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Rossmanns comic-hafte Reise 

von Regine Müller

Bochum, 28. April 2011. Über Franz Kafkas "Amerika" schrieb einst Kurt Tucholsky: "Die leise, bescheidene Art, mit der er die Gesten der ernsten und werktätigen Menschen nachahmt, ohne eigentlich ihren Inhalt zu verstehen oder etwa zu bejahen, erinnert sehr stark an Chaplin; doch ist bei dem eine Ironie dabei, die hier fast ganz fehlt, und beide beschämen die Nachgeahmten." Im Bochumer Schauspielhaus steckt Dimitrij Schaad als Karl Rossmann in einem etwas zu kleinen, schwarzen Anzug und erinnert tatsächlich – und virtuos in seiner glaubwürdigen Naivität – entfernt an Charlie Chaplin und dessen freundlich verzweifelte Überforderung mit den unbarmherzigen Gegebenheiten des American Way of Life.

Der polnische Regisseur Jan Klata und der Dramaturg Olaf Kröck haben in Bochum Kafkas Romanfragment "Amerika", von ihm selbst "Der Verschollene" genannt, auf gute zweieinhalb Theaterstunden eingedampft. Kafkas hermetische und zugleich glasklare Prosa ist natürlich nicht ohne wesentliche Verluste auf die Bühne zu bringen. Vielleicht ist Kafka ja eigentlich sogar das Gegenteil von Theater, von Handlung, Dialog und Dramaturgie. Dennoch gelingt es Jan Klata, aus Kafkas verstörendem Text über weite Strecken eine Art kafkaeskes Comic-Theater zu machen, das phantastisch und grotesk ist, aber leider in der viel zu lang geratenen und allzu brav nacherzählten fünften Szene im Hotel Occidental in platten Klamauk abrutscht.

Arglos, duldsam, überzeichnet

Doch der Reihe nach: Kafkas Romanfragment erzählt die Geschichte des sechzehnjährigen Karl Rossmann, den seine Eltern nach einem Fehltritt – ein Dienstmädchen hat ihn verführt und ein Kind von ihm bekommen – nach Amerika abschieben, wo er nun lernen muss, allein zurecht zu kommen. Die neue Welt ist fremd und Rossmann irrt arglos, gutmütig und duldsam durch die seltsamen Herausforderungen, die sich ihm gleichsam aufdrängen. Zuerst ist da auf dem Schiff der Heizer, dem er beisteht. Dann gewinnt er unversehens einen reichen Onkel und verliert ihn auf ungeklärte Weise wieder, als er dessen Geschäftsfreunde besucht. Er zieht mit einem prekärem Duo übers Land, wird Liftboy im Hotel Occidental, kann sich aber auch da nicht halten. Die letzte, rätselhafte Station ist das so genannte Naturtheater von Oklahoma.

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Jan Klata setzt zunächst konsequent auf Stilisierung, Überzeichnung und ausgestellte Künstlichkeit. Mit Psychologisierung wäre Kafkas Figuren – wenn es denn überhaupt Figuren sind und nicht vor allem Sprache? – freilich ohnehin schwer beizukommen. Die Bühne besteht aus bemalten Pappwänden, die nach jeder Szene unter Entwicklung einer stattlichen Windbö zu Boden fallen und das nächste Bild freigeben, das jeweils Interieurs, Landschaften und Aussichten nur grob simuliert. Wie in einem Pop-Up-Buch, in dem man ausgeschnittene Einzelteile hervorholt, sind auch Tische, Sofas und Stühle bloß aus Pappe.

Räume und Illusionen

Die Comic-Ästhetik funktioniert zunächst bestens. Die Schauspieler springen ständig hin und her zwischen lakonisch untertriebenem und extrem rhythmisiertem Sprechen, bewegen sich mal hektisch in abgezirkelten Choreographien und dann wieder aufreizend langsam. Groteske Kostüme und Perücken verstärken den grellen Comic-Charakter, der leider in der überlangen Hotelszene, in der alle Protagonisten pseudo-ägyptische Schreittänze absolvieren müssen, ins Alberne verläppert. Auch die letzte Szene – das Naturtheater Oklahoma –, in der der schöne letzte Satz "Jetzt erst begriff Karl die Größe Amerikas" fällt, verschenkt Klata an ein plötzlich raunendes Bild: Im Bühnenhintergrund dreht sich ein grünlich schimmernder Planet zu ausdauerndem Gelächter. Dennoch ein über weite Strecken tatsächlich kafkaeskes Theater.

 

Amerika
von Franz Kafka, in einer Bearbeitung für die Bühne von Jan Klata und Olaf Kröck
Regie: Jan Klata, Bühne: Justyna Lagowska, Kostüme: Mirek Kaczmarek, Choreographie Macko Prusak, Licht: Wolfgang Macher, Dramaturgie: Olaf Kröck.
Mit: Dimitrij Schaad, Andreas Grothgar, Werner Strenger, Bernd Rademacher, Manfref Böll, Kristina-Maria Peters, Ronny Miersch, Daniel Stock, Maja Beckmann, Roland Riebeling, Matthias Eberle.

www.schauspielhaus-bochum.de


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Kritikenrundschau

Letztlich unbefriedigend, trotz überwältgender Optik, bleibt für Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (30.4.2011) diese Kafka-Deutung. Zwar sei die Bühne eine Wucht: "Zu Anfang zeigt sie ein rostiges Schiff, auf dem der junge Karl in die USA fährt. Dann kippt die Bühnenwand nach vorne, eine Windböe bläst ins Publikum, die nächste Szene wird sichtbar. Wie in einem Pop-up-Buch klappen die Schauspieler Bühnenelemente hoch. Justyna Lagowskas Bilder sind knallbunt und voller Zitate. Am Ende steht die Freiheitsstatue neben einem Gartenzwerg in einem Trailerpark. Doch halte diese Kafka-Bearbeitung auf Dauer nicht, was sie am Anfang verspreche. Dazu sei sie zu einfach und platt. "Von vielen Kapiteln lässt Klata gerade ein paar Sätze übrig, knallt den Abend mit Popsongs und Slapstick voll, zeigt das Kolportagehafte und die Kinobegeisterung in Kafkas Roman, die Nähe zu Chaplin, Keaton und den frühen Stummfilmen. Das macht bei aller Oberflächlichkeit großen Spaß, bis die Szenen zu lang werden und Klata daran scheitert, Charaktere anzudeuten."

Als "theatralisch-fantastische Nummernshow" beschreibt Volker Trauth in der Sendung Fazit vom Deutschlandradio (29.4.2011) den Abend. Allerdings nutzen sich sich Jan Klatas theatralische Mittel aus seiner Sicht allzu schnell ab. Größter Gewinn sei "die Begegnung mit einem außergewöhnlich begabten jungen Schauspieler", mit Dimitri Schaad: "Unter den windigen Spukgestalten ist sein Karl der einzige fühlende Mensch. In seinem Bewegungsvokabular an Charlie Chaplin erinnernd, tänzelt Schaad durchs Stück, taumelt und bricht am Ende hilflos zusammen."

Ein atemloser, bildstarker Abend, ein Assoziationsrausch, der zu recht gefeiert worden sei, meint wiederum Britta Heidemann auf dem WAZ-Portal Der Westen (29.4.2011). "Amerika ist eine Kulisse, schier erschlagend. Wand um Wand saust Justyna Lagowskas klappbares Bühnenbild auf Karl nieder, der sich zum Glück immer just dort befindet, wo das Schlupfloch ausgesägt ist. Im Foyer hatten Zettel die Zuschauer gewarnt, es könnte 'Wind' bei den Bühnenumbauten entstehen: Amerika ist ein Hypochonder." Sie spricht auch von einem "Feuerwerk der Klischees", räumt aber ein: "Vielleicht wäre echte Bedeutungstiefe zu viel verlangt an einem Abend, der Oberflächlichkeit so einnehmend illustriert."

Vasco Boenisch von der Süddeutschen Zeitung (2.5.2011) würde über diesen Abend, der Kafka "brachialkomödiantisch" plätte, am liebsten "den Mantel des Schweigens legen". Für den "polnischen Regisseur Jan Klata mag die Erkenntnis vom dumpf-doofen Amerika noch etwas frischer sein als für ein bundesdeutsches Publikum, das seit fünfzig Jahren USA-Bashing als Mainstream pflegt". Trotzdem sei sein Amerika-Bild "doch erschreckend flach". In diesem "Pop-up-Bilderbuch (...) gibt es nicht nur keine Raum-Tiefe". Die Geschäftswelt sei hier "ein Bootcamp der Zylinderkapitalisten, in dem man roboterartig hastet und die Baseballkeule in Nationalfarben schwingt" – der "Roman, also die Welt, als Comic". Zu "lausigem Slapstick" dröhne Popmusik und "verdreifacht, was szenisch schon gedoppelt wurde. Alles ist bunt, nichts realistisch und nichts wie bei Kafka." Da könne auch der "tapfere Dimitrij Schaad nur mehr den verschreckten Schatten einer berührenden Hauptfigur abgeben". Man müsse annehmen, dass der Regisseur seine "plakative Pappen-Revue" für "ironisch-gewitzt" hält. Dabei sei es "bloß Kitsch: die Abwesenheit von Interpretationsspielraum."


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