Einübung in die Gegenwart

Wrocław, Oktober 2007. Theater als Wirklichkeitsbefragung oder als anthropologisches Institut? Das Festival "Dialog" ist für den Streit der ideale Ort, gerade, weil es wie dieses Jahr auch Inszenierungen präsentiert, die sich dieser Gegenüberstellung entziehen. 

Von Dirk Pilz

Wrocław, Oktober 2007. Zwischen den Zuschauern liegt ein schwitzender Mann. Er hat sich von der Decke heruntergestürzt, während die Mitspieler weiter ihre Satzfetzen in Mikros hecheln, durch den Raum stürmen und jede Szene zum Anlass eines schrillen Anti-Theaters nehmen. Zehn Darsteller, die das diebische Vergnügen an der Auflösung jeglicher Handlungsordnung treibt. Einerseits.

Andererseits ist die Inszenierung des jungen Regisseurs Michał Zadara von einer tief greifenden Frage getrieben: "Kann man so leben?" Das ist auch der Fluchtpunkt der Vorlage, dem Ende der 50er Jahre entstandenen Schauspiel "Die Kartothek" von Tadeusz Różewicz. Ein polnischer Klassiker, der von der Unfähigkeit handelt, einer gewandelten Gegenwart die entsprechende Lebensform abzugewinnen. "Wie gelebt wird, das muss noch gespielt werden", heißt es im Text.

Ära ohne Leitfiguren

Różewicz hatte sein Drama einst auf die Nachkriegszeit gemünzt; Zadara übersetzt es ins Jahr 18 nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes. Die Zeiten haben sich geändert, die Bühnensprachen auch. Im polnischen Theater besonders in den letzten fünf Jahren. Davor schien es in einer Phase der Stagnation zu stecken. Jerzy Grotowski zog 1982 in die USA, 1990 starb Tadeusz Kantor, ein Jahr zuvor bereits der wichtige Theatermann Zygmunt Hübner. Der Kommunismus hatte das Theater in eine Ära ohne Leitfiguren entlassen.

Ästhetisch viel versprechend war zu Beginn der Neunziger einzig das Stary Teatr in Krakow, mit Jerzy Jarocki als herausragendem Regisseur. Und mit Krystian Lupas stimmungsvollen Inszenierungen, die lange unbemerkt blieben, ehe er zum dominanten polnischen Regisseur des Jahrzehnts wurde. Vor allem, weil er hoch poetische Abende schuf.

Poetisch, bildstark, atmosphärenreich. Das waren lange die oft herumgereichten Stichworte für polnisches Theater. Nicht zu unrecht. Die tradierte Leitfrage der Bühne war diejenige nach dem, was den Menschen im Innersten zusammenhält. Es gab zwar auch in den Neunzigern Freie Gruppen wie die hoch formalen Warschauer Performer Akademia Ruchu oder die absurden Bewegungsspiele des Teatr Cinema. Die prägenden Ästhetiken waren aber an Seelensuche und Sprachfeier interessiert.

Was soll das Theater?

Und jetzt also Konzept-Theater wie das von Michał Zadara. Anders als im deutschsprachigen Raum ruft er damit nicht nur die Apologeten der Texttreue auf den Plan. In Polen tobt eine sehr viel existenziellere Debatte: Wie viel Gegenwart verträgt die Bühne? Und sollte Theater nicht wesentlich der Vermittlung von (katholischen) Werten dienen statt Realität abzubilden?

Krystyna Meissner, mit 74 Jahren die Grand Dame der Szene und Leiterin des seit 2001 zweijährig stattfindenden Festivals "Dialog" in Wrocław, findet, das Theater dürfe nicht länger die Wirklichkeit ignorieren, sondern müsse daran teilnehmen. "Alles darf gesagt, alles darf gezeigt werden." Sie gibt deshalb bei "Dialog" wie auch als Intendantin des einflussreichen Teatr Współczesny in Wrocław gerade den jungen, wilden Stimmen eine Plattform.

Zadara eben, den sie zur diesjährigen Festival-Ausgabe Mitte Oktober gleich mit zwei Inszenierungen einlud; oder Jan Klata, dessen "Orestie" ein unmissverständlicher Kommentar zum noch immer fremdelnden Umgang mit der Demokratie in Polen ist. Nicht wenige werfen solchem Theater vor, einzig auf Inhalte und Aktualität zu setzen. Vom "Tsunami der Jugend" spricht die Kritik. Ein Sturm, der die derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Bühne bläst. Wie realistisch aufgeladen darf das Theater sein?

Das Wunder von Wałbrzych

Piotr Kruszczyński sagt: So realistisch wie möglich. Als er vor fünf Jahren das Provinztheater in Wałbrzych, unweit von Wrocław, übernahm, fanden die Vorstellungen meist vormittags vor zwanzig, dreißig Zuschauern statt. Jetzt macht die Rede vom "Wunder Wałbrzych" die Runde. Kruszczyński fand eine ehemalige Bergbaustadt mit 30 Prozent Arbeitslosigkeit und viel Frustration vor. Eine "Enklave des Unglücks". Das Unglück ist nicht gewichen, aber das Theater inzwischen Thema Nummer Eins in ganz Polen.

Denn Kruszczyński hat sein Programm an der Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort orientiert; sie fühlen sich ernst genommen und strömen ins Haus. Und er holte junge Leidenschaftliche wie Klata oder den Autor Michal Wałzak, der mit "Bergwerk" ein Stück über das schwierige Leben in Wałbrzych schrieb. Nicht unkritisch, sondern realitätsgesättigt. Zuletzt hatte in Wałbrzych Genets "Balkon" Premiere, inszeniert als heftige Kritik an der katholischen Kirche. Die Stadtoberen rümpfen die Nase und wollen lieber eines der die (katholische) Tradition wahrenden Dramen von Johannes Paul II. aufgeführt sehen.

Kruszczyński erzählt davon mit einer Mischung aus Stolz und Trotz. Sein Theater ist wie das von Zadara und teilweise auch Klata noch vornehmlich damit beschäftigt, dagegen zu sein: gegen den Schmock der Musealität, die Gegenwartsverdrängung und die zum Ästhetizismus neigende Poesieverliebtheit. Dagegen, um der Wirklichkeit auf der Bühne Platz zu schaffen. Theater hat auch therapeutische Funktionen: Wie im heutigen Polen gelebt wird, kann man sich auch vorspielen lassen – als Einübung in die Lebensformen einer veränderten Gegenwart.

Ein Streit um die Zukunft

Die junge Generation sucht deshalb überall die offenen Wunden der Gesellschaft. Wojtek Klemm, ehemals Assistent bei Frank Castorf, hat soeben mit einem "Arturo Ui" als neuer Schauspielchef im oberschlesischen Jelenia Góra den regierenden Rechtskonservativen die Leviten gelesen; demnächst wird er den grassierenden Antisemitismus thematisieren. Jelenia Góra hat damit auch eine Bühne, die ihre Fühler nach den real existierenden Verhältnissen ausstreckt. Der große katholische Sender "Radio Maryja" hat es mit Entsetzen vermeldet.

Theater als Wirklichkeitsbefragung oder als anthropologisches Institut? In Polen wird das noch für viel Diskussionsstoff sorgen. Und "Dialog" ist für den Streit der ideale Ort, gerade, weil es wie dieses Jahr auch Inszenierungen präsentiert, die sich dieser Gegenüberstellung entziehen. Krzysztof Warlikowskis sechsstündige Auseinandersetzung mit Tony Kushners "Angel in America" etwa.

Warlikowski scheut das in Polen heikle Thema Homosexualität keineswegs, findet aber zu einer überrumpelnden Bildsprache, mit der die Aktualität des Stoffes ins Allgemeine gewuchtet wird. Ein Abend, der in Sachen Ästhetik punktgenau den (vor allem westlichen) Zeitgeist trifft. Schön poetisch, aber ohne falsches Pathos; ordentlich kritisch, aber nicht aufdringlich. Warlikowskis Theater versöhnt, was in Polen sonst noch auseinander liegt: das Gegenwärtige mit dem Universellen.

 

Kritikenrundschau

Theaterweltenbummlerin Renate Klett war für die Frankfurter Allgemeine (20.10.) in Wrocław – bzw. Breslau, wie die FAZ natürlich schreibt – beim Festival "Dialog". Und hat ein "Meisterwerk" gesehen: Wäre Krzysztof Warlikowskis Inszenierung am TR Warszawa von Tony Kushners "Angels in America" "auf Englisch statt auf Polnisch, würde sie nun jahrelang um die Welt reisen und den Ruhm eines neuen politischen Theaters verkünden, das voller Sinnlichkeit und Trauer von unserer Zeit erzählt." Dem 20 Jahre alten Stück wachse "plötzlich eine Aktualität und Dringlichkeit zu, die niemand für möglich gehalten hätte". Warlikowski mache das Stück "zu einem Manifest der Liebe und der Menschlichkeit, zu einer Elegie auf die Aids-Toten und zu einem Protest gegen Kaczynskis Polen und Bushs Amerika." Daneben weist Renate Klett noch auf eine "Macbeth"-Version des Regisseurs und Psychotherapeuten Krzysztof Papis hin, die dieser mit Insassen des Gefängnisses in Klodzko erarbeitet hat. Das sei "ein rituelles, sehr polnisches Theater mit Kirchengesängen, Weihrauch und Kerzenschein", dem man sich schwer entziehen könne.

Auch Christine Wahl berichtet im Tagesspiegel (20.10.) von Ovationen beim "Dialog"-Festival für die "Engel in Amerika"-Aufführung. Der Regisseur Warlikowski vermeide "jeden Hang zum Plakativen und kontert den engagiert gesellschaftskritischen Ton von Kushners Textvorlage mit stillen, privaten Liebestragödien vor dem Hintergrund von Aids und schwulen Coming outs". Das Stück aus den 80er Jahren passe "auch hier und jetzt", da die Polen sich sehr wohl erinnern, dass Lech Kaczynski "noch als Warschauer Bürgermeister Homosexuellen-Demonstrationen hatte verbieten oder brutal auflösen lassen". Christine Wahl stellt dann noch einige andere Regisseure vor, die zu der Generation der "Unzufriedenen" gehören und die Warlikowski "an der lokalen Avantgarde-Front" mittlerweile abgelöst hätten: Jan Klata, Michal Zadara, Wojciech Klemm.