon haben Sie ja geschrieben.
In diesem Sinne, Ihr Stefan.
Gerettet: frei denken, darum geht's
@ Stefan: So steht das im Verfassungsschutzgesetz? "Wehrhafte Demokratie"? Dann stimme ich Ihnen zu, das klingt wirklich gruselig. Deshalb auch meine Skepsis. Aber frei denken, ja, darum gehts.
Gerettet: lernen Sie Geschichte!
@ach rosa l., bei ihnen würden wir immer noch bei ihrem überkünstler a.hitler sitzen und die sowjets und amerikaner würden uns bzw. deutschland und europa mit guten worten befreien. ja wehrhafte demokratie ! die gilt es zu verteidigen, wenn es sein muss mit gewalt. das hat nichts mit rechts zu tun, sondern mit freiheit. lernen sie geschichte !
Gerettet: Zu Potsdam unter den Eichen (Brecht)
@ die weisse Rose: Ich kann Ihre Befürchtungen durchaus nachvollziehen, möchte aber dennoch die Frage stellen, ob ich mich in der dritten Generation nach Auschwitz nicht differenzierter mit dem Thema der "wehrhaften Demokratie" auseinandersetzen kann und muss. Das heisst, ich möchte Geschichte nicht nur lernen, denn das würde ja bedeuten, dass die Geschichte einer linearen Entwicklung folgen und sich demnach als "Vergangengheit, die sich niemals wiederholen dürfe", abschließen ließe. Ich jedoch gehe von der Jetztzeit aus, welche von Geschichte erfüllt ist, wobei sich die Wiederholung immer in der Differenz zum vergangenen Kontext vollzieht. Indem ich mir die Geschichte aneigne, entwickle ich also ein Geschichtsbewusstsein. Und vor diesem Hintergrund wird es meines Erachtens dann zum Beispiel auch möglich, dass ich mich weiterhin kritisch mit der Frage auseinanderzusetze, mit welcher Begründung sich Deutschland aktuell im Kriegseinsatz in Afghanistan befindet.
Zudem habe ich gestern zufällig bei Alexander Kluge etwas gefunden, was ebenfalls eine dialektische Perspektive auf die "wehrhafte Demokratie" eröffnen würde. Zitat Kluge:
"Mangels eines besseren Zugangs zur Wirklichkeit lernen Roswitha und Silvia ein Lied von Bert Brecht auswendig." Es folgt das Lied "Zu Potsdam unter den Eichen" von Bertolt Brecht, von dem ich hier nur die letzten beiden Strophen zitiere:
"5. Gekrochen einst mit Herz und Hand
Dem Vaterland auf den Leim
Belohnt mit dem Sarge vom Vaterland:
Jedem Krieger sein Heim!
6. So zogen sie durch Potsdam
Für den Mann am Chemin des Dames
Da kam die grüne Polizei
Und haute sie zusamm'."
Gerettet in Schaubühne: Leichtigkeit nicht durchgehalten
Mit Skandalstücken ist das so eine Sache: Was bleibt, wenn der Skandal vorüber ist, wenn die damals gebrochenen Tabus längst vergessen sind, wenn, was damals schockierte dies heute nicht mehr vermag? "Gerettet", 1967 uraufgeführt und kurz darauf verboten, ist so ein Stück. Benedict Andrews hat es in Berlin auf die Bühne gebracht und er hat einen ungewohnten Weg gewählt: Er inszeniert das Stück mit leichter Hand und bringt das lange verschüttete komische Potenzial so mancher Szene zum Vorschein. Möbelstücke werden hin- und her geschoben, die Protagonisten Len und Pam vergnügen sich so ungezwungen wie ungelenk auf dem Sofa, ein Ruderboot wird über die Bühne gezogen - gerade die erste Hilfe verrät eine Leichtigkeit, wie sie der tastenden Identitätssuche der Protagonisten entspricht.

Um so brutaler brechen die Wolken herein, um so drastischer ist der Bruch, wenn aus Unschuld und Hoffnung Apathie, Abstumpfung, Verzweiflung wird, die sich in blindem Hass entlädt. Dass der Abend über weite Strecken funktioniert, ist der urückhaltenden Regie Andrews ebenso zu verdanken wie den starken Darstellern. allen voran die Pam der Marie Rosa Titjen, schwankend zwischen rebellischer Neugier und verzweifelter Hilflosigkeit, und Stefan Sterns Lenny, schüchter, hilflos, auf der Suche nach Geborgenheit, ein tastender Blinder, der am Ende in Regungslosigkeit erstarrt. Auch das Elternparr, Steffi Kühnert und Thomas Bading, überzeugen zwischen Clownerie undhasserfüllter Leere.

Leider hält Andrews die Leichtigkeit nicht durch und das zeigt sich vor allem in der Schlüsselszene, in der Pams Baby aus Langeweile zu Tode gefoltert wir und die damals zum Verbot führte. Plötzlich setzt eine aufdringliche Lichtregie ein, erhält die Szene eine starre Choregrafiert, wird mit Verlangsamen und Standbildern gearbeitet. Dies soll die Szene abheben und das tut es, aber wohl nicht wie intendiert. Der plötztliche Aufwand rückt das geschehen weit weg vom Zuschauerund minimiert die Wirkung. Der Fluss ist gebrochen, die Charaktere ebenso, die Fäden kommen nicht mehr zusammen, die Dramaturgie fragmentiert sich. Plötzlich findet sich der vorherige Rhythmus nicht wieder. Das ist folgerichtig, schließlich sind auch die Charaktere nach diesem Grenzübertritt nur noch Fragmente. Und doch ist diese Szene ein Fremdkörper, gegen den der rest der Inszenierung ankämpft.

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