Lost Generation 2010

von Ulrich Fischer

Edinburgh, 14. August 2010. Edinburgh verwandelt sich im August jedes Jahr aufs Neue zur Kulturhauptstadt der englischsprechenden Welt. Das Fringe übertreibt nicht, wenn es sich als "größtes" Festival der Welt bezeichnet, freie Gruppen treten an allen möglichen und unmöglichen Podien auf, von morgens bis in die Nacht, drei Wochen lang. Ein Filmfestival, ein Buch- und ein Jazzfestival ziehen viele Interessierte an. Aber im Zentrum steht das Edinburgh International Festival, ebenso wichtig wie Avignon und Salzburg auf dem Kontinent. Konzert und Oper, Tanz und Schauspiel der Weltklasse werden präsentiert.

Das Schauspiel begann gleich mit einer Uraufführung: "The Sun Also Rises", eine Bühnenfassung des ersten größeren Romans von Ernest Hemingway, 1926 erschienen und bei uns bestens (auch als Film) bekannt unter dem Titel "Fiesta". Das New Yorker Ensemble "Elevator Repair Service" (dt.: Aufzug-Reparatur-Dienst) lehnt seine Adaption eng an Hemingways Roman an, Dialoge werden teilweise wörtlich übernommen, das Handlungsgerüst, vor allem aber die Figuren.

Dieses süsse, sinnlose Leben
Im Mittelpunkt steht Brett Ashley. Die britische Aristokratin ist 35, lebt in Paris und zieht Männer an wie die sprichwörtlichen Motten das Licht. Jake ist ihr guter Freund, doch die Liebe muss platonisch bleiben, weil Jake im Krieg verletzt wurde, er ist impotent. Mike ist gekränkt, weil Brett sich von ihm ab- und Robert zugewandt hat. Robert stammt aus einer angesehenen jüdischen Familie in New York mit altem Geld - er bleibt in der Gruppe trotz massiver antisemitischer Anfeindungen. Er kann von Lady Ashley nicht lassen, nachdem sie auch ihn durch einen Nachfolger ersetzt hat.

John Collins legt in seiner Uraufführungsinszenierung Wert darauf, das öde Ennui der wohlhabende Nichtstuer kritisch darzustellen. Es gibt zwar lebhafte Szenen, aber im Grunde verändert sich nichts. Stillstand. Wie im Roman vertun die nicht mehr ganz jungen Leute ihr Geld und ihre Zeit mit Restaurantbesuchen, bei denen heftig gezecht wird, oft sind sie betrunken oder haben einen Kater. Sie schreiben, behaupten sie; einer ist Journalist, verfügt aber über verdächtig viel freie Zeit. Mit Eifersucht machen sie sich gegenseitig ihr Leben zur Hölle – trotzdem leiden sie unter Langeweile. Um etwas Abwechslung zu haben, fahren sie nach Spanien. In Pamplona lockt die Fiesta.

Synthese von Illusion und Epischem Theater
Sie wird zum Kern der Aufführung. Die Gruppe "Elevator Repair Service", die gemeinsam mit dem New York Theatre Workshop die Uraufführungsinszenierung auf die Beine gestellt hat, gilt in den Vereinigten Staaten als Avantgardetheater. Es sucht nach neuen Möglichkeiten der Darstellungen – gekonnt verschmelzen sie in "The Sun Also Rises" Momente des epischen mit denen des Illusionstheaters.

Ausstatter David Zinn hat detailgetreu eine Kneipe für wohlbetuchte Zeitgenossen mit einem Hauch von Paris auf die Bühne gestellt. Auf dem obersten Board stehen weit über hundert leere Flaschen. Sie bekommen noch mehr Präsenz, weil die Getränke für die zechfreudigen Amerikaner aus leeren Flaschen eingeschenkt werden. Dabei gluckert es – vom Band. Alles lacht. Der Effekt ist nicht nur komisch, er verweist auch darauf, dass Hemingway hier mehr liefert als eine einfache Beschreibung ungezügelter Trinkgewohnheiten: sie sind vielmehr Symbol, Sinnbild für das Vertun des Lebens.

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© Mark Barton

Ebenso wie die Bühne, die zum Inbegriff des Verplemperns von Geld und Leben wird. So verliert die Schankstube rasch ihren naturalistischen Charakter, wird als Simultanbühne auch das Taxi, die Wohnung. Später in Spanien findet hier der Stierkampf statt. Denn die Spieler existieren hier im Sinne des Wortes. Immer. Eine angemessene szenische Übertragung von Hemingways Stil: ein Realismus, der seine feinen Beobachtungen zum Symbolischen verdichtet.

Denken macht Spaß
Die Distanz der Inszenierung zum Text und zur rein deskriptiven Ebene ist nicht nur witzig und unterhaltsam, sie entspricht auch der Intention Hemingways. Der Autor ist alles andere als identisch mit dem Icherzähler. Hemingway hat einen kritischen Abstand zu ihm wie auch zu allen anderen Figuren – er stellt dar, zeigt, wie Leute ihr Leben nicht leben, obwohl sie die besten Voraussetzungen dazu hätten. Diese kritische Distanz Hemingways zu seinen Figuren entspricht auf der Bühne das epische Spiel, der Abstand der Schauspieler zu ihren Rollen. Der Witz hat aufklärerische Funktion: Denken, das Spaß macht. Brecht wäre hellauf begeistert gewesen.

Wie das Publikum. Die Schotten verlangen vom Theater Humor und Kurzweil, Tiefgang und Erkenntniszuwachs. Sie fühlten sich bestens bedient, die Amerikaner lösten die Quadratur des Kreises mit Spielfreude, souverän. Sie können begeisterten Beifall am Firth of Forth verbuchen.

Dieses Jahr ist ein großartiges Jahr für die Festivals - überall. Edinburgh ist offenbar fest entschlossen, das von Salzburg und Avignon vorgegebene Niveau nicht zu unterschreiten.

 

The Sun also rises (The Select) (UA)
nach dem Roman von Ernest Hemingway
Regie: John Collins, Bühne und Kostüme: David Zinn, Licht: Mark Barton, Sound: Matt Tierney und Ben Williams.
Mit: Frank Boyd, Mike Iveson, Vin Knight, Kate Scelsa, Kaneza Schaal, Pete Simpson, Susie Sokol, Lucy Taylor, Matt Tierney, Ben Williams.

www.elevator.org
www.nytw.org
www.eif.co.uk

 

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