Tödliche Sippentreue, blutiger Untergang

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 26. Juni 2010. Am Ende sind sie alle tot: König Gunther, seine Brüder Gernot und Giselher, der Intrigant Hagen. Wie alle Nibelungen. Opfer von Kriemhilds Rache und der eigenen starren Verhaltensregeln, die zu Gefolgsschaftstreue und hirnfreiem Blutvergießen zwingen. Nein, frei isser nicht, der Germane. Christian Weise hat den Tod der Nibelungen still inszeniert. Ohne Theaterblut und großes Geschrei. Die roten Striche fügen sich die Männer selbst zu: Einmal mit dem Lippenstift über die nackte Brust, dann sinkt man geschmeidig zu Boden. Hagen, den Mörder ihres geliebten Siegfrieds, nimmt sich Kriemhild persönlich vor. Da reicht ein leichter Tritt, und er kippt um. Er will sowieso nicht mehr.

Im Finale seines vierstündigen Nibelungen-Abends mit zwei unterschiedlichen Bearbeitungen des Stoffes hat sich Regisseur Christian Weise "Kriemhilds Rache" aus Friedrich Hebbels dreiteiligem Trauerspiel "Die Nibelungen" vorgeknöpft: stark gekürzt, auf das Wesentliche reduziert. Das zuvor quirlig-klamaukige Geschehen mündet so in ein statisches, leises Ende.

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Siegfried und der Drache © Sonja Rothweiler

Im Sog des Germanen-Mythos

Die Bühne ist jetzt leer, im Hintergrund leuchtet "Rache" an der Wand. Die Protagonisten stehen frontal zum Publikum, in Grüppchen arrangiert, Kriemhild vorn am Mikrophon. Man bewegt sich nur noch wenig: körperlicher Ausdruck für die eigene Unfreiheit, die tödliche Sippentreue, die in den blutigen Untergang führt. Alles konzentriert sich auf die artifizielle Sprache Hebbels, die schnell pathetisch wirken könnte, wenn das Ensemble sie nicht so gekonnt dem natürlichen Sprachfluss anpassen würde.

Kriemhilds Rachemonolog gelingt ohne geifernde Ausbrüche: Lisa Bitter artikuliert ihn beißend gefährlich. Die verbalen Äußerungen der Nibelungen-Männer münden immer wieder in stille Chor-Lieder: etwa "Fremd bin ich eingezogen" aus Schuberts "Winterreise" oder "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten". Im Sog des Germanen-Mythos darf auch die Romantik und ihr Topos vom Wandern nicht fehlen. Hier wie dort bewegt man sich im Kreis, der sich aber nicht wirklich schließen will, sondern in eine Straße mündet, auf der niemand zurückkehrt. Weise überrascht mit diesem Ende.

Mit schwarz-rot-goldener Vuvuzela

Denn davor gab's Klamauk bis zum Abwinken. Vorspiel: Siegfried, ein halbnackter Vollidiot mit Riesenschwert, zerfetzt die Tapetenwand, auf die zuvor ein Maler einen großen Drachen gepinselt hat. Es folgt die Siegfriedgeschichte in der Fassung von Moritz Rinke aus dem Jahr 2002. Siegfried hält am Wormser Hof um Kriemhilds Hand an, muss jedoch zuerst für Gunther die unbesiegbare Brünhild gewinnen. Interessen-Verquickungen führen zur Ermordung Siegfrieds.

Rinkes Deutung ist eine Komödie, auch ein bisschen Rittermusical, und Weise hat ihren Slapstickcharakter noch verschärft. Die Bühne von Jo Schramm verströmt Jagdschloss-Romantik mit Kuckucksuhr, Hirschgeweih und Butzenfenstern. Darin leben und wüten ein Haufen tumber Ritter-Germanen. Kriemhild ist eine pubertäre Göre, die Gunther-Geschwister schauen sich den Mythos in der Glotze an. Siegfried (herrlich: Sebastian Arranz) ist ein spanischer Macho, ein Angeber, der in seiner Komik ein bisschen an Jerry Lewis erinnert. Die Siege der Nibelungen werden mit schwarz-rot-goldener Vuvuzela gefeiert.

Als Brünhilde auftaucht, gibt's Zickenkrieg mit Kriemhild. Während Siegfried und Kriemhild beim Blues knutschen, gerät Brünhilds und Gunthers Tänzchen zum brutalen Ringkampf. Gunther (sehr komisch und akrobatisch: Johannes Benecke) wird von Brünhild (sehr stark: Nadja Stübiger) gar aus dem Fenster geschleudert und landet auf der Hängelampe, von der ihn Hagen (grandios finster und grübelnd: Christoph Gawenda) in einem Zehnminutenslapstick mit allerlei Gerät herunter zu bekommen sucht. Das alles ist oft lustig, läuft sich aber in seiner Albernheit gelegentlich auch tot.

Zerfledderter Mythos

Sinn ergibt sich erst im Zusammenhang, im Kontrast zur finalen Tragödie, in der des Menschen Unfreiheit zelebriert wird. Dann offenbart sich die Komödie als ein anderer Aspekt des Mythos, entlarvt die Lächerlichkeit seiner Figuren, die wie im Comic typenhaft bleiben und sich nicht entwickeln: So wie auch Dagobert Duck immer geizig und gleich alt bleibt, bleibt Hagen intrigant und Gunther schwach. Und wenn sich mal eine verändert, dann allzu abrupt, wie Kriemhild vom lieben Mädchen zum fiesen Racheengel.

Zwischen Komödie und Tragödie tritt der Berliner Kultmoderator Jürgen Kuttner auf, hält einen Vortrag zum Thema Unsinn und Sinn des Mythos: Kuttners assoziative Quasselkanonaden, die alles miteinander verquirlen - den Euro, Stuttgart 21, Afghanistan, die Wende -, kann man nur gefühlsmäßig folgen. Es scheint, als wolle Kuttner mit seiner Rede demonstrieren, wie Mythos in seinen Augen funktioniert: Als Montage von Floskeln, die vordergründig Sinn ergibt, die aber zu Unsinn zerfällt, wenn man sie analysiert.

Es ist am Ende die Mischung, die den Abend lohnend macht, weil er stets fernab von jedem Pathos bleibt, das am Stoff klebt wie ein öliger Film - nicht erst seit Wagners Vertonung. Das "Nibelungenlied" des anonymen mittelalterlichen Dichters ist bedeutende deutschsprachige Literatur, aber "Nationalepos der Deutschen" ist es heute zum Glück nicht mehr. Missverstanden wird es immer noch gerne. In Stuttgart aber fürs Erste wohl nicht mehr.

 

Die Nibelungen
nach Moritz Rinke und Friedrich Hebbel
Regie: Christian Weise, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Musik: Jens Dohle, Dramaturgie: Christian Holtzhauer.
Mit: Lisa Bitter, Nadja Stübiger, Marietta Meguid, Johannes Benecke, Toni Jessen, Lukas Rüppel, Christoph Gawenda, Michael Stiller, Dino Scandariato, Sebastian Arranz, Boris Koneczny, Jens Dohle, Hans-Peter Ockert, David Günther, Kinderstatisterie, Jürgen Kuttner.

www.staatstheater.stuttgart.de

 

Mehr Nibelungen? In Worms schubste John von Düffel den Mythos im Sommer 2009 in den Komödienpfuhl, und zwar für die Nibelungenfestspiele. An der Berliner Schaubühne inszenierte Marius von Mayenburg im September 2009 die düstere Version Friedrich Hebbels. Am Deutschen Theater Berlin zeigte Michael Thalheimer im Frühjahr 2010 Die Nibelungen als deutsches Gegenstück zu seiner Orestie von 2007.

 

Kritikenrundschau

Das Problem der dreiteiligen Stuttgarter "Nibelungen"-Inszenierung von Christian Weise liegt für Roland Müller von der Stuttgarter Zeitung (28.6.2010) nicht "im dramaturgischen Ansatz, sondern in seiner theatralischen Umsetzung: in einer Text- und Stilmontage", die mit ihrer "plakativen Nibelungenparodie unbekömmlich ist, ästhetisch und intellektuell". Die drei Teile erhellten einander nicht, sondern behinderten sich nur und ergäben zusammen einen "unflotten Nibelungen-Dreier". "Unvermittelt stehen die Stücke nebeneinander, jedes nervt für sich allein." Rinke fröne "nichts anderem als dem Spaß - und die Stuttgarter Regie folgt ihm hemmungslos". Weise schrecke nicht davor zurück, sein Ensemble tiefer und tiefer "in eine Kindergeburtstagsklamotte zu stürzen" - "besinnungslose Krawallkomik"! Jürgen Kuttner - "in Berlin ist er Kult (...), in Stuttgart aber eine Nervensäge" - komme in seiner "krausen Textmontage" "vom Hölzchen aufs Stöckchen" und stelle "im Affentempo einen Zusammenhang zwischen den 'Nibelungen' und Afghanistan her". Wenn man das allerdings "so verwirrend anstellt wie dieser übertourte Intellektualclown, bleibt davon nicht viel hängen". Hebbel in Teil III werde dann "als Kontrastmittel eingesetzt": Die "famose" Lisa Bitter "haucht, zischt und flüstert" als Kriemhild ihre Rachegelüste "eine Stunde lang, fast unbewegt" ins Mikrofon. Alles in allem bleibe es jedoch "schwer verdaulicher Mythenquark".

"Man kennt das Prinzip, es heißt: bis einer heult", schreibt Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (28.6.2010): "Bei den Nibelungen, wie Rinke sie sieht, geht es nicht anders zu als auf einem Kindergeburtstag." Das sei schon alles "albern, aber auch witzig, denn Christian Weise hält sich in seiner Inszenierung brav an alle Regieanweisungen, die der Dramatiker Moritz Rinke in seiner Nibelungenfassung angegeben hat." Doch dann sage der Regisseur mit der Hilfe von Jürgen Kuttner "Obacht!", das sei "ja ganz lustig, diesen einst zum Nationalmythos der Deutschen erklärten Stoff umgangssprachlich umzudichten (...). Doch welche Relevanz hat das, wo bleibt die Aktualität?" Weise und sein Dramaturg Christian Holtzhauer gingen auf Nummer sicher: "Sie geben dem Publikum erst den Boulevard, dann folgt Aufklärungsarbeit am Mythos." Und mit Hebbel mache Weise dann Ernst: "Wie üblich, wenn heute gezeigt werden soll, dass die Kommunikation versagt, spricht jeder stur nach vorn. (...) Der Beweis ist erbracht, die Uraltthese der Verbindung von Mythoslust und Faschismus ist einmal mehr formuliert." Fazit: "Die auch hervorragend oberstufentaugliche Inszenierung zeigt mehr von pädagogischer als von künstlerischer Mission."

 

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