Wo nur Frauen Löwen austricksen

von Dorothea Marcus

Mülheim, 16. September 2007. Wer kennt schon Mali. Ein Land im Herzen der Sahara, einer der ärmsten und ältesten, aber demokratischsten Staaten Afrikas. Und – man ist tatsächlich schon so weit, das automatisch als Widerspruch zu vermuten – zu 90 Prozent islamisch. Eine subventionierte Theaterszene gibt es in Mali nicht. Das Nationaltheater bestehe aus zehn frühverrenteten Schauspielern, sagt Rolf Hemke, Kurator des diesjährigen Festivals "Theaterlandschaft Seidenstraße" im Theater an der Ruhr.

Streng genommen führt die Seidenstraße eigentlich nicht an Mali vorbei. Aber ihren Verlauf manipuliert Roberto Ciulli, Leiter des Theaters an der Ruhr und seit Jahrzehnten politischer Kulturbotschafter auf der sogenannten "Achse des Bösen" zwischen Bagdad, Istanbul und Iran, seit jeher mit einem gewissen Schalk im Nacken. Das malische Nationaltheater, ergänzt der Theaterleiter Yaya Coulibaly auf der Podiumsdiskussion in Mülheim, habe sich außerdem stets bereitwillig in den propagandistischen Dienst von Militärdiktatoren gestellt. Und trotz dieser traurigen Aussagen ist Theater in Mali allgegenwärtig: in Form von Marionetten, der "Seele des Volkes", so Coulibaly. Bereits in vorchristlichen Grabstätten wurden in Mali Puppen aus Ton gefunden.

Puppenspiel als Zivilisationsschule

Der 48-jährige Coulibaly entstammt einer uralten Puppenspielerdynastie. Heute leitet er das berühmteste Puppentheater des Landes, Sogolon, als Familienunternehmen. Aber er ist auch Professor und Schriftsteller, der an der Pariser Sorbonne Anthropologie studiert hat. Er wird im nächsten Jahr in Nizza eine Oper mit Jugendlichen und 1.000 Puppen inszenieren und hat auch schon mit der berühmten Hand Spring Puppet Company aus Südafrika gearbeitet.

In seinem Haus in Bamako, das auch als Theater genutzt wird, befinden sich rund 25.000 Puppen, die teilweise über 100 Jahre alt sind. "Die Marionetten", sagt er, "machen Mali zum tolerantesten und säkularsten Volk der Welt". In einem Land, in dem 81 Prozent Analphabeten sind, sei der Bau und das Spiel mit Puppen eine entscheidende soziale Lebens- und Zivilisationsschule. Und zudem ein religiöses Kultinstrument des in Mali weit verbreiteten Animismus. In jedem Dorf gibt es mindestens eine Puppenspielergruppe, die auf Plätzen und in Schulen, aber vor allen Dingen in den französischen Kulturzentren spielen. Von denen gibt es viele, Mali war bis 1960 französische Kolonie.

Sogolon heißt "Mutter des Königs". Das ist eine historische Referenz an die Gründer des einst mächtigen Königreichs Mali und bezieht sich zugleich auf ein Instrument, das die "Stimmen der Ahnen" überträgt. Ohnehin merkt man jeder Inszenierung von Sogolon an, dass dem Theater magische Kräfte zugesprochen werden und es einem religiösen Ritus gleicht.

Vor jeder Inszenierung nimmt Coulibaly einen mit Muscheln besetzten Gürtel, das Amulett, und spricht ein Gebet: möge das Theater alle Menschen in Frieden versammeln. Dann wird es in einen der beiden echten Bäume gehängt, die das vordergründige Bühnenbild bilden. Auch das hintere Bild bleibt in allen drei Aufführungen, die in Mülheim an der Ruhr zu sehen sind, gleich: ein schöner bunter Teppich hängt an der Wand, davor eine mit Tüchern und Decken behängte Marionettenbühne, an der die Puppen hängen, die eben im Einsatz waren.

Ökologisch korrekte Tiere

Die Geschichte "Der Jäger und der Löwe" ist eine einfache, alte Fabel: weil eine schöne, ehrgeizige Frau einen repräsentativen Ehemann braucht, soll Koke einen Löwen erlegen, um im Dorf etwas zu gelten. Er legt eine Falle aus, und in der Fußschlinge verfängt sich eine menschengroße Löwenpuppe mit Holzkopf und wallender Mähne. Doch Kokes Berater, eine kleine, bunt gekleidete Hyänenmarionette, ist nicht auf den Kopf gefallen: Wer einen Löwen mit einer Schlinge fängt, sei kein richtiger Mann, verkündet er. Wer würde da nicht bei der Ehre gepackt. Doch natürlich unterliegt Koke im offenen Zweikampf dem Löwen, liegt gefesselt zu seinen Füßen und wird von den Tieren im Busch verspottet und beschimpft.

Eine Marionette nach der anderen tritt heran und spuckt ihre Vorwürfe an den Menschen aus, der Tierarten ausrottet und die Bäume fällt, so dass sich die Wüste immer mehr ausbreitet. Auch die Dorfältesten sind böse, weil Koke ihren Rat nicht beherzigt hat. Unter den Puppen der Dorfbewohner sind Weiße und Schwarze, sie tragen traditionelle bunte Kleidung oder Safari-Look, und rührend sind vor allem die kleinen, lebensechten Plastik- und Turnschuhe an den Füßen.

Kokes Frau, wie Koke von einer echten Schauspielerin gespielt, bleibt nichts anderes übrig als selber einzugreifen: sie bezirzt den Löwen mit einem wackelnden Hinterteil und will genauestens erfahren, wie sich der Fangversuch zugetragen hat. Und weil der Löwe das etwas zu realistisch darstellt, ist er wieder in der Schlinge gelandet – und die Ehe und Ehre im Dorf gerettet. Die Moral von der Geschichte? Frauen haben immer das letzte Wort.

Antilopen und Pferde drehen sich im Kreis

Auch in "Die Taufe des jungen Löwen" und der "Goldenen Kalebasse" geht es um Löwen, um Dorffeste, um Ausgestoßensein aus der Gemeinschaft. Die Elemente ähneln sich: der Beginn jeden Stücks ist eine Art Trommel- und Gesangskonzert, dann folgen rasend schnelle Choreografien, in der sich die Tänzer gegenseitig übertrumpfen. Wenn nach gebührendem Vorlauf die Geschichte beginnt, wechseln sich Menschen und verschiedene Arten von Marionetten in ihren Auftritten ab. Lebensgroß sind Antilopen und Pferde, die sich so schnell im Kreis drehen, dass der Staub aufwirbelt. Die kleinen Marionetten werden von den Spielern, die eben noch im Pferdekostüm steckten, offen über die Bühne geführt, aber es gibt auch Maskenfiguren und Stabpuppen. Dann wird wieder ausgiebig getrommelt, und zum Schluss holt Coulibaly noch diverse Zuschauer zu einem Fruchtbarkeitstanz auf die Bühne.

Das ist wunderschön anzusehen. Aber ist es ketzerisch, zu sagen, dass das häufige Dauertrommeln auch irgendwann nervt, dass die Fabeln für den westlichen Blick vorhersehbar und folkloristisch ungebrochen und dadurch auch gänzlich unpolitisch wirken? Wäre nicht auch denkbar und interessanter gewesen, zu zeigen, wie Ehefrau und Ehemann nach der Löwennummer den Respekt voreinander verlieren und sich langsam voneinander entfremden?

Autonom – und folkloristisch

Doch für solche destruktiven Gedanken ist in dem wunderschönen Marionettentheater von Sogolon kein Platz. Ganz abgesehen von der hervorragenden Qualität bleibt es so doch ein Beispiel dafür, dass Theateraustausch auch an seine Grenzen stößt – ganz anders als etwa der mit dem Iran, wo sich die Theaterszene zu einem philosophisch tiefgründigen, politisch subversiven Ausdrucksmittel entwickelt hat, die westlichen Augen sehr vertraut scheint.

Gewiss ist es politisch wichtig, sich mit der reichen Kulturlandschaft Afrikas auseinanderzusetzen. Zu erfahren, dass die Marionette das kulturelle Fundament Malis seit Jahrtausenden gelegt hat und man bis nach Japan und Südamerika davon beeinflusst wurde. Sich zu vergewissern, dass es kulturelle Welten gibt, die, vom Westen gänzlich unbeeinflusst, autonom und großartig für sich stehen. Doch letztlich kann das Theater Sogolon in Deutschland nur als etwas gänzlich Fremdes staunend bewundert werden.

http://www.theater-an-der-ruhr.de/de/repertoire/2629/detail/

 

 

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