"Das ist doch scheiße, oder?"

von Kerstin Edinger

Bochum, 28. Oktober 2010. Es ist schon viel geredet und geschrieben worden über die junge Generation. Kein Etikett, dass man ihr nicht angeheftet hätte. "Generation Notebook", "Generation Praktikum", "Generation Suff." Während Erwachsene über ihre Zukunft reden, leben die Jugendlichen in ihrer eigenen Welt. Einen wirklichen Austausch gibt es selten. Nuran David Calis enttarnt mit seinem an Authentizität kaum zu übertreffenden Stück das ambitionierte Gerede als großen Etikettenschwindel.

Laute Partystimmung und intime Momente

Der Zoom einer Handkamera richtet sich auf eine der 37 Jugendlichen. "Ich will alles mitnehmen, was geht, mich nicht entscheiden müssen", sagt das Mädchen. Ihr Kopf erscheint auf einer Leinwand, während sie von ihren Wünschen und Träumen erzählt. Die Träume sind oft erstaunlich simpel. Von Kindern ist die Rede, von einem tollen Job, "einfach glücklich sein, sorglos leben".

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© Diana Küster

Momente voll positiver Energie wechseln sich ab mit bitterer Ironie oder auch wütender Hoffnungslosigkeit. Ein Jugendlicher möchte gerne als Sänger groß rauskommen, viel Geld verdienen. "Im Grunde weiss ich, dass es nicht so weit kommt". Zwischen lauter Partystimmung und intim in die Kamera gesprochenen Sätzen fokussiert Nuran David Calis nach und nach die einzelnen Geschichten. Jeder Akteur erhält sein eigenes Stückchen Aufmerksamkeit.

Die Jugendlichen kommen aus den neun Zukunftshäusern des Ruhrgebiets, eine Art Jugendzentren der Kultur, in denen sie seit einem Jahr ihre Wut in Gesang, Schauspiel, Film oder anderes kreatives Potential umwandeln. Calis hat sie dort besucht und ans Theater geholt. Er hat sie gebeten, ihre Träume aufzuschreiben. Aus diesen Texten ist das Stück entstanden. Kein Satz, der nicht von ihnen stammt. Authentischer und persönlicher geht es nicht.

Theaterpublikum trifft auf Straßenkultur

Nuran David Calis erweist sich als dezenter Arrangeur, seine Regie greift nicht interpretierend ein. Calis lässt die Szenen ineinander fließen, variiert das Tempo und die Lautstärke. Lauter Rap-Gesang wird von leisen Textparts abgelöst. Vergleichbar mit dem Dirigenten eines Orchesters spürt man seine führende Hand, doch Inhalt und Qualität bestimmen die Jugendlichen selbst. Nicht jeder Ton sitzt, nicht jeder Satz wird deutlich ausgesprochen, aber die unglaubliche Spielwut und der ungebremste Drang, von sich zu erzählen, macht den Abend zum Erfolg.

Nuran David Calis lässt den Jugendlichen Freiraum. Er kanalisiert, aber filtert nicht, bringt alles in Form, formt dabei aber nichts um. Perfektion würde die Authentizität des Abends in Frage stellen. Das Bühnenbild ist variabel, Treppenmodule erhöhen die Dynamik des Stückes. Alles ist im ständigen Wandel, wie die Protagonisten selbst. Eine Rampe, in die Sitzreihen ragend, ermöglicht die Nähe zum Publikum.

"Es ist doch wichtig, wohin ich gehe, nicht woher ich komme", sagt ein Mädchen. Immer wieder kreist das Stück um das Thema "Herkunft". Viele haben einen Migrationshintergrund. Hassan zum Beispiel. Er wird als Libanese seit 17 Jahren in Deutschland geduldet, das heisst er darf Nordrhein-Westfalen nicht verlassen. "Das ist doch scheiße, oder?" brüllt ein anderer Jugendlicher ins Mikro und schaut die Zuschauer an. "Scheiße, oder nicht?" Immer wieder sucht er dabei Blickkontakt zum Publikum, will sicher sein, dass seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlen...

"Next Generation" ist kein Multi-Kulti-Gut-Gemeint-Projekt, sondern hier wird eine Tür aufgestoßen: Theaterpublikum trifft auf Straßenkultur. Das Schauspielhaus Bochum gibt dem Ganzen die nötige Bedeutung, indem es das Stück ins Repertoire aufnimmt, gleichwertig mit allen anderen des Spielplans. Das Theater will sich in der Mitte der Gesellschaft verankern, sich als relevanter Ort behaupten. Und das ist hiermit gelungen.

 

Next Generation
von Nuran David Calis und Jugendlichen aus dem ganzen Ruhrgebiet

Regie: Nuran David Calis, Bühne: Irina Schicketanz, Kostüme: Silke Rekort, Musikalische Leitung: Vivan Bhatti, Video: Karnik Gregorian, Licht: Denny Klein, Dramaturgie: Sascha Kölzow, Thomas Laue.
Mit: Özgür Akbal, Abed Alaoui, Jessica Babiel, Radig Badalov, Daniela Bati, Dalil Belmir, Omar Bervary, Farah Bouhjar, Ella Dahmen, Jasmin Dolina, Precious Ephraim Ezeigwe, Delphine Fofana, Stanislaw Gavrishenko, Burak Göktepe, Rihan Güden, Amanda Gyima, Tim Habegger, Arslan Iqbal, Ferdi Kilic, Robin Kizilhan, Lena Koch, Tim Krause, Dan Matweta, Hassan Omayrat, Dennis Pagiewski, Pascal Pulwitt, Sahar Raie, Cennet Rüzgar, Elcim Saygün, Chantal Staack, Maxim Stockschläder, Tim Teufel, Sinan Uckan, Hannah Weiner, Nina Weiß, Christian Wilczek, Ahmad Yusuf Sabir.

www.schauspielhausbochum.de

 

Mehr zu Nuran David Calis: Im Mai 2010 inszenierte er am Deutschen Theater Berlin Schattenkinder nach einem alten Stück von Heinrich Leopold Wagner. In Dresden präsentierte er im Dezember 2009 eine eigene Version von Ibsens Peer Gynt. Im April 2009 war er am Maxim Gorki Theater in Berlin zu Gange und brachte in Romeo und Julia Schüler der in die Schlagzeilen geratenen Rütli-Schule aus Berlin-Neukölln auf die Bühne.

 

Kritikenrundschau

Vielleicht machen Calis und das Schauspielhaus das Theater, das wir gerade brauchen," schreibt Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (30.10.2010), der diesen Abend berührend, naiv und direkt sowie "getragen von der Offenheit und dem Herzblut der Darsteller" fand, um deren Utopien und Träume es ging, wie er schreibt. Diese Art Theater sei allerdings angreifbar, scheint es dem Kritiker. Man könne fragen, "was es Neues bringt und ob die Träume der Jugendlichen nicht ziemlich banal sind." Denn das seien sie und natürlich könne man ähnliche Geschichten auch woanders hören. "Doch an diesem Abend bekommen sie Gesichter und Körper. Die Jugendlichen sind da, man kann sie nicht wegklicken. Und will es gar nicht, denn sie versprühen mitreißende Energie, Lust auf Zukunft. Das Gemeinschaftsgefühl, das sich in der Aufführung eingestellt hat, hält noch ein wenig an. Verständigung ist plötzlich keine Utopie mehr." Und Integration auch nicht.

Eine mal ungestüm-impulsive, mal nachdenklich-kritische Collage mit mitreißender Authentizität und ansteckendem Visionismus, schreibt Lara Kirfel im NRW-Online-Portal Der Westen (30.10.2010). „Wie heißt du, woher kommst du und was ist dein Traum?“ diese Fragen zogen sich, so die Kritikerin, "wie ein roter Faden durch das szenische Getümmel und entlockten Lebensgeschichten zwischen Asylantenheim und Krieg im Heimatland, Sehnsüchte von 'Haus und Familie' bis 'Eine Woche Weltfrieden'. So ausgelassen die 37 Schauspieler bei selbst geschriebenen Raps und Club-Tanzeinlagen auch tanzten, so kritisch feuerten sie im nächsten Moment in Richtung Integrationspolitik, Rassismus und sogar Kulturhauptstadt."

 

 

Kommentare  
Next Generation in Bochum: gut gemeint
Was ist denn das hier?!?

"Authentischer und persönlicher geht es nicht." "seine Regie greift nicht interpretierend ein" "Jeder Akteur erhält sein eigenes Stückchen Aufmerksamkeit" Mag ja sein, daß der Abend kein "Multi-Kulti-Gut-Gemeint-Projekt" ist, was Kerstin Eidinger dazu schreibt, ist es auf jeden Fall.
Next Generation in Bochum: genauso ehrlich
Auch wenn sich das die Wenigsten eingestehen wollen: dieses Format gibt es so schon seit unzähligen Jahren. Im Privatfernsehen. genauso ehrlich, nur ohne den Anspruch, sich in eine Kunstform zu kleiden. vielleicht also noch ein bisschen echter.
Next Generation in BO: gebt mir eigene Standpunkte
bravo!
ist calis jetzt eigentlich der neue lösch?
wieviel die kiddies dafür wohl kriegen?

dieser ganze authenzitätsbetroffenheitsbrei ist nicht mehr auszuhalten. gibt's zur abwechslung auch mal wieder regisseure, die ideen und meinungen haben und eigene (!!) standpunkte vertreten?
Next Generation in BO: arrangiert, nicht eingegriffen
Empfinde es auch so wie ihre Kritikerin. wirklich ein super Stück. Die Jugendlichen machen ihr eigenes Ding. Man hat das Gefühl, der Regisseur hat alles arrangiert, aber nicht viel eingegriffen. Das finde ich toll!
Next Generation in Bochum: die schönste Zeit meines Lebens
Als Akteur möchte ich hier mal einwerfen, dass wir natürlich auch gering dafür entlohnt werden, dass ist uns aber nicht wichtig.

Wir haben über viele Monate zusammen geprobt, Tag für Tag, wir haben das Stück zusammen geschriebene, "gelebt". Und vor allem sind wir zusammengewachsen, fast wie eine große Familie.
Und auch wenn es den Kritikern nun nicht gefallen mag ( was es ja anscheinend doch tut) so kann ich nur sagen, dass ich in dieser Zeit viele neue Freunde gefunden habe, einige sehr beeindruckende Leute kennengelernt habe, jede Menge Spass hatte und auch noch haben werde und dass es mit die schöneste Zeit meines Lebens war.

Es erweitert den Horizont.
Next Generation in Bochum: Gänsehaut
Wow, Tim, ich habe irgendwie Gänsehaut bekommen, als ich deinen Text gelesen habe.
Ich bin ebenso Akteurin des Stücks und möchte noch auch nochmal betonen, dass wir es nicht für das Geld machen. Ich muss gestehen, dass ich nichteinmal wusste, dass wir Geld dafür bekommen.
Ich habe es aus Freude am Theater gemacht. Man hat uns einfach eine große Chance gegeben. Wir durften mit einem bekannten Regisseur zusammen arbeiten, der zu dem auch noch ein super toller Mensch ist. Alles war so professionell.
Wir haben nette Leute kennengelernt, wie Tim schon erwähnt hat und wir haben in manchen wirklich sogar ein einen oder anderen guten Freund gefunden. Der Zusammenhalt, die Atmosphäre und Stimmung, einfach alles hat gepasst und es passt immer noch.
Es ist ein gigantisches Gefühl, auf der Bühne zu stehen und wirklcih mal etwas anderes zu bringen. Und kein Shakespeare oder Schiller. Es war auch für mich eine der schönsten Zeiten und dazu noch unvergesslich. Denn welcher Jugendliche kann schon von sich behaupten mit Nuran gearbeitet zu haben oder gar im Schauspielhaus aufgetreten zu sein? .. Kaum jemand. Die Erfahrungen die wir dort sammeln durften und die Freude die wir dabei hatten.. Das sind die Dinge, die Zählen. Und nicht etwa, wieviel Geld wir bekommen oder dass man sowas im Privatfernsehen sehen kann. Fernsehen kann man doch mit Theater gar nicht vergleichen.

Ich liebe es.
Next Generation, Bochum: beste Inszenierung
Ein Riesenkompliment an die Darsteller und Autoren des Stücks!!
Ihr habt da etwas unglaublich lebendiges und tolles auf die Bühne gebracht!!
Mit den Labdakiden zusammen die meiner Meinung nach bislang beste Inszenierung der Intendanz.
Super super klasse!
Next Generation, Bochum: Männer vorne, Fraunen hinten=Klischee
schade, dass hier mit allen Klischees gearbeitet wird. Selbstverständlich sind die jungen Männer die Musikhelden auf der Bühne und Moderator und Kamerateam auch männlich. Die jungen Frauen dürfen die Rolle der Backroundsängerinnen übernehmen. wie so oft und leider kein Traum. Schade, dass das Theater es nicht geschafft hat etwas zu durchbrechen...
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