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Im Abspeck-Zirkus

Von Ralph Gambihler

Halle, 7. Mai  2011. Der Noch-Intendant hat seinen Schreibtisch noch nicht geräumt, da betritt der Neue schon die Bühne – freilich in freundlichem Einvernehmen. Christoph Werner, der vor sechs Jahren das schwierige Erbe Peter Sodanns angetreten hatte und nie so richtig in Fahrt kam, lud seinen designierten Nachfolger Matthias Brenner ein, schon mal die letzte Saalpremiere der Saison zu inszenieren. Der nahm an und dachte zuerst an Molière, entschied sich dann aber für die Komödie "Zscherben - ein Dorf nimmt ab!", ein Stück aus der Feder seines künftigen Studio- und Spielleiters Jörg Steinberg, das nun zur Uraufführung kam, gewissermaßen als Prolog für die im Sommer beginnende Intendanz des 53-jährige Schauspielers und Regisseurs.

Zscherben gibt es wirklich. Es liegt westlich von Halle, hat 1600 Einwohner, ist ein Dorf wie viele andere im deutschen Osten und kämpft weiterhin mit den Nachwehen des Systemwechsel von 1989. Im Stück ist das nicht anders als im richtigen Leben, allerdings wirft Jörg Steinberg die Dorfgemeinschaft dem Quoten-TV zum Fraß vor und erzeugt damit eine volkstheaterartige Medienklamotte, in der zwei Welten aufeinander prallen. Der ironische Untertitel: "Ein leidenschaftliches Plädoyer für unsere Fernsehlandschaft, für all die unzähligen Macher und Konsumenten!"

Dicke Dörfler

Die Handlung parodiert die Gaga-Wirklichkeiten der so genannten Reality- und Gameshows à la "Dschungelcamp". Ein Privatsender namens Satt2 erwählt Zscherben zum Schauplatz für sein neues Format "Ein Dorf nimmt ab!". Im Wesentlichen geht es in dieser Kandidatensause aus der Provinz darum, Fettleibigkeit auszustellen und damit Schadenfreude zu bedienen.

Sechs reichlich voluminöse Dörfler sollen vor laufender Kamera abspecken, wobei allerlei sportive Einlagen die dicken Bäuche und Hinterteile zur Geltung bringen. Zscherben bekommt im Gegenzug Geld für seine legendäre, aber vom TÜV gesperrte Kegelbahn und kann außerdem gegenüber Krimpe punkten, dem verhassten Nachbardorf. Die Sache läuft natürlich aus dem Ruder, und so sind wir bald mittendrin in den Niederungen eines komisch eskalierenden Kulturkampfes zwischen telegenen TV-Karrieristen aus Quotenhausen und schwitzenden Wendeverlierern aus dem Land der roten Laterne.

Hungern, Streiten, Heucheln

Die Bühne von Nicolaus Heyse zeigt Versatzstücke einer Wirtshauseinrichtung nebst Kegelbahn und Dorfplatz sowie im Wechsel eine Show-Kulisse für die großen Auftritte der Adipösen. Hier also wird ausgiebig gehungert, gestritten und geheuchelt, mehr als drei Stunden lang. Mit von der Partie: die verwitwete Wirtin Bärbel, der frühverrentete Postbote Gerd, das unzertrennlich Dorftrottel-Gespann Dennis und Dustin, der ehemalige Traktorist Manfred, seine Frau Regine, Bäuerin. Drumherum ist ein Panoptikum weitere Dorfbewohner gruppiert, vom pseudoeifrigen Dorfpolizisten bis zur böse orakelenden Hexe im Rollstuhl, außerdem die Damen und Herren vom Fernsehen, bestehend aus dem Quotenzyniker Dr. Endress samt Sekretärin, dem Redakteur Karsten, der eigentlich vom Filmemachen träumt, und dessen Freundin Nicol, die als Moderatorin zu reüssieren versteht.

Von Ferne erinnert die Story an die britische Sozialkomödie "Ladies Night" von Stephen Sinclaire und Anthony McCarten, einen Schenkelklopfer aus dem 90er Jahren, bei dem ein halbes Dutzend Arbeiter versucht, mit Striptease Geld zu verdienen. Nur fallen keine Hüllen, dafür aber wird das (westliche) Spaßbad-TV durch den Kakao gezogen und mit der (östlichen) Gegenwelt kleiner bodenständiger Verhältnisse kontrastiert.

Beeindruckende Naivität

Steinbergs Stück ist von beeindruckender Schlichtheit und Vordergründigkeit, stereotyp bis zum Abwinken, eher harmlos als böse und angereichert mit Mundart-Dialogen auf Soap-Niveau.  Wenn Rolf Hochhuth zum Ohnesorg-Theater übergelaufen wäre und das Ohnesorg-Theater in Sachsen Anhalt läge, käme vielleicht etwas Ähnliches heraus wie dieser augenzwinkernde Abspeck-Zirkus mit seiner billigen Moral.

Regisseur Brenner will dem nichts entgegen setzen – im Gegenteil. Er stürzt sich mit ganzem Herzen auf die Untiefen einer turbulenten Typenkomödie, was immerhin erfrischend ehrlich ist und vom Premierenpublikum auch mit Entzücken aufgenommen wurde. Die Szenen sind gut austariert, der Klamauk und die Running Gags sitzen und helfen über die Längen des Textes hinweg.

Gerettet hat ihn aber vor allem ein famos aufspielendes Ensemble, das im Komödienfach zuhause zu sein scheint, angefangen von Lokalstar Hilmar Eichhorn, der seinen Ex-Traktoristen mit argloser Naivität ausstattet, bis hin zu den Demnächst-Ensemblemitgliedern David Kramer und Nicole Schubert, er als dauergestresster Jungredakteur Karsten, sie als kokett aufstiegsorientierte Moderatorin Nicol.

Ein Schalmeien-Orchester aus dem Saalekreis hat auch noch aufgespielt, das war sehr nett.


Zscherben – Ein Dorf nimmt ab! (UA)
von Jörg Steinberg
Regie: Matthias Brenner, Bühne: Nicolaus-Johannes Heyse, Kostüme: Julia Kneusels, Musik: Alexander Suckel, Dramaturgie: Jörg Steinberg.
Mit: Jörg Simonides, Barbara Zinn, Peter W. Bachmann, Andreas Range, Stanislaw Brankatschk, Danne Hoffmann, Karl-Fred Müller, Jonas Schütte, Wolf Gerlach, Hilmar Eichhorn, Petra Ehlert, Elke Richter, Joachim Unger, Peer-Uwe Teska, Hanne Schubert, David Kramer, Nicoline Schubert

www.bühnen-halle.de

 

Zuletzt hat Matthias Brenner im März 2011 am Volkstheater Rostock Effi Briest inszeniert; diese Arbeit konnte aber, aus baurechtlichen Gründen, nur im Internet als Live-Übertragung gezeigt werden. 


Kritikenrundschau

Für Nina May von der Leipziger Volkszeitung (9.5.2011) ist dieser Abend ein gelungenes Exempel des avisierten "Bevölkerungstheaters", das dem künftigen Intendanten Matthias Brenner für Halle vorschwebt: "Am Ende erscheint dem Zuschauer jeder Einzelne dieser Dorfbewohner von Zscherben mit seinen Macken und Eigentümlichkeiten sympathisch, stellt sich eine ähnliche Verbundenheit mit dieser verschrobenen Gemeinschaft ein wie bei britischen Arbeiterkomödien". Peter W. Bachmann als Personal Trainer mit "gefaktem Akzent und tuntigem Auftreten" sei "ein Genuss". Auch sonst hat die Kritikerin viel für die darstellerischen Leistungen übrig. Die Geschichte ziehe sich mit "dreieinhalb Stunden doch ein wenig zu lang" hin; dennoch würdigt die Kritikerin die soziologische Dimension des Abends (Stichwort: shrinking cities) und regt – im Sinne des Spiels mit Fernsehformaten – eine Fortsetzung als Sequel an.



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