Hämmern auf Höhe des Herzens

von Stefan Bläske

Wien, 2. Juni 2010. Niemand muss hier einsam sein. Niemand allein aufwachen. Ein Mann erwacht in einer großen Wanne, von warmem Wasser umspült, ihm gegenüber zwei nackte Frauen. Ein anderer erwacht im weißen Bett, nackt, eine junge hübsche Krankenschwester legt ihre warmen Finger erst an sein Gelenk (zum Pulsfühlen), später an sein Glied (...). Eine Frau erwacht, nackt, an ihren Rücken schmiegt sich sanft ein braungebrannter, muskulöser Mann mit blauen Augen.

Eis mit Stil

So hüllenlos ist das Erwachen im Rehazentrum der "Zum Leben Erwachten". So schamlos bedient Vladimir Sorokin (und der Schreiberling dieser Kritik) Heterosexuellenphantasien, um in seine Romanwelt einzuführen. Sex sells. Aber den Nackedeis geht es gar nicht um die Zärtlichkeit der Körper, sondern um die der Herzen. Brust soll an Brust gedrückt werden, um ein Gefühl des Glücks und der Geborgenheit zu erzeugen. Dieser zarten Herzenssprache jedoch geht eine brutale voraus. "Lass Dein Herz sprechen!", schreien die Männer, während sie einer gefesselten Person mit Wucht auf den Brustkorb schlagen: Der Hammer ist schwer, sein Stiel aus Holz, sein Kopf aus Eis. Es birst das Eis, es spritzt das Blut, und manch Entführter stirbt dabei.

© Eszter Gordon
© Eszter Gordon

Gerettet ist, wessen Herz zu fiepen beginnt. Die gleichsam auf Herz und Niere Abgeklopften werden in die Gemeinschaft der Licht- und Leichtgläubigen aufgenommen, die sich natürlich nicht als Sekte bezeichnet. "Wir sind freie Menschen. Zum Leben erwacht. Geburt heißt nun mal Schmerz." Diese Re-Naissance in Schmerz und Zärtlichkeit, diese Kombination aus Eishammer und Herzenswärme ist die "unerhörte Begebenheit" in Sorokins Sex-and-Crime-Novelle.

Sehnsuchts-Stillungsversuche

Hinsichtlich dieses Transformationsprozesses mit seiner körperlichen Gewalt und seelischen Zerrüttung bleibt die Inszenierung von Kornél Mundruczó zunächst hinter der Phantasiebeflügelung durch Sorokins Vorlage zurück. Das Eishammerklopfen und auch das ekstatische, körperdurchzuckende, bebenmachende Sprechen der Herzen wirken in diesem Versuch des pseudo-realistischen Inszenierens nach Vorlage eher bemüht als berührend. Aber je weiter die Inszenierung voranschreitet, desto theatralischere, abstraktere, poetischere Bilder findet die ungarische Theatergruppe für ihre Romanadaption, und desto deutlicher wird, dass es in dieser Inszenierung nicht um die Transformationen geht, sondern um verschiedene Aggregatzustände.

Der erste Teil der Inszenierung konfrontiert uns mit einer häuslichen Welt: eine Küche mit Kacheln, ein Wohnzimmer, darüber ein Badezimmer, alles ein bisschen billig, veraltet, verbraucht. Drei der zum Leben Erweckten leben hier noch ihr altes Leben: Ein einsamer Geschäftsmann, eine Prostituierte mit erbarmungslosem Zuhälter, ein Jugendlicher mit rechtsradikalen Kumpels. Ihr Leben ist voll Sex and Drugs and Rock and Pop, aber ohne wirkliche Freunde und Nähe. Die Menschen reden aneinander vorbei und ficken ineinander hinein. Sie bleiben unbefriedigt und einsam.

Dann wechseln Bäume die Seite

Indem Kornél Mundruczó große Teile seiner Inszenierung so sehr auf das Körperliche und das Oberflächliche reduziert und die ohnehin seltenen Tiefgänge, Träume und Tränen der Figuren besonders gerne streicht, erzeugt er jene Sehnsucht, jenes Gefühl eines Ungenügens, das auch die Figuren antreibt. Die Figuren werden von dem Dutzend Darsteller mit großem schauspielerischem Können, meist ganz ernst, manchmal klischierend komödiantisch vorgestellt, stets jedenfalls mit vollem und barem Körpereinsatz.

Je länger an diesem Unsittengemälde gewerkelt wird, desto eher ist man geneigt, die Herzenshämmerer als das kleinere Übel, als möglichen Ausweg zu begreifen. Aber dieser Gedankengang wird im zweiten Teil der Inszenierung schnell wieder verbaut. Die Verhältnisse haben sich umgekehrt, wir Zuschauer nehmen nun in der Häuslichkeit Platz, und wo wir vorher saßen, wächst ein immergrüner Wald. Friedliche Natur, Friedhofsbäumchen, tannen- oder buchsbaumgrün, niedrig, pyramidenspitz, dazwischen sitzen zwölf Figuren in blau-weißen Matrosenanzügen.

Eine Gemeinschaft, eins geworden untereinander und mit der Natur, festgewurzelt in der Erden. Während wir erfahren, dass die Sektierer glauben, weltenschöpfende Lichtstrahlen gewesen zu sein und wieder zu werden, bietet uns Kornél Mundruczó eine erschreckend schöne Choreographie des Lichts, Scheinwerferspots spielen Bäumchen- und Matröschen-Wechsel-Dich. Die Selektierenden erzählen die Geschichte ihrer Ideologie, spannen Bögen von der Nazizeit bis ins heutige Russland. Nationalsozialistische, kommunistische und religiöse Einheits- und Erlösungsphantasien verschmelzen auf beklemmende Weise. Zur pathetischen, immer lauter werdenden Schostakowitsch-Symphonie und mit gen Himmel ausgebreiteten Armen erwarten die Möchtegernleuchtenden ihre Erlösung.

Von allen Ideologien missbraucht

So treibt Mundruczó zum Abschluss auch den zweiten Teil - wie schon den ersten Teil mit den im Dunklen kopulierenden Körpern - in die Überspitzung, in die große Pose und erzeugt damit, wie häufig im Laufe dieser dreieinhalbstündigen Inszenierung, starke, sich in die Netzhaut brennende Bilder, schauerlich-schön manchmal, und zumeist abgründig. Ein bisschen freilich erinnert diese visuelle Überdeutlichkeit auch an die Holzhammermethode der zum Leben Erwachten.

Inhaltlich ist in dieser visuellen und akustischen Aufrüstung die Botschaft längst klar: Weder Sex allein noch Sekten können Antwort sein auf unsere so tief sitzende Sehnsucht nach Wärme, Nähe, Geborgenheit, die freilich nicht nur von Sekten, sondern auch von politischen Systemen und - so der Clou am Ende - natürlich auch von der kapitalistischen Markt- und Werbewirtschaft für ihre Zwecke benutzt wird. Vielleicht sollte man das also alles etwas entspannter sehen und am Ende mit einstimmen, wenn die Darsteller singen: "It's strange what desire will make foolish people do."


 

A jég - Ljod. Das Eis
von Vladimir Sorokin, adaptiert von Viktória Petrányi und Kornél Mundruczó, ins Ungarische übersetzt von László Bratka
Regie: Kornél Mundruczó, Bühne und Kostüme: Márton Ágh.
Mit: Gergely Bánki, Eszter Csákányi, Rudolf Frecska, József Gyabronka, Frigyes Hollósi, László Katona, Attila László, Piroska Mészáros, Zoltán Mucsi, Bori Péterfy, Roland Rába, Peter Scherer, Orsolya Tóth.

www.festwochen.at

 

Mehr zu Kornél Mundruczó: Am Thalia Theater Hamburg inszenierte er im September 2009 im Rahmen der Spielzeiteröffnungspremieren unter dem neuen Intendanten Joachim Lux das Judasevangelium. Und Yvette Birós und Kornél Mundruczós Frankenstein-Projekt war 2008 bei der Wiesbadener Bienale "Neue Stücke aus Europa" zu sehen.

 

Kritikenrundschau

Man dürfte nicht übertreiben, wenn man sagt, dass Norbert Mayer von der Presse (4.6.2010) die ungarische Aufführung von "Das Eis" nicht gefallen hat: "die Inszenierung war an sich überheblich und dumm, mit dem Holzhammer herausgearbeitet, es wurde streckenweise wirklich schlecht gespielt, und es gab gehäuft schlechten Sex. Kann ja mal vorkommen. Das Schlimmste aber: Nach einer halben von dreieinhalb Stunden wurde diese Aufführung fade und blieb zwei Stunden belanglos, um nach der Pause im Dilettantismus zu verröcheln." Kornél Mundruczó habe den Witz der Vorlage Sorokins "erschlagen, ein Stück montiert, das bis auf wenige Szenen an peinlichste Momente des engagierten westlichen Theaters der frühen Siebzigerjahre erinnert, eine abgelutschte Rammelei mit aufgesetzter Gesellschaftskritik, im besten Falle vielleicht eine abgelutschte Gesellschaftskritik mit aufgesetzter Rammelei."

Vladimir Sorokins "Ljod. Das Eis" reihe sich "nahtlos ein in die Reihe großer russischer Utopien, die von der Rolle einer geläuterten Menschheit handeln", schreibt Ronald Pohl im Standard (4.6.2010). Der Roman ermögliche "in der Bühnenadaption des ungarischen Regie-Desperados Kornél Mundruczó aber vor allem eine Achterbahnfahrt durch das finstere Herz des Neokapitalismus." Mundruczós "halsbrecherische Kollektivübung - eine durch und durch famose Arbeit -" konzentriere "das Elend der unteren Einkommensklassen in den Schattenzonen der Freizeitgesellschaft. Nackte Enthemmte turnen überschnappend durch einen Alltag, in dem das Vögeln für die Unschuld der wahren Ekstase einstehen soll. Nur ist das Erlebnis der Entgrenzung für die Deklassierten einfach nicht mehr vorgesehen." Mundruczós bedrückender Albtraum rühre "an die Wurzeln des Totalitarismus. Er zeigt aber vor allem vitalstes Theater, dessen Beteiligte sich auch von Stromausfällen nicht ins Bockshorn jagen ließen - sondern ihre entgrenzte Gymnastik bei Bedarf gerne wiederholten."

 

Kommentare  
Das Eis in Wien: beeindruckend
Extrem physisches, musikalisches, sinnliches Theater - umgesetzt von wirklich beeindruckenden Schauspielerinnen und Schauspielern, in einer Natürlichkeit, Kraft, einer Genauigkeit und einem Spielwitz, der mich umgeworfen hat. Für mich eines der Highlights der diesjährigen Festwochen!
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