Das Gerippe unseres Traumes

von Regine Müller

Bochum, 2. Juni 2010. Ziemlich grob ist das Bergpanorama gezeichnet, das einen grandiosen Ausblick andeuten könnte. Denn in Wahrheit ist es nur die unwegsame und triste Umgebung der steinigen Farm in Connecticut, die Phil Hogan und seine Tochter Josie mehr schlecht als recht bewirtschaften. Es kommt nichts dabei rum, außerdem ist die Farm nur gepachtet und die Pacht schon lange im Rückstand. Mit pinkfarbener Sprühfarbe werden daher eifrig Sterne auf die kargen Prospekte gesprüht, bevor es losgeht. Dann setzt Phil sich und klampft langsam: "I will go down with this ship and I won't put my hands up and surrender". Weltuntergangsstimmung gepaart mit trotzigem Stolz: Die traurigen Reste des amerikanischen Traums.

Ein Drama kehrt zurück

Eugene O'Neills lange in der Versenkung verschwundener "Mond für die Beladenen" erfreut sich neuerdings wieder gesteigerter Aufmerksamkeit. Das pessimistische, im Kriegsjahr 1943 entstandene, 1947 uraufgeführte Kammerspiel, das von materieller Verelendung, Isolation, emotionaler Verrohung und allgegenwärtigem Alkoholismus erzählt, scheint in der Krisen-Realität der Hartz-IV-Gesellschaft wieder aktuell. Zumal mit dem reichen Nachbarn Harder, der die Farm kaufen will, sogar ein Bilderbuch-Kapitalist vorkommt, der sein Geld ausgerechnet mit Öl gemacht hat.

Diese Geschichte wäre allerdings schnell erzählt. Doch bei O'Neill geht es vor allem um Korrumpierbarkeit und unmögliche und dennoch treue Liebe zwischen Versehrten. Die dann sogar noch im Scheitern stärker ist als die Macht des Kapitals. Denn der versoffene Eigentümersohn James, der mit dem potentiellen Käufer Harder zwar verhandelt, verkauft die Farm schließlich doch nicht, obwohl Josie sich ihm doch auf Befehl des Vaters so kalkuliert an den Hals geworfen hat in einer alkoholreichen Mondnacht und nichts ging zwischen den sich eigentlich Liebenden.

Konfetti-Klassenkampf

Doch Regisseur Armin Petras traut dem Happyend-Braten nicht. Am Schluss wechselt ein dickes Geldbündel den Besitzer, Harder kräht albern: "Es herrscht Klassenkampf und meine Klasse gewinnt" und zündet eine Konfettibombe. Dann wird das Holzgerippe eines Fertighäuschens hereingeschleppt und über Vater und Tochter gestülpt, die darin regungslos hocken bleiben. Eine Notunterkunft? Oder ein schmuckes neues Häuschen auf der karstigen Farm?

Petras hat O'Neills Text sanft gestrafft und handelt die Kapitalismuskritik eher beiläufig, ja boulevardesk ab. Harder (Alexander Maria Schmidt) tritt mit Zauberhut und Heuschreckenpulli auf und versucht sich in holprigen Kunststückchen, Thomas Anzenhofer gibt den Gewohnheitstrinker Vater Phil als hölzernen Stoiker, dem längst alles egal ist. Petras konzentriert sich auf das vergebliche Liebespaar, das er sorgsam, freilich etwas holzschnittartig choreographiert.

Versehrte Liebende

Anja Schneider tritt als Josie mit Fetthaar, pludriger Karottenjeans und Karohemd als schüchtern Verhaltensgestörte auf und reckt kindlich die Unterlippe vor, wenn sie ihre Derbheiten heraus würgt. Dann wandelt sie sich langsam zum Provinz-Schwan, stöckelt auf hohen Absätzen mit wehendem Taftrock in die besagte Mondnacht und löst ihr Rapunzelhaar.

Christian Kuchenbuch ist ein zunächst grölender Suff-Randalierer, legt aber auf dem Weg zum nächtlichen Stelldichein einen erstaunlich behenden Balanceakt auf Longdrinkgläsern hin. Und gewinnt zusehends Tiefenschärfe als übrig gebliebenes Muttersöhnchen, den seine Bordellnächte in der Stadt anöden und der von Josie Mütterlichkeit ersehnt. Zum hilflosen Liebesgeständnis stehen beide schließlich unendlich weit voneinander entfernt auf zwei Sockeln, die sie sich selbst aus den auf dem Boden liegenden Sperrholzquadraten getürmt haben. Ein schönes, einsames Bild.

Dennoch: Ein bisschen schal schmeckt O'Neills Kammer-Drama inzwischen schon.
Großer Applaus, Bravi für das ganze Team, insbesondere für das vergebliche Liebespaar.

 


Ein Mond für die Beladenen
von Eugene O'Neill
Regie: Armin Petras, Bühne: Patricia Talacko, Armin Petras, Licht: Martin Gehrke, Dramaturgie: Holger Weimar, Carmen Wolfram.
Mit: Anja Schneider, Thomas Anzenhofer, Christian Kuchenbuch, Alexander Maria Schmidt.

www.schauspielhausbochum.de

Mehr zu Armin Petras finden Sie im Glossar.

 

Kritikenrundschau

Ein "Abziehbild", "die kleinbürgerliche Karikatur einer Marlboro-Reklame" sieht Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.06.2010) zunächst in Petras’ Inszenierung. "Die Sozialkritik wird plakativ abgetan (und ins Programmheft abgeschoben). Was Petras interessiert, ist die Liebesgeschichte, deren Unmöglichkeit er nachspürt: Je mehr sich Jim und Josie einander öffnen, desto weiter treiben sie auseinander." Und hier gerät Rossmann ins Schwärmen, vor allem über Anja Schneider: "Als unscheinbare, linkische junge Frau, die ihre Sexualität gleichsam von sich abgespalten hat, tritt Josie hier auf, wächst aber mit der Bereitschaft, ihre Liebe zu erklären, über sich hinaus: Aus den Flip-Flops steigt sie in hochhackige Schuhe, aus dem verklemmten Landei wird eine elegante Lady, aus dem Cowgirl eine Frau, die dann doch wie ein Callgirl behandelt wird. Denn erst als eine Flasche Whisky nach der anderen über ihr ausgekippt wird, findet Jim zu einer besonderen Zärtlichkeit. Doch nicht sie ist gemeint, sondern das, was er von ihr abschleckt. Das Liebesgerangel kippt um, halb entblößt und die Leggings zerrissen, entgeht Josie nur knapp der Vergewaltigung. Ein Wrack ihrer Träume." Und: "Wie Anja Schneider diesen großen Bogen mit vielen Facetten und Irritationen ausschreitet, geht an die Grenzen ...".

"Alles an diesem Abend im Schauspielhaus Bochum ist überdeutlich, fast karikierend in seiner Unmissverständlichkeit", schreibt auch Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (5.06.2010). Im Vergleich mit seiner erst kürzlich entstandenen Inszenierung "We Are Blood“ am eigenen Haus wirke "Ein Mond für die Beladenen" "sowohl inszenatorisch als auch denkerisch regelrecht hingeschludert." Nur die Schauspieler können manche Momente retten: "Wenn Kuchenbuch und Schneider auf Podestchen kippeln und einander ihren Mondscheintraum von der Liebe vorspielen, wenn sie mit dem Schicksal flunkern und sich das Glück vom Himmel herunterversprechen, leuchten kurz, sehr kurz Figuren auf, die mehr als Behauptung und Oberfläche sind."

Zu Petras' Inszenierung äußert sich Ronny von Wangenheim in den RuhrNachrichten (4.6.2010) kaum. Dafür ist er von Anja Schneider hingerissen: "Am Ende ist der Applaus groß für die vier Schauspieler. Wobei für das Bochumer Publikum vor allem Anja Schneider eine Entdeckung ist. Wie die Schauspielerin des Maxim Gorki Theaters sich wandelt von dem verhaltensauffälligen, zwanghaft handelnden und die Unterlippe vorschiebenden Mädchen mit Gummizugjeans und Holzfällerhemd zur Frau mit Glitzerpulli und High Heels, die sich auch im Scheitern ihrer Stärke bewusst ist, ist beeindruckend."


Kommentare  
Mond für die Beladenen: wandlungsfähige Anja Schneider
Anja Schneider erhält übrigens den Theaterpreis des Vereins der Freunde des Maxim Gorki Theaters Berlin, das sollte man ruhig mal hier erwähnen, wenn der auch nicht mit Unsummen dotiert ist. Sie ist eine der lebendigsten Bühnenschauspielerinnen der Stadt. Mich beeindruckt immer wieder ihre unglaubliche Wandlungsfähigkeit gerade in Mimik und Gestik. Sie kann eine riesige Bandbreite an gelungenen Rollen aufweisen, vom Dani in "Als wir träumten" von Clemens Meyer, über Ibsens "Frau vom Meer" bis zur "Antigonae" des Hölderlin.
Mond für die Beladenen: ganz großes Regiehandwerk
Leider ist diese Kritik von Frau Müller deutlich unter dem Niveau, das ich von Nachtkritik gewöhnt bin. Gleich zu Beginn ein Fehler: Es handelt sich nicht um Sprühfarbe, sondern um Kreide und Stifte. Wenn schon die Beobachtungsgabe der Kritikerin so getrübt ist, wundert auch nicht, dass sie in ihrem Urteil merkwürdig trüb ist. An vielen Stellen (schon in der Überschrift) klingt der Text, als liefe er auf einen Verriss hinaus, aber dann scheint es doch einigermaßen gefallen zu haben. Um das hier mal gerade zu rücken: Die Produktion gehört mit Sicherheit zum Besten, was in den letzten fünf Jahren in Bochum zu sehen war. Die anfänglich überdeutliche Holzschnittartigkeit schafft die Basis, um den Kern des Stückes (die Liebesnacht) erst richtig strahlen zu lassen. Was Anja Schneider an diesem Abend zeigt, liegt weit über dem, was man selbst von herausragenden Schauspielerinnen erwarten kann. Und wie spielerisch und zugleich eloquent Petras hier aktuelle Kapitalismuskritik integriert ist ganz großes Regiehandwerk. Chapeau!

(Anm. der Red.: Die Überschriften hat die Redaktion zu verantworten, nicht die Autorin. wb)
Mond für die Beladenen: merkwürdig
Ich stimme dem vorherigen Kommentar zu und frage mich zusätzlich, wie es sein kann, dass die Überschrift von jemandem kommt, der den Text nicht verfasst hat. Merkwürdig!

(Lieber Christian,
jeder Post geht durch die Hände der Redaktion und erhält eine Überschrift, die in der ersten Hälfte auf das Thema verweist und in der zweiten auf den Inhalt des Beitrags. Dass wir damit neben der Aussageintention des Verfassers liegen, kann schon mal vorkommen, entspringt aber keiner bösen Absicht. Autoren journalistischer Texte ergeht es nicht anders.
Mit freundlichen Grüßen
Georg Kasch aus der Redaktion)
Mond für die Beladenen: welche Probleme?
Ich verstehe gar nicht, welche Probleme 2. und 3. mit der Überschrift haben? Von einem Gerippe ist im Text die Rede (das eines Hauses) von einem Geplatzten Traum auch (der amerikanische nämlich). Zusammensetzen konnte ich Traum und Gerippe ganz gut. Merkwürdig.
Ein Mond für die Beladenen in Bochum: stark
hab erst jetzt das Stück gesehen. am Denstag, 15. Juni. Keine Ahnung, wie oft das Stück nun in Berlin oder Bochum gezeigt wurde. die bude (kammerspiele) war voll (75 prozent waren über 60). alle waren begeistert. der abend dauerte 1,5 Stunden ohne pause. Und ich mochte die Herangehensweise von Petras an das Stück sehr. die schauerspieler waren wundervoll. Schöner Abend. aber auch stark.
Ein Mond für die Beladenen in Bochum: Anja Schneider ganz groß
Nicht viel, nur das: Ganz ganz groß, Frau Schneider, ganz ganz groß.
Ein Mond für die Beladenen in Bochum: mehr Anja Schneider!
Da kommt eine Schauspielerin für eine Gemeinschaftsproduktion (Gorki-Theater-BO Schauspielhaus) an die Königsallee und legt eine so grandiose Leistung auf die Bretter,wie man es in den letzten fünf Jahren hier im Damenensemble nicht zu sehen bekam.Leider gehörte sie nicht zum Goerden-Ensemble,leider bleibt sie auch nicht bei Anselm Weber. Schade! Man könnte nach ihr süchtig werden.
Ein Mond für die Beladenen in Bochum: das war Maxim Gorki Theater
Die Begeisterung für die wirklich beeindruckende Leistung von Anja Schneider zeigt doch einmal mehr, wie ausgeprägt die Identitätskrise in Bochum ist. Ja, daß war ganz unzweifelhaft Maxim Gorki Theater. Aber wofür steht Bochum?
Mond für die Beladenen, Berlin: Versuch der Liebeserklärung
Irgendwann während dieser gut 90 Minuten stehen Anja Schneider und Christian Kuchenbuch auf Stapeln von Sperrhulz-Quadraten, die zuvor die Bühne bedeckt hatten, und tasten sich unsicher an eine Liebeserklärung heran. Halb gelingt sie, halb bleibt sie im Versuch stecken, endet sie im Frage-, nicht im Ausrufezeichen. Es ist der vielleicht einzige Moment wirklicher Nähe, den O'Neill seinem düsteren Stück über Armut und Alkoholismus, vor allem aber über verletzte, seelisch versehrte und verkrüppelte Charaktere erlaubt. In Armin Petras Inszenierung ist dies die einzige Szene, die keine physische Nähe zulässt, ein Zusammensein unmöglich macht. Bei O'Neill wie bei Petras ist den Lebens- und Liebessuchenden von Beginn an der Misserfolg gewiss - es gibt nur, so heißt es schon zu Beginn, diese einzige mondklare Nacht, mehr ist es nicht, das sie teilen können. In dieser kurzen Nähe ist ihre Unmöglichkeit bereits präsent. Ein einfaches Bild - und doch ein äußerst eindringliches.

Leider bleibt es dabei, handelt Petras den Rest des Stücks doch eher holzschnittartig ab. So blendet er den politsischen Unterbau fast komplett aus, ein paar Sentenzen zum Klassenkampf sorgen eher für Belastigung. Es geht hier weniger wie bei O'Neill um den Einbruch existenzieller Ängste in die Privatheit, um tragische Interferenzen beider Sphären - der drohende Verlust der Familienfarm ist hier eher Beiwerk, das der Geschichte der nicht Zueinander-Finden-Könnenden etwas Würze verleiht. Und so irrt Thomas Azenhofer als Vater etwas verloren durch die Szenerie, spielt ein paar Lieder auf der Gitarre, ist aber eher schmückendes Beiwerk. Jim und Josies Geschichte steht im Mittelpunkt, alles andere ist Begleitrauschen.

Das mag als Konzentration aufs Wesentliche gemeint sein, nimmt dem Stück aber viel von seiner Kraft. Denn es ist eben nicht nur eine unmögliche Liebesgeschichte, es ist auch ein Kampf der großen Gegensätze - arm und reich, korrupt und ehrlich, mächtig und machtlos. All dies geht über weite Strecken unter, ebenso wie Jims persönliche Traumata. Der "wandelnde Tote", als der er bei O'Neill erscheint, ist er hier nicht, dazu ist er zu sehr Karikatur.

Und doch driftet er Abend nie ganz in Langeweile und völlige Belanglosigkeit ab - und das verdankt er Anja Schneider. Wie sie vom grenzdebilen groben Bauerntrampel zur desillusionierten Pragmatikerin wird, wie sie zwischen Verzweiflung und Hoffnung wechselt und sich am Ende der Wahrheit stellt, ohne Beschönigung, ohne sich ihr zu entziehen, ist faszinierend zu beobachten. In seinen besten Momenten ist Petras O'Neill spannendes Schauspielertheater. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

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