L’ affaire Martin! - René Pollesch erfindet René Pollesch neu
Im Sumpf der Narration
von Dirk Pilz
Berlin, 11. Oktober 2006. Es ist ein theaterhistorisch relevantes Ereignis zu vermelden: Das Theater des René Pollesch ist nicht länger das, was der geübte Zuschauer zu kennen glaubt.
Vorbei die Zeiten, da Pollesch seine Darsteller als Diskursträger auftreten und den Text herausschleudern ließ. Fast fing die Pollesch-Theater-Maschine ja zu langweilen an, beinahe, dass man seiner wilden Theoriemixturen überdrüssig wurde. Pollesch, ist das nicht das dauernde Abschnurren wirrer Zitatschnipsel? Nicht mehr; oder besser: nicht mehr nur. Denn das Pollesch-Theater tritt jetzt als eine genuine Mischung aus Diskursverwertung und durchaus traditionellem Rollenspiel auf. Der Wandel hat sich in seinen letzten Arbeiten bereits angedeutet; jetzt wurde er manifest. Man sollte sich das Datum als Geburt einer neuen Spielform also merken: Seit dem 11. Oktober 2006 gibt es ein Theater der Vielförmigkeit, das zuvor undenkbar schien. Denn das so genannte postdramatische Theater mit seinem Verzicht auf nacherzählbare Figuren ließ kein herkömmliches Rollenverständnis zu. Glaubte man. Pollesch hat mit der Uraufführung seines neuesten Werkes das Gegenteil bewiesen.
Nach Postdrama: das Theater der Vielförmigkeit
Das kam so. Bühnenbildner Bert Neumann hat im Großen Haus der Volksbühne ein adliges Wohngemach angedeutet, in dem die Junkerfamilie von Donnersmarck um den qualmenden Kamin hockt, Chopin spielt, über Schlesien sinniert und sich fragt, wie „das Leben der Anderen" darstellbar sein könnte. Der gleichnamige Film ist für „L' affaire Martin! etc." dabei nur das Absprungbrett, um den „schlammigen Sumpf der Narration" zu erforschen. Denn darum geht's: um die Frage, wie vom eigenen und fremden Leben überhaupt erzählt werden kann. Anders als früher lässt Pollesch dabei identifizierbare Figuren zu und das Textbrüllen weg.
Volker Spengler ist der tumbe Vater, Sophie Rois die aufgekratzte Mutter, Caroline Peters und Christine Groß die Töchter, Martin Wuttke ein Schlesien-Forscher. Sie alle wechseln zwar nach wie vor ihre Rollen, hüpfen von Identität zu Identität, das aber stets durch Bühnensituationen und aus den Rollen heraus motiviert. Es gibt putzige Stummfilmparodien und urkomische Slapsticknummern, einen wunderbar luftigen Wuttke im Ganzkörperanzug, mit dem er in der Wand verschwinden kann; es gibt Dialoge und keine Handkamera, begreifbare Charaktere und ironisch ausstaffierte Querverweise.
Ein Abend, der das Guckkastentheater in das etablierte Pollesch-Universum integriert. Pollesch rudert damit nicht zurück, er erkennt den guten alten Theatergaul als eine Möglichkeit der Welterschließung an. Wahrscheinlich muss man das weise nennen. Hier deutet sich eine Zukunft an, die nicht nur der krisengeschüttelten Volksbühne neue Horizonte eröffnet.
L'affaire Martin! Occupe-toi de Sophie. Par la fenêtre, Caroline! Le mariage de Spengler. Christine est en avance .
Text und Regie: René Pollesch, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Tabea Braun.
Mit: Christine Groß, Caroline Peters, Sophie Rois, Volker Spengler und Martin Wuttke.
www.volksbuehne-berlin.de
Alles über René Pollesch auf nachtkritik.de im Lexikon.
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