Fast ein kleines Regiewunder

Charles Linsmayer

Zürich, 13. November 2010. Wow, denkt man, wenn man Johannes Schrettles zwischen 2002 und 2004 entstandenen, 2005 in Osnabrück uraufgeführten Erstling mit dem leichtgewichtigen Titel "FLIEGEN/GEHEN/SCHWIMMEN" auf dem Papier liest: Wie kann ein Text mit soviel Theorie auf der Bühne zum Leben erweckt werden? Da wimmelt es von Ausdrücken wie Autonomie, Anarchie, Ressourcen, Workshop, Globalisierung, Bio und Strapazieren, da spricht ein Polizist von Metaphern und ruft, immer, wenn es ihm "kommt": "Nie wieder Faschismus!"

Dann sieht man die schweizerische Erstaufführung des Stücks, die Hannah Steffen im Zürcher Kleintheater Winkelwiese eingerichtet hat, und merkt wieder einmal, dass ein Text, von einer einfühlsamen, einfallsreichen Regie in Szene gesetzt, eine wunderbar klärende Wandlung durchmachen kann, ohne dass ein einziges Wort gestrichen würde.

Eine Ratte namens Freiheit

Was in Zürich präsentiert wird, ist zunächst einmal ganz einfach eine Liebesgeschichte, "wie sie das Leben schrieb". Der hypochondrische, an einer wohl psychisch bedingten Mundfäule leidende Swazy und die fröhlich-unbedarfte, immer lächelnde, die schönen Seiten des Lebens genießende Helga sind ein Paar – bis die junge Frau das ewige Lamentieren des jungen Mannes satt hat und sich in einen Polizisten namens Holger verliebt, der sie auch schon mal auf einen Helikopterflug mitnimmt, bei dem dann allerdings Helgas Ratte, die beziehungsvoll auf den Namen Freiheit hört, zu Tode kommt und die Beziehung in erste Schwierigkeiten gerät.

Swazy aber kommt, obwohl die psychologisch vorbelastete Anke ihm seine Komplexe auszutreiben sucht, mit dem Verlust nicht zu Rande. Während Helga erst mal bei Anke einzieht, findet sich Swazy am Ende in der Wohnung des Rivalen wieder und erzählt, nachdem er sich mit dessen Pistole einen tödlichen Schuss versetzt hat, in einer Art finalem Delirium von einem braven Spießerleben mit Glotze und Abendspaziergängen, dem er sich von nun an mit Freude verschreiben wird.

Stilisierte Steppdeckenwelt

Hannah Steffen lässt sich das Spiel in einem Ambiente entwickeln, das weit weg von der Bahnhofschmuddeligkeit der Osnabrücker Uraufführung ist und sich auf ein stilisiertes Arrangement aus großen bunten Steppdecken verlässt, die den Raum immer wieder neu einteilen und sich mal als Schlafsäcke und dann wieder als Betten verwenden lassen.

Und sie lässt den vier Protagonisten viel Luft und Freiheit, um die einzelnen Szenen liebevoll-intensiv auszumalen und sich als unverwechselbare Charaktere zu profilieren, die dem Abend nicht nur etwas Leichtgewichtig-Komödiantisches, sondern auch etwas wie ein klar durchschaubares gruppendynamisches Konzept vermitteln.

Gerrit Frers spielt den Swazy mit voller Emphase als einen an sich selbst und an seiner Umwelt leidenden Schwerenöter, der von seinem als politisch deklarierten, aber psychologisch begründeten Minderwertigkeitskomplex buchstäblich erst durch den Selbstmord erlöst wird. David Allers mimt als Polizist Holger einen leutselig-lauten Macho-Typen, dessen tiefe innere Verunsicherung nur selten kurz an die Oberfläche tritt, bis er während des Helikopterflugs mit Helga einen eigentlichen Zusammenbruch erleidet. Petra Schmidig strahlt als Helga vor Lebenslust und naiver Zuversicht und lässt sich bis zuletzt nicht in der mädchenhaft-sinnlichen Leichtigkeit verunsichern, die dem Abend Momente von schwereloser Poesie verleiht. Nicole Tobler als Anke stellt Helga den sachlich-nüchterneren Typ einer Frau entgegen, die ihre Erfahrungen als "Ressourcen" für das psychologische Buch verwenden wird, mit dem sie einen Bestseller landen will.

Die Plausibilität des Politischen

Ob sie nun, wie aus der Perspektive von Helga, ironisiert und belächelt werden, ob sie in träfer Artikulation, Mimik und Körpersprache mit glaubwürdigem Sinn erfüllt werden: Die Versatzstücke des Politkauderwelsch verlieren in dieser Inszenierung alles Verfremdende und tragen durchaus dazu bei, das Scheitern der Beziehungen und Lebenserwartungen, mit denen uns die vier Biografien konfrontieren, als ein zeittypisches Phänomen erscheinen zu lassen.

"Orientierungslosigkeit" heißt eines der von Anke verwendeten Wörter, und wenn die Inszenierung etwas wirklich beweist, dann ist es dies, dass Beziehungs- und Liebesgeschichten uns um so näher gehen, je desolater und hoffnungsloser das Umfeld ist, aus dem sie, mit Politik befrachtet oder nicht, herauswachsen.

 

FLIEGEN/GEHEN/SCHWIMMEN
von Johannes Schrettle
Regie: Hannah Steffen, Ausstattung: Valerie Hess/Stefanie Schaad, Choreographie: Slawomir Bendrat.
Mit: David Allers, Gerrit Frers, Petra Schmidig und Nicole Tobler.

www.winkelwiese.ch

 

Mehr Theater an der Winkelwiese: Im März 2008 inszenierte Christian Rast die Folge 4 der Theatersoap Absolut Züri. Alles über Johannes Schrettle auf nachtkritik.de: hier.


Kritikenrundschau

"fliegen/gehen/schwimmen" zeichne "ein treffendes Bild junger Menschen, die orientierungslos durchs Leben schlingern, weil ihnen jeglicher Halt fehlt in der globalisierten Welt – auch wenn das Geschehen auf der Bühne gegen Schluss zuweilen etwas unverständlich wird", schreibt Anne Suter in der Neuen Zürcher Zeitung (15.11.2010). "Mit Schlafsäcken in allen Farben, die je nach Bedarf am Boden ausgebreitet oder an Leisten aufgehängt werden, entstehen raffiniert die unterschiedlichsten Innen- und Aussenräume." Und witzig seien "jene Momente, in denen die Figuren die Theatersituation thematisieren: 'Woher weisst du, wo ich bin?' - 'Ich bin einfach quer über die Bühne gegangen.'"

 

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