Wenn statt Erfüllung nur der Strich übrig bleibt

von Ulrich Fischer

Avignon, 9. Juli 2010. Mit "Gardenia" ist Alain Platel erneut eine Sternstunde des Theaters geglückt. Der belgische Choreograph knüpft zusammen mit Frank Van Laecke und Les Ballets C de la B an eine wahre Geschichte an: die Schließung eines Travestietheaters in Barcelona. Die Handlung setzt ein, als der Chef der Schmuddelbühne sich bei seinem Publikum für langjährige Treue bedankt und ankündigt, das Theater werde schließen, heute Abend sähen sie/wir Zuschauer die letzte Vorstellung.

Dann werden, in bewährter Ansager-Ranschmeiße, die Stars angekündigt – auf die Bühne kommen vor allem unauffällige ältere Herren: Kleinbürger, Bürger, ein gut gekleideter soignierter Herr mit der Aura eines Diplomaten. Die Beschreibung des Chefs will nicht zu den Auftretenden passen, vor allem sexuelle Anspielungen, die äußerst anstößig sind und sein sollen: oft ist von Gleitmitteln die Rede. Von Anfang an macht Platel deutlich, dass dieses Theater keine großen Gagen zahlt und die Stars ihre Haupteinkunftsquelle in der Prostitution finden.

Dem Alltag entgegen gesetzte Sphären
Dann beginnt langsam die Verwandlung des Ensembles: Bühnenbildner Paul Gallis begnügt sich mit einer quadratischen Fläche, die aus hundert (10 x 10) Parkettquadraten zusammengesetzt ist, neun Plüschsesseln, Mikrofonen und einem Gestell für Kleider, einem Tisch mit Spiegeln zum Schminken. Die Herren legen ihre Männerkleidung ab, darunter kommen Damenröcke und -wäsche hervor. Die Metamorphose dauert aber noch bis zum Höhepunkt. Ravels Bolero wird – mit Kommentaren unterfüttert und verfremdet – eingespielt. Und jetzt legen die Darsteller Fummel an, große Abendkleider, Seidenstrümpfe. Sie ersetzten die Herrenschuhe durch höchsthackige Pumps, am liebsten in Rooot! und lassen sich vor dem Spiegel nieder.

Perücken und das Makeup vollenden die (Ver)Wandlung: Augen und Lippen leuchten, schimmern, glühen. Liza Minelli ist wieder zu erkennen, Marlene Dietrich – aber völlig unzureichend, weil die Männer zu dick sind, zu groß – und dennoch haben die Szenen trotz des parodistischen und komischen Grundtons doch auch einen hohen Ernst. Gespielt wird mit unser aller Lust am Verkleiden, dem Wunsch, in eine Sphäre zu entkommen, die dem Alltag entgegengesetzt ist. Insofern gewinnen, wie immer bei Platel, die Ausgegrenzten, die hier im Mittelpunkt stehen, ihre Würde zurück, denn sie stehen in wichtigen Zügen auf für all jene, die sich für normal halten. Also uns.

Gehen, Schreiten, Aufreizen
Es gibt viel zu schauen, zu schmunzeln – und zu denken. Das Ensemble ist erste Klasse – nur einer ist noch jung genug zu tanzen – er bekommt gegen Ende ein Solo. Die anderen müssen sich mit Andeutungen begnügen. Aber das reicht auch völlig. Den Arm in die Luft gestreckt: Siegerpose. Die Arme weit auseinander – seid umschlungen, Millionen! Sehr viele obszöne Andeutungen: die Männer gehen auf den Strich und suchen nach potenten Partnern, die so etwas mögen und dafür zahlen können.

Die Andeutungen – auch beim Gehen, beim Schreiten, beim Aufreizen – wirken deshalb so mitreißend, weil sie das Publikum zur Mitarbeit auffordern – jeder kann sich vorstellen, weil er die entsprechenden Filme kennt, wie es wäre, wenn sich hier ausagiert würde. Die eigene Phantasie ist besser als alle Darbietung. Theater für intelligente Zuschauer.

Die Darsteller müssen aber jede Nuance beherrschen, um sich auf gestische Abkürzungen beschränken zu können. Und das tun sie meisterhaft. Gerade bei der Parodie muss man den Parodierten erst einmal wirklich nachmachen können, um dann, durch eine winzige Übertreibung, bloß zu stellen, wie es "gemacht" wird, worin die spezielle Manier dieser Figur besteht.

Betrogene Betrüger
Steven Prengels hat eine Toncollage zusammengestellt, die von Schubert über Ravel bis zu Chansons von Charles Aznavour und Marlene Dietrich reicht. Die unsterbliche Diva singt: "Sag mir, wo die Blumen sind". Trotz aller Parodie bewundert man den Darsteller. Wer denkt nicht an den Hintergrund, den Krieg, Marlenes antifaschistische Gesinnung, die alten Nazis, die ihr auch nach dem Krieg noch zu schaffen machten?

Dann zerfällt der Abend, die ernsten Themen gewinnen an Gewicht: die Vergänglichkeit des Lebens, der Zerfall der Kräfte, das Alter. Und eine weitere Ebene regt zum Nachdenken an: was ist das, Künstlertum? Sind alle so selbstbezogen und pfaueneitel wie diese Protagonisten hier? Geht es allen nur um Selbstdarstellung und Applaus? Erweisen sich alle als betrogene Betrüger, weil ja der Erfolg ausbleibt und statt der Erfüllung am Ende nur der Strich übrig bleibt?

Wie sähe eine echte Alternative, ernsthafte Kunst aus?

Die Antwort ist einfach, wie die von Alain Platel und seinen Ballets C de la B. Ovationen, stehender Beifall, rhythmisches Händeklatschen des extrem kritischen Publikums beim Festival d'Avignon. Verdient. Vielleicht hätte gegen Ende etwas gestrafft werden können – doch angesichts des überragenden Gelingens verbietet sich jede kleinliche Kritik.

Jubel ist angebracht!

 

Gardenia
von Alain Platel
Regie: Alain Platel & Frank Van Laecke, Bühnenbild: Paul Gallis, Musik: Steven Prengels.
Mit: Gerrit Becker, Griet Debacker, Andrea De Laet, Richard "Tootsie" Dierick, Timur Magomedgadzjeyev, Danilo Povolo, Rudy Suwyns, Vanessa Van Durme, Dirk Van Vaerenbergh.

www.lesballetscdela.be/fr
www.festival-avignon.com

 

Der Choreograf Alain Platel, 1956 in Gent geboren, war mit seiner Pina-Bausch-Hommage Out of Context im Juni 2010 bei den Wiener Festwochen zu Gast.

 

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Kritikenrundschau

In ihrem Porträt von Alain Platel in der Berliner Zeitung (20.8.2010) schreibt Michaela Schlagenwerth auch über die Eröffnungsinszenierung des Festivals Tanz im August, bei dem "Gardenia" seine Deutschlandpremiere feierte. Wie sonst auch oft, stelle Platel hier die Klischees heraus, "die er so nah an die Zuschauer heranrückt, bis sich das Klischeehafte verflüchtigt und man sich nicht entziehen kann". Wenn die Darsteller zu Anfang "alt, traurig, in Anzügen, mit Bäuchen und Tränensäcken unter den Augen" vor einem stünden, könne man sich sie sich unmöglich "als die schillernden Figuren vorstellen, als die sie sich im Laufe des Abends noch präsentieren werden". Es gehe um "das Spiel am glitzernden Show-Biz, vor allem aber natürlich um die Verwandlung in eine Frau". Platel verweigere das Erwartbare - und tatsächlich gehe einem das, so Schlagenwerth, "ziemlich nahe: Wir alle verkleiden uns unaufhörlich. Wir spielen Rollen, als Männer, als Frauen. Anders gäbe es uns ja gar nicht."

Auch Katrin Bettina Müller von der taz (21.8.2010) haben "die Trauer und der Schmerz" stellenweise "wie mit einem Paukenschlag" erwischt. "Gardenia" gehe zu Herzen und sei dabei "alles andere als ein agitatorisches oder Thesenstück". Hier würden "keine Biografien oder Schicksale erzählt. Und doch transportiert dieses Tanztheater mit jedem Schritt und jedem neuen Bild den Mut und die Anstrengung, die es kosten kann, das Recht, so zu sein, wie man ist, auch zu leben." Etwas "äußerst Nostalgisches und Wehmütiges" liege über allen Bildern, alles verweise "auf Sehnsuchtsorte weit weg vom Hier und Jetzt". Wenn Vanessa Van Durme zu Anfang die Kolleginnen "mit großspurigen Worten" vorstellt, tue sich eine große Kluft "zwischen den zurückgenommenen Erscheinungen und dem aufreißerischen Wortgeklingel" auf, die dann "Schritt für Schritt aufgefüllt" werde; ein "Kokettieren und Flirten ganz der alten Schule beginnt". Dass bei dieser "diffizilen Arbeit am Aufbau der Bilder von Weiblichkeit" eine Schauspielerin dabei sei, "die ebenso viel wie die Transvestiten investieren muss, um sich den großen Rollen anzunähern, ist ein geschickter Zug der Regie". Schließlich betone dies "die Konstruktion des Geschlechts jenseits biologischer Vorgaben als kulturelle Funktion".

Platels neues Stück sei "leichter, heiterer, amüsanter als früher, obwohl auch hier ein wenig Horror zwischen Bauchröllchen und schlaffer Haut lauert", schreibt Manuel Brug in der Welt (21.8.2010). Er führe "die in die Jahre gekommenen Blüten der Nacht als ungeschminkt alte Kerle vor, die sich zu Ravels Bolero mühsam, aber lustvoll in die Fummel werfen" - "quasi Marys finale Abschminknummer rückwärts. Show und Prostitution." Der "Mensch hinter dem Maskara" gerinne aber auch bei Platel zum Klischee. "Puccini, Verdi, Marlene, Judy, Liza, Barbra, Tina sorgen mit emotionsgesättigtem Melos für die erwartbar großen Gefühle im Rausch der geschlechtlichen Verwandlung. Und die Herren führen in ihrem alltäglichen Käfig voller Narren vornehmlich vor, dass sie eben sind, was sie sind." Die fiktive Show werde durch einen jungen, begehrenswerten Mann gebrochen - "der Schöne und die Biester, das tänzelt neunzig Minuten lang gekonnt und thematisch ein wenig routiniert (...) an der Oberfläche dahin, ohne dass diese Follies wirklich berühren".

Wiebke Hüster hat Gardenia beim vornehmlich "Kleinkunst" präsentierenden Berliner Tanz im August gesehen, ein Festival, das sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.9.2010) als zum "Performance-Treffen herabgewirtschaftet" bezeichnet. Gardenia empfand sie als "langweilig", die transexuellen Darsteller zögen sich nur immer tänzelnd um – "Anzug aus, Abendkleid an und so weiter".

Dorion Weickmann von der Süddeutschen Zeitung (6.9.2010) findet an Platels "schmockschnulziger Transvestiten-Hommage" auch keinen großen Gefallen, "Gardenia" bleibe "leicht unter den Erwartungen".

Was in der Zürcher Werfthalle abgeht, "könnte das Geschehen in einem Kontakthof der Dragqueens sein", schreibt Lilo Weber anlässlich des Zürich-Gastspiels von "Gardenia" in der Neuen Zürcher Zeitung (4.9.2010). Die Transsexuellen und Transvestiten hätten durchaus auch "bei Pina Bausch zur Schule gegangen sein" können. Sie alle spielten jetzt "noch einmal sich selbst und das, wofür sie sich gerne gehalten hätten". Allerdings erzählten sie "nicht wirklich ihr Leben, auch nicht eigentlich von ihren Sehnsüchten". Was hier laut werde, seien vielmehr "Bruchstücke von Hoffnungen und Wünschen, die, kaum gesagt, schon vergessen sind". "Es ist ein Tanz der zahnlosen Vampire, ein Nuttentheater, in dem nichts mehr geht." Auch wenn es bisweilen "durchaus auch komisch sein" kann, möge man nicht "wirklich herzlich lachen". Dies sei kein Schwulenstück und auch gar keine Transvestiten-Show, "sondern ein Stück übers Altwerden. Die Pille schlucken wir dereinst alle."

 

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