Liebst du schon oder lebst du noch?

von Dirk Pilz

Berlin, 7. September 2007. Als Karl, der verloren geglaubte Sohn, aus der Haft wieder nach Haus' kommt, sitzt er lässig an der Rampe. Klampfe unterm Arm, Fluppe im Mund, Song auf den Lippen: "There must be some way out of here." Bob Dylan als Sehnsuchtspate. Karl will raus aus der elterlichen Schrankwandwelt, Schwester Klara auch. Karl will zu den Matrosen, Klara in den Tod.

Sie hat ihre Rotweinpulle samt Abschiedsblick, er seine Zukunftsvision und Zorn im Herzen. Und wenn sie geht, bettet sie sich hinten an der Wand unter ein Sitzbrett als läge sie schon im Sarg. Auf ihr Stichwort "Jetzt!" öffnet sich die Wand, Klara verschwindet und – Auftritt von rechts: Anton. Tischlermeister, Vater, Prinzipienreiter.

"Was sind das wieder für Reden?" antwortet er auf die Matrosenpläne. "Fisch und Vogel sollten nicht darüber streiten, ob's in der Luft oder im Wasser am besten ist," pariert der Sohn. Vater contra Sohn, Hirnmensch gegen Bauchmensch. Diese Inszenierung atmet den Geist dualistischer Vergröberung. Wir sehen: eine in klappernde Gegensätze eingeschachtelte Welt, sekundiert von einem tiefbraunen, holzvertäfelten Bühnenbild, das Engstirnigkeit, also Ausweglosigkeit veranschaulicht.

Die junge Regisseurin Jorinde Dröse hat am Maxim Gorki Theater Friedrich Hebbels bürgerliches Trauerspiel in drei Akten "Maria Magdalena" inszeniert. Als Sinnspiel über Liebe, Leben, Leidenschaft, das einer säkularisierten Zwei-Welten-Lehre gehorcht. Fisch oder Vogel, das ist hier die Frage.

Forsche Ritter der Unterhaltsamkeit
Das Eindampfen der bestürzenden Komplexität des Daseins auf schlichte Entweder-Oder-Formeln hat durchaus seine Vorteile. Im Theater gebiert es zum Beispiel so putzige Figuren wie Leonhard, den Klara nimmt, als ihre große Liebe Friedrich sich in der Wissenschaft vergräbt und nicht mehr blicken lässt. Leonhard: Für seinen Kassierer-Job riskiert er Kopf und Kragen, reißt sich Klara wegen läppischer tausend Taler ans Herz und lässt sie trotz ihrer von ihm verschuldeten Schwangerschaft wieder fallen, als Karl (Jörg Kleemann), der Bruder, eingebuchtet wird, der angeblich Juwelen gestohlen haben soll. Gunnar Teuber spielt diesen Leonhard als Karriere-Würstchen feinster Sorte, was er nur kann, weil die Regie ihm einen festen Platz in ihrer Schachtel-Welt zugewiesen hat: Leonhard, der phantasielose, aber umso lustigere Besitzstandsdenker.

So hat jede Figur an diesem kurzweiligen, weil kurzen Abend ihre stramm umrissene Entwicklungslinie, die ganz der vorgegebenen Zwei-Welten-Spur folgt. Klara (Anika Baumann) demonstriert zu Beginn einen hübsch trotzigen Schmollmund, um die Lippen später desto eindrücklicher zusammenpressen zu können. Der Vater (Andreas Leupold) steckt anfangs viel die Hände in die Taschen, um sie zum Schluss wirkungsvoll gebrauchen zu können, wenn er auf seine Tochter mit dem Donnerwort "Du bist tot!" zeigt, so dass diese effektsicher mit Koffer und Kummer ausgestattet ihren Selbstmordentschluss durch Abtreten nach hinten vollführen darf.

Und Friedrich (Julian Mehne) flutscht wie Otto, der Komiker, über die Bühne, weil er sich so am Ende desto fetziger von Leonhard im Duell anschießen lassen kann. Die Figuren der Vorlage sind bei Dröse zu schmalbrüstigen Rittern der Unterhaltsamkeit geworden. Ihre Auftritte: knallig, forsch und unmissverständlich. Ihr Verhältnis zur Handlung: slapstickhaft und zupackend. Ihre Anmutung: geheimnisfrei.

Tragweiten des Tragischen
Vielleicht ist dies aber auch eine zeitgeistige Inszenierung über die Spielarten der Hingabe. Die Hingabe an die Pflicht (der Vater), die Wissenschaft (Friedrich), die Karriere (Leonhard), das Gewissen (Klara). Lauter Leidenschaften, die in die eine Hingabe münden: diejenige an die Liebe, die Erfüllung will, aber nur Alltag bekommt. In Pflicht - wie in Gewissensdingen, auf dem Feld der Karriere genauso wie auf dem der Wissenschaft. Und in der Ehe sowieso. Denn so körperbetont und zappelig wie alle hier ihre je eigenen Versessenheiten spielen, spricht aus jeder Bewegung nur eine Sehnsucht: die Sehnsucht nach der Flucht. Vor den Artgenossen, der Verantwortung, dem Leben.

So gesehen sind die Figuren nicht nur in dualistische Muster gepresst, sondern auch von einem romantischen Flucht- und folglich Erlösungstraum befallen: Lebst du noch oder liebst du schon? – das wäre dann die Frage. Womöglich hat Dröse deshalb Intermezzi eingebaut, die Traumwelten andeuten, in denen die tote Mutter (Ruth Reinecke) – vom Schlag getroffen, als sie die Kunde vom angeblichen Diebstahl des Sohnes erreicht – engelsgleich aus dem Grab ersteht.

Nur wirken diese inszenierten Träume seltsam künstlich und konstruiert. Man versteht sie nicht – und lacht doch wieder über die Drolligkeiten der vorgeführten Figuren. Die Tragweite des Tragischen der Konflikte wird in eine derbe Wirkungsästhetik zurückgezwängt. Man begegnet Figuren, die hilflose Seelen spazieren tragen. Die erzählte Geschichte kennt kein Ja, an dem nicht ein Nein hinge; die Inszenierung keine Szene, aus der sich kein Effekt schlagen ließe.

 

Maria Magdalena
von Friedrich Hebbel
Regie: Jorinde Dröse, Bühne und Kostüme: Susanne Schuboth.
Mit: Andreas Leupold, Jörg Kleemann, Anika Baumann, Gunnar Teuber, Julian Mehne, Ruth Reinecke und Wolfgang Hosfeld.

www.gorki.de

 

Alles über Jorinde Dröse auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Doris Meierhenrich (Berliner Zeitung, 10.9.2007), entdeckt in Hebbels Stück insgesamt "viel Gegenwart". Ausgerechnet das Drama um Klaras Schwangerschaft jedoch entbehre inzwischen "jeder Brisanz". Und werde in Annika Baumanns Darstellung nicht greifbarer. Auch Andreas Leupolds Meister Anton scheine sich die ganze Zeit bloß zu fragen, "wie er seine beeindruckende Holzinnenausstattung fertig kriegt. "Sorgfältig sei zwar an surrealen und comichaften Einfälle gepusselt worden. Aber: Hebbel habe "ein 'einfaches Lebensbild' der Zeit ohne kommentierende 'Seitenblicke des Gedankens' entwerfen wollen. "Dröse dagegen kreiert Bühnenbilder ohne Zeitbezug, die sich permanent selbst kommentieren."

Für Hans-Dieter Schütt hat im Maxim Gorki Theater eine "Grablegung" des Stückes stattgefunden (Neues Deutschland, 10.9.2007). Im Petras-typischen Eiltempo in nur 90 Minuten und ängstlich alle Tiefen umrundend. "Was der Inszenierung fehlt, ist ein heißes Schmerzzentrum. Sollte die Regie ein solches Zentrum gar nicht im Sinn gehabt haben: Einen Kältemittelpunkt gibt es auch nicht. Es geht von Zeichen-Setzung zu Zeichen-Setzung, als seien Menschen in Muster gepresst, darin sie leblos, lächerlich, blutleer wirken. Als würde nicht die Szene gespielt, sondern deren Bedeutung. (...) Das verleiht dieser Aufführung eine unbeholfen hervordrängende Nähe zum Schülertheater."

Eine ähnliche Assoziation hatte Andreas Schäfer, der schon am Vortag in der Sonntagsausgabe des Berliner Tagesspiegel (9.9.2007) weit weniger schlecht gelaunt, aber ebenso deutlich geschrieben hat, das Maxim Gorki Theater verstehe sich "immer mehr als Theater für Schüler, das Stücke weniger interpretieren, sondern mehr bewerben möchte": "Schöne Musik, ein bisschen Bewegung und lebendige, wandlungsfähige und mit dem glühenden Drang zur ´wahren Empfindung´ ausgestattete Schauspieler, die kurzweilig eine Geschichte runterspielen."

Max Glauner von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (9.9.2007) störte sich vor allem an der "verschwiemelten Bildsprache" der "stummen Tableaus". Die tote Mutter, die aus der Versenkung erscheint, um der Tochter das Hochzeitskleid und weiße Lilien zu überreichen: "Das ist Kitsch. (...) Hier mutiert die protestantische Klara zum Opferweib, über deren Tod sich die bedrohte Gemeinschaft restituiert." Die Ausstattung allerdings gefiel Glauner. Susanne Schuboths "nach vorn kippender Eiche-furniert-Pressspanplattenkasten" sehe nach dem Installationskünstler Tobias Rehberger aus, die Kostüme, "eine Mischung aus Biedermeier und Gegenwart", seien "entzückend".

Auch Petra Kohse stört sich in der Frankfurter Rundschau (11.9.2007) an zuviel verträumter Biedermeierlichkeit. Strafverschärfend kommt für sie noch einiger Töchterkitsch hinzu, ein "Turnbeutel voll Jugendaccessoires und allerhand Jungmädchenphantasie". Besonders Hauptfigur Klara geht für Petra Kohse nicht auf: "bei Anika Baumann ein Mädchen, das vor kurzem sicher noch Pferdeposter über dem Bett hatte: aufrecht, zupackend und geheimnislos. Eine wie sie könnte diesen Wischel von Vater links oder rechts in die Tasche stecken". Doch der werde von Jorinde Dröses töchterlichem Zugriff "artig" gestützt, "indem sich in seiner Umgebung alle so klein machen, als stünde Sepp Bierbichler vor ihnen."

In der Süddeutschen Zeitung (10.9.2007) hingegen zeigt sich Peter Laudenbach in seiner Doppelbesprechung mit Gotscheffs "Hamletmaschine" am DT von Jorinde Dröses Inszenierung völlig begeistert. Mit "größter Selbstverständlichkeit" sei dies ganz heutig erzählt. Die Regisseurin "führt mit jeder Szene vor, wie sehr sie das Theater liebt und seine Tricks beherrscht.". Hier habe sie "die Momente des naiven, also wahren Gefühls vergrößert" und den Tragiker Hebbel in die Nähe Büchners gerückt.

 

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