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Es ist nichts passiert

von Thomas Askan Vierich

Wien, 14. Mai 2011. "Das ist also das berühmte englische Theater", sagt ein kluger Kollege danach. "Keine Mätzchen." Genau. Katie Mitchell verzichtet auf alle medientechnischen Tricks, für die sie bekannt ist. Keine Videos, keine DJs auf der Bühne, keine Traumwelten. Nur zwei Schiebetüren, die sich öffnen und schließen und wie ein Maul die Realität ausspucken.

Sie geben den Blick frei auf eher enge, stimmungsvoll ausgeleuchtete Räume. So kann auch auf der riesigen Bühne in der Halle G des Wiener MuseumQuartiers Intimität entstehen. Diese Intimität brauchen die drei Szenen Simon Stephens', die nur locker zusammenhängen und in denen jeweils zwei Menschen unter oft dubiosen Umständen aufeinandertreffen. Es geht um den Moment. Was die beiden miteinander zu tun haben. Um eine dunkle Vergangenheit. Gleich muss etwas passieren. Doch es passiert nichts. Fast nichts. Man hört nur immer wieder Flugzeuge im Tiefflug.

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© Stephen Cummiskey

Abschied

Im ersten Akt stehen ein junger Mann und eine ältere Frau auf der Veranda eines heruntergekommenen Hauses. Der Mann beobachtet den Regen. Er wartet auf seinen Transatlantikflug, der ihn in ein neues Leben befördern wird. Die Frau ist nervös, sie will ihn bemuttern. Was er lächelnd ablehnt. Er nennt sie "Frieda". Bald stellt sich heraus, dass sie seine Pflegemutter ist. Und dass das marode Haus einer dritten Landebahn für den Flughafen Heathrow weichen wird. Beide sind aufgeregt, mögen sich, versuchen das aber herunterzuspielen. Sie stehen nebeneinander, ringen mit den Armen und Händen. Eine halbe Stunde geht das so. Sie reden. Ihre Zeit läuft ab. Und man schaut ihnen gebannt dabei zu.

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Weil jeder Ton, jede Geste stimmt. Das ist die große Kunst von Katie Mitchell und Simon Stephens. Und von ihren Schauspielern, natürlich. Zwischen den Zeilen schimmert ein Schmerz. Der junge Mann war an einem Autounfall beteiligt. Den er überlebt hat. Sein Freund nicht. Deshalb macht er sich Vorwürfe. Frieda will ihn nicht gehen lassen. Aber die Stunde des Abschieds ist unumkehrbar gekommen. Am Ende fragt er sie, ob er sie umarmen dürfe. Endlich. Aber bevor es so weit kommt, fahren die Schiebetüren zu. Es ist nichts passiert. Nichts offensichtliches jedenfalls.

Übergang/Transition

Die zweite Szene spielt in einem Hotelzimmer gleich neben dem Flughafen. Man hört wieder Flugzeuge. Es hat auch wieder geregnet. Ein 30-jähriger Mann hat eine Verabredung mit einer zwölf Jahre älteren Frau. Beide sind nervös. Er ist verheiratet. Sie auch. Sie werden Sex haben. Sie reden. Zunächst Belangloses. Aber sie hat eine Vorgeschichte. Sie hat jahrelang Heroin genommen und als Pornodarstellerin gearbeitet. Er ist peinlich berührt. Ihr scheint es nichts auszumachen. Sie ist sogar ein bisschen stolz darauf. Eigentlich ist sie Polizistin. Dann eröffnet sie ihm, dass sie ihn gerne fesseln würde. Dass er sie schlagen solle. Jetzt ist er wirklich schockiert. Dann schlägt er sie. Dreimal. Ins Gesicht. Sie sprechen weiter. Als sei nichts passiert. Er weint. Oder auch nicht. Die Schiebetüren fahren zu.

Wieder ist es Stephens und Mitchell gelungen, aus ganz wenig ganz viel zu machen. Der Witz liegt im Understatement. In der Nonchalance, mit der diese Polizistin von ihren sexuellen Erfahrungen und Fantasien erzählt. Was ist peinlich daran, sich von sieben fremden Männern Sperma ins Haar spritzen zu lassen? Oder sich schlagen lassen zu wollen? Sie klingt, als würde sie ihrem potenziellen Liebhaber ihre Lieblingssongs aufzählen. Aber alle spüren: Sie wandeln auf brüchigem Boden. Die Spalten öffnen sich. Die Polizistin erzählt von einem See, an den sie als Kind mit ihrem Vater gefahren ist: Wastwater ist der tiefste See Englands. "Er sieht ganz still aus", hatte ihr Vater erklärt. "Aber du solltest mal sehen, wie viele Leichen hier versteckt sind."

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© Stephen Cummiskey

Abschied

Wenn die Schiebetüren erneut aufgehen, zeigen sie eine schmutzige Fabrikhalle. Vielleicht in Heathrow. Hier treffen sich eine junge Frau und ein 43-jähriger Mann. Sie haben ein Geschäft zu erledigen. Etwas Illegales. Er wird für etwas bezahlen, das ihm zumindest peinlich ist. Sie scheint das zu genießen und spielt mit ihm. Stellt ihm sinnlose Fragen wie bei einem Test. Er will von ihr und ihrer Organisation ein Kind kaufen. Erst glaubt man, um sich an ihm zu vergehen. Jetzt ist der Spalt weit offen. Man hat den Porno noch im Ohr. Doch es geht lediglich um eine Adoption. Gleich wird ein kleines Mädchen ankommen. Aus Asien. Sie landet gerade in Heathrow. Dann zieht die junge Frau eine Pistole und zielt auf den Mann. Der windet sich in Todesangst vor ihr. Gleich wird es knallen. Jeder hört bereits den Schuss. Der lag schon lange in der Luft. Doch es knallt nicht. Die Frau steckt die Pistole lachend wieder ein. "Das funktioniert immer", sagt sie. Der Mann rappelt sich mühsam auf. Dann betritt das kleine Mädchen die Bühne. Sie sieht den Mann stumm an. Er versucht ihr zu erklären, wer er ist. "Ich mag dein Kleid", sagt er. "Es ist sehr hübsch." Die junge Frau verschwindet mit dem Geld. Der Mann ist allein mit dem Mädchen. "Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll", sind seine letzten Worte. Dann fahren die Schiebetüren zu. Das Stück ist aus. Nein, kurz fahren die Türen noch einmal auf und zeigen die leere Fabrikhalle. Dann gehen sie endgültig zu.

Mehr gibt es nicht zu sehen. Mehr braucht man auch nicht sehen. Eine Stunde und vierzig Minuten atemberaubend stimmiges Theater. Auch wenn es keine Pointe gibt. Das Leben gibt einem selten Pointen. Simon Stephens hat jüngst erklärt, Stückeschreiber sollten ans Theater gehen, mit Schauspielern und Regisseuren sprechen, mit ihnen arbeiten. Stephens hat vorgemacht, was dabei herauskommen kann. Bravo.

 

Wastwater
von Simon Stephens
Regie: Katie Mitchell, Bühne und Kostüme: Lizzie Clachan, Licht: Lucy Carter, Sounddesign: Gareth Fry.
Mit: Linda Bassett, Amanda Hale, Jo McInnes, Paul Ready, Tom Sturridge, Angus Wright, Nicole Pasahol / Sarah Jozelle Rojas.

www.festwochen.at
www.royalcourttheatre.com

 

Beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens 2011 hielt Simon Stephens die Eröffnungsrede. Sie ist ein Plädoyer für die Selbstbescheidung der Autoren Plädoyer für die Selbstbescheidung der Autoren und die in Deutschland umstrittene Praxisnähe – auf nachtkritik.de in englischer Sprache nachzulesen.

Mehr Festwochen 2011? Der New Yorker Theatermacher Richard Maxwell zeigte in Wien Neutral Hero. Und mit Christoph Marthaler ging es zu +-0.Ein supolares Basislager.

 

Kritikenrundschau

Simon Stephens' Szenen seien "an der Oberfläche ruhig, doch die Dialoge haben beunruhigende Unterströmungen", schreibt Norbert Mayer in der Presse (16.5.2011). "Es geht um Verlust, Grausamkeit und Erniedrigung in diesem Triptychon geheimnisvoller Beziehungen, um Liebe, aber auch um Handel mit Kindern." Mit "ihrer latenten Gewalt und traurigen Passivität" blieben die Szenen "zweideutig". Die hohe Kunst von Simon Stephens bestehe darin, "dass er immer nur schmale Ausschnitte zeigt, die viel offenlassen. Da werden große Fragen gestellt. Wastwater ist ein unergründlicher See. Was ist der Mensch? Wo geht er hin?" In Katie Mitchells Inszenierung werde "feiner Realismus aus England" geboten. Die Produktion kenne "keine Mätzchen; hervorragende Schauspieler, bei denen jede subtile Pointe sitzt, eindringliche Bilder."

"Die wenigen, die Welt der insgesamt sechs Protagonisten verbindenden Sätze sind die dramaturgische Feinmotorik dieses düsteren Stücks", beobachtet Margarete Affenzeller im Standard (16.5.2011). "Wie in einem Krimi geht man auf Fährte und sucht in den Andeutungen nach Gründen, warum jemand das geworden ist, was er ist oder das tut, was er eben getan hat oder tun wird. Regisseurin Mitchell platziert diese sich rätselhaft entwickelnden Dialoge, traditionell angelsächsisch in ganz realistischen Bühnensettings. Alle drei Schauplätze erzeugen (…) Unbehagen". Mitchell inszeniere "die unheilvolle Stimmung mit erstickender Vehemenz, so viel Bedrohlichkeit ist man am zeitgenössischen Theater nur mehr selten angehalten 'nachzufühlen'". Doch es bleibe "die Frage, ob nicht weniger Beklemmung zugleich mehr Distanz und damit Verständnis für die Figuren ermöglichen würde".

Es sei Stephens' Spezialität, "Fährten zu legen, die im Sand verlaufen, vieles nur in Andeutungen zu skizzieren und doch offenzulassen", meint Sophia Felbermair für den ORF (15.5.2011). "Wastwater" erzeuge "Spannung, indem es das Publikum lauern lässt, auf Dinge, die passieren könnten – und dann doch in den meisten Fällen ausbleiben." Mit Stephens' stärksten Stücken wie "Motortown" könne "Wastwater" allerdings nicht konkurrieren. Katie Mitchells Inszenierungsstil sei "präzise und geradlinig. Statt auf große Regieideen oder Effekte setzt sie auf fast filmische Ästhetik. Auf Spielereien, Livevideo-Einspielungen und ähnliche Tricks, die sonst zu ihrem Standardrepertoire gehören, verzichtete Mitchell in dieser Inszenierung. Sie wären auch nicht notwendig gewesen, der Text, das Ensemble und das stimmungsvolle Bühnenbild (Lizzie Clachan) tragen den Abend mühelos."

"Arg enttäuscht" ist hingegen Hartmut Krug auf Deutschlandfunk (15.5.2011). Simon Stephens habe "ein reißbrettartiges Ping-Pong-Dialog-Stück" geschrieben: "Die im normalen Plauderton vorgetragenen, recht geheimnislosen Szenen behaupten viel allzu offenbare und auftrumpfende tiefere existentielle Bedeutung." Was bei "Motortown" noch als virtuos empfunden worden sei, "ist hier zu einer reinen Bedeutungs-Andeutungsmasche verkommen: Problemboulevard, so glatt und vorhersehbar in seinem Rhythmus von Enthüllungen, dass der Zuschauer nie überrascht wird, sondern immer nur gelassen bis gelangweilt 'ja, ja' sagen kann." Regisseurin Katie Mitchell zeige hier "wieder als solide Handwerkerin eines realistischen Erzähl- und Erklärtheaters" und inszeniere die Szenen "recht bewegungslos, wenn auch sprachlich konzentriert".

Für Stephan Hilpold, er schreibt in der Frankfurter Rundschau (17.5.2011), ist das erste Bild, eine "berührend ungelenke Situation", zugleich die sowohl im Stück als auch auf der Bühne gelungenste. Sachte skizziere Stephens eine "zärtliche Beziehung auf Zeit, deren Stunde geschlagen hat". Bei der zweiten Szene habe man ein wenig "das Gefühl, diese Szene schon öfters gesehen zu haben". Im dritten Bild werde das Kindheitsthema, das alle drei Szenen durchzieht wird hier endgültig zum "Kindheitstrauma". Stärker als der thematische Bogen halte die Szenen aber "ein Gefühl der Unruhe" zusammen. "Glasklar und mit sezierendem Blick" stelle Mitchell dieses "Triptychon des Unheimlichen" auf die Bühne. "Keine Schnörkel, kein Firlefanz. So einfach kann Theater sein."

Dirk Schümer schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.5.2011): Bei allen Bildern oszilliere "die Wirkung auf den Zuschauer" zwischen "Gelächter über die Peinlichkeit und Mitleid über die ausweglose Conditio humana". Katie Mitchell geheimnisse in diese "raffiniert schlichten Dialoge" nichts "Unnötiges" hinein, sie lasse "in fotorealistischer Alltagskulisse" die "famosen Schauspieler" ihre "Abgründe" allenfalls durch winzige Ticks andeuten: "habituelles Kratzen an den Armen, nervöses Nüsternflattern, Knibbeln an den Händen." Das sage mehr als "tausend große Worte".

Bezwingend entspreche Mitchells Uraufführung "dem Ruf des britischen Theaters, ganz ohne Regietheatermarotten auszukommen", so Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (18.5.2011). "Wastwater" sei "pures, extrem realistisches Schauspielertheater". Stephens drei Episoden seien "inhaltlich subtil miteinander verlinkt" und von einem "unterschwelligen Horror (...) durchzuckt. Sie bergen ein Geheimnis, sorgen für Misstrauen und Unbehagen. Es ist der Kopf des Zuschauers, in dem diese Geschichten weiterarbeiten, Fragen, Zweifel und Monster gebären." Es sei Stephens große Qualität, "mit minimalen Mitteln messerscharfe Ausrisse der Realität zu liefern – und es tun sich Abgründe auf". Der Realismus, mit dem Mitchell und ihre Schauspieler das vorführten, sei "von einer gestochenen Brillanz, ja beinahe Überschärfe, die schon beim Draufschauen schmerzt".

Der Flughafen ist die "Zentralmacht" des Stückes, schreibt Peter Kümmel (Die Zeit, 19.5.2011). "Wastwater" spiele "im Schatten von Terminal Five, dem modernsten Terminal" des Londoner Flughafens Heathrow. Dieser Ort, sage Stephens, sei das schönste Gebäude des neuen Londons: "Ein großartiger Ort", so Stephens, "der Lebensstil, der mit ihm zusammenhängt, wird uns umbringen." Die drei Einakter handelten davon, wie der Flughafen "die Welt frisst". Stephens' Figuren seien dabei "gar nicht richtig 'da', egal, wo sie sind", das zeige Mitchells Inszenierung: "Es ist alles dringen, was hier geschieht, und es ist endgültig."

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