Ein Kino voll mit alten Bildern

von Charles Linsmayer

Basel, 15. April 2010. "Was ist es, das uns treibt, so sich herumzuschlagen, immer mehr zu wollen, als man tragen kann, ich weiß es nicht, ich weiß nur, ich hab ein Kino voll mit alten Bildern in dem grauen Kopf, die wollen jetzt, dass man sie löscht!" Michael Neuenschwander als Herakles schlägt, wenn er das sagt, den Kopf mit aller Kraft auf den Boden, blutüberströmt und mit heraushängendem Gedärme, ist er doch, soeben aus der Schlacht zurückgekommen, von Deianeira, seiner Frau, mit einem Hemd vergiftet worden. Weil er es mit Iole, der Sklavin getrieben hat, um deretwillen er – wer's glaubt – in den Krieg gezogen war.

Längst hat sich Deianeira, in deren Rolle Katka Kurze den Abend mit einem langen, allmählich in einen Hassgesang übergehenden Liebesmonolog eröffnet, ihrerseits umgebracht, und nun geht es eigentlich nur noch darum, wer Herakles, dessen Taten und Irritationen auf Videoleinwänden zu bestaunen oder besser zu erraten sind, den Gnadenstoß gibt.

Hylios, der Sohn, den Benjamin Kempf als schwarzlockigen Rockstar mit Gitarre zu spielen hat, ist trotz seines wütend zum Ausdruck gebrachten Vaterhasses zu feige dazu. Lichias, eine Art Butler, den Florian Müller-Morungen als kastagnettenklimpernden Dandy spielt, trägt sich lieber mit Fluchtplänen, und so bleibt die grausige Tat Vera Rüegger als Iole überlassen. Kurz entschlossen kniet sich die denn auch über den Sterbenden und macht ihm mit ihrem Gürtel den Garaus.

Täter und Opfer verzweifelt gesucht

Geht es im ersten Teil der von Peter Kastenmüller inszenierten "Herakles-Trilogie" von Armin Petras, "Herakles Tod" nach Sophokles, um einen, der sterben will, aber – lange – von niemandem getötet wird, so geht es in den beiden anderen Teilen darum, ob jemand bereit ist, für andere freiwillig den Tod auf sich zu nehmen. In Teil II, der Euripides-Adaption "Alkestis, mon amour", 2004 von Petras selbst in Leipzig uraufgeführt, erhält König Admetos von Apollo einen Aufschub, wenn jemand anderer an seiner Stelle stirbt.

In dem drehbaren zweistöckigen Haus ohne Wände, das Bühnenbildnerin Daniela Selig einfallsreich in die Mitte der großen leeren Bühne gestellt hat, von der im ersten Teil nur gerade das vorderste Viertel bespielt worden war, herrscht ziemliche Aufregung, naht doch unaufhaltsam die Stunde, da jemand sterben muss. Außer der jungen Ehefrau Alkestis, verkörpert von Inga Eickemeier, ist einfach niemand dazu bereit.

Robuste Vätergeneration

Vincent Leittersdorf als Pheres, Admetos' Vater, ist aus Altersgründen in erster Linie dazu ausersehen, aber er weiß sich der Zumutung so einfallsreich wie dezidiert zu entziehen, und als Admetos (Pascal Lalo) bös zusammengeschlagen wird, ist die Sache klar: Alkestis' Opfer wird angenommen. Traurig verabschiedet sie sich von ihrem blinden Kind (Tina Schai), vom Personal und vom Bühnentechniker, der links außen vor seinem Laptop sitzt.

Bei Euripides wandelt sich das Stück in eine Komödie, als Herakles die Tote dem Gatten zurückbringt. Nicht so in der Fassung von Petras und Kastenmüller, wo die Rückkehr der verschleierten Toten einfach nur signalisiert, dass nun wohl das spießbürgerliche Leben wie bisher weitergehen wird. Belustigend ist einzig der Auftritt von Herakles alias Michael Neuenschwander selbst, der seine Kraft und Virilität in lächerlich verrenkten Posen und mit Tulpen in der Unterhose mit wenig Erfolg an der hauseigenen Kellnerin (Nicole Coulibaly) ausprobiert.

Zum Schluss Massenszenen

Der dritte Teil des mit viel schriller Rockmusik ausgemalten Abends bricht dann die konventionelle Bühne auf und führt auf einem quer in den Zuschauerraum hineinragenden Laufsteg mit einer Unzahl jugendlicher Statisten Szenen vom Auszug und von der Wiederkehr der Athener aus der Schlacht mit den Argonauten vor. Auch hier soll wieder jemand für die anderen sterben, und wieder ist es nicht der alte Mann und Freund des Herakles, Iolaos, auf markante und magistrale Weise gespielt von Urs Bihler, sondern Makarena, die Tochter des Herakles, die ihr junges Leben für die Rettung der andern opfern wird.

Eindrucksvoll sind in diesem kurzen dritten Teil auch Hanna Eichel als kriegslüsterner Herold, Benjamin Kempf als besonnen-vernünftiger Königssohn und vor allem Barbara Lotzmann als Alkmene, deren Rachelust am Ende keine Satisfaktion erhält, und die den Abend mit einem zornig-verhaltenen "Machts gut, ich muss jetzt gehn" beschließt.

Irgendwo dazwischen

Die Inszenierung spielt die provokantesten Aktualisierungen der Vorlage etwas herunter und versucht mit Armin Petras' vielfach nicht über jeden Zweifel erhabenen Versen zum Teil in rezitierender, pathetischer Form und mit Sprechchören eine antike Tragödie zu kreieren, zum Teil karikiert sie das Genre aber auch wieder und peppt das Ganze mit Einfällen und schrägen Verballhornungen zu einem bis auf gewisse Längen im Mittelteil höchst unterhaltsamen Ganzen auf.

Dass all das eine Satire auf eine Zeit ohne Helden sein soll und die antiken Figuren zu durchaus heutigen Menschen mutiert sind, die ihre Gebete im Teletext suchen, kann durchaus zur Kenntnis genommen werden, wirkt aber nicht wirklich überzeugend. Nicht, weil es noch kaum je so viele Menschen gab, die für andere zu sterben bereit sind, wie heute, sondern weil Petras' Figuren mit ihren seltsam stilisierten Versen weder Menschen von heute noch jene Gestalten von Sophokles und Euripides sind, die mit ihren Dialogen zweitausend Jahre Theatergeschichte antizipiert haben.

 

Herakles-Trilogie (UA)
(Herakles Tod, Alkestis mon amour, Herakles Kinder)
von Armin Petras nach Euripides und Sophokles Regie: Peter Kastenmüller, Bühne und Kostüme: Daniela Selig, Musik: Malte Preuss, Dramaturgie: Martina Grohmann.
Mit: Michael Neuenschwander, Benjamin Kempf, Florin Müller-Morungen, Katka Kurze, Vera Rüegger, Hanna Eichel, Inga Eickemeier, Pascal Lalo, Vincent Leittersdorf, Nicole Coulibaly, Tina Schai, Urs Bihler, Barbara Lotzmann.

www.theater-basel.de


Mehr zu Peter Kastenmüller: Wir besprachen Schwarz Gold Rot, eine Deutschland-Trilogie, die er im Februar 2009 in Frankfurt inszeniert hat, und Illegal, ein Projekt über Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung im Juni 2008 in München.

 

Kritikenrundschau

"Weder Kastenmüller noch Petras haben die geringste Scheu, dem vorherrschenden hohen Ton Blödsinn oder Plattitüden gegenüberzustellen", so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (21.4.2010). Ein Umstand, "der immer wieder Anflüge von Ratlosigkeit, aber auch große Fröhlichkeit erzeuge". Kastenmüller mache unangestrengtes, oft sehr schönes Schauspielertheater, zaubere mit Tina Schai eine einzigartig berührende Erscheinung als blinde Tochter der Eheleute auf die Bühne. Petras' "Herakles-Trilogie" ist keine durchgängige Erzählung, sondern eine Motiv-Sammlung zum Wesen des Helden an sich. "Daraus formt Peter Kastenmüller voller Lust einen flotten, drei Stunden kurzen, in sich ziemlich heterogenen Abend, der dem Misstrauen gegenüber dem Helden wenig Neues beigibt, aber das, was man schon weiß, munter auffrischt."

Peter Kastenmüller, dem in der vergangenen Saison mit Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" ein grandioses Highlight gelungen sei, bekomme diesen Herakles-Stoff nun nicht in den Griff, schreibt Alfred Schlienger für die Neue Zürcher Zeitung (17.4. 2010). Denn die "dramatischen Vorgänge" dieses Abends, für den Fritz Kater alias Armin Petras drei antike Tragödien miteinander kombinierte, versinken aus Kritikersicht "in weitgehender Unverständlichkeit". Am nachvollziehbarsten findet Schlienger noch Teil eins, wo es, schreibt der Kritiker, um "die Verschränkung der alten, existenziellen Mythen mit den heutigen, individualisierten und sozialpsychologisch aufgefächerten Lebenswirklichkeiten" geht. Allerdings hat dieser Blick auf den Stoff für ihn keinen wirklichen Mehrwert. Es stört ihn auch, dass insgesamt in dieser Aufführung eine seltsame wie unreflektierte Sehnsucht nach einem Helden mitschwingt, der bereit ist, für eine Sache zu sterben. Gegenüber diesem Sehnsuchtsbild kann die Heraklesfigur dieses Abends, die der Kritiker als "selbstverliebten, sexbesessenen Ekel-Prolo, der sich die Bierdosen in die Unterhosen stopft" beschreibt, nur alt aussehen.

Mit rohem Humor holt Peter Kastenmüller aus Sicht von Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.4.2010) drei Stücke nach Sophokles und Euripides in eine "altrömisch dekadente Gegenwart: Das Versmaß ist klassisch, die Kulisse ein Einfamilienhaus, der Umgangston derb. Die Götter sind tot." "Kastenmeier" bediene sich "bei Splatter- und Sandalenfilmen, Schwarzeneggers Terminator und Fellinis großem Zampano", lasse Donner und Blitz krachen, Kunstnebel, Videos und offenes Gedärm wabern, "und wenn er nicht mehr weiterweiß, gibt es immer noch ein Liedchen und sinnfreie Gags." Wie Herakles hält dieser Regisseur schwitzende Action, Kraftmeierei und Gitarrenriffs schon für "Schwerarbeit am Mythos". Doch wirkt diese "antike Tragödie ohne Götter, Schicksal und Fallhöhe" wie "Herkules ohne Keule" auf den Kritiker.

Für Cornelie Ueding bleiben im Deutschlandfunk (16. 04. 2010) in dem Baseler Aktionsgetümmel die Figuren "so farblos wie ihre Probleme". Sprachregie sei Fehlanzeige: "was nicht gebrüllt wird, wird aufgesagt. Wäre Intensität in Dezibel messbar, diese Trilogie des Nicht-Wiedererkennens wäre einer der intensivsten Theaterabende überhaupt." Armin Petras habe sich als Autor der Aktualisierung antiker Stücke angenommen und dabei "schon serienweise Mythen postmodern verhackstückt und wieder zusammengesetzt, wie das seit Heiner Müller in Mode gekommen ist - wir sehen also so was wie Sophokles und Euripides nach Petras." Teil zwei des Problems sieht die Kritikerin in der Regie Peter Kastenmüllers, die keine Zwischentöne kennt. "Das erspart dem Publikum das Wechselbad der Gefühle, nicht aber die schleichende Langeweile. Insgesamt sei eher "Klimbim" als Mythos, was da in Basel auf der Bühne zu sehen sei. Einzige Leitline für die Kritikerin, dass "kritisches Nachdenken nicht gefragt ist".

 

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