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Die übliche Verdächtige

von Sarah Heppekausen

Mülheim, 7. Juni 2011. Hätte sie ihn nicht bekommen, wäre die Meldung wohl eine sensationellere. Elfriede Jelinek erhält den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikerpreis 2011. Nun schon zum vierten Mal bei insgesamt 15 Einladungen, diesmal für ihr Stück Winterreise.

Sie hätte ihn sogar fast ohne Gegenstimmen bekommen, so einig war sich die Jury in der von Gerhard Jörder moderierten Debatte. Wenn die Wiener Theaterkritikerin Karin Cerny nicht für Oliver Klucks "Warteraum Zukunft" votiert hätte, um Jelinek "nicht einfach durchzuwinken". Und wenn sich Autor und Dramaturg Andreas Marber nicht für "Verrücktes Blut" von Nurkan Erpulat und Jens Hillje entschieden hätte, obwohl er "Winterreise" für "das beste Stück" der ausgewählten sieben hält.

Relativ grobschlächtig

"Eine Reise durch Wortvegetationen" hat Autor Feridun Zaimoglu bei Jelinek entdeckt. Genauso wie "Sprachmacht und Sprachpracht" – etwas, was seiner Ansicht nach in den letzten Jahren im deutschen Theater vernachlässigt wurde, weil man sich zu viel auf das mediale Gequassel eingelassen habe. "Gewaltig" nennt Marber das Stück. Anders als Judith Gerstenberg (Dramaturgin am Schauspiel Hannover) konnten die beiden Theaterkritikerinnen Karin Cerny und Barbara Burckhardt zwar mit Johan Simons Inszenierung an den Münchner Kammerspielen nicht sehr viel anfangen ("relativ grobschlächtig" meinte Cerny, Burckhardt vermisste schmerzlich den letzten Teil nach dem Leiermann-Motiv), über die Qualität des nach Cerny "sehr zarten" Textes musste aber kaum noch diskutiert werden.

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"Winterreise" aus München. © Julian Röder

Mehr Diskussionspotenzial boten andere, zum Beispiel das Stück zur Sarrazin-Stunde Verrücktes Blut, das den diesjährigen Publikumspreis erhält. Für Verfechterin Burckhardt ist "Verrücktes Blut" ein well-made-play mit Kabarett-Qualitäten und einer Menge dialektischer Wendungen. Für Zaimoglu hingegen ist das Stück schlampig. Über die mediale Hysterie – bei einigen Journalisten habe er gar mehr ein Erweckungserlebnis als eine Kritik gelesen – sei er verwundert gewesen, zumindest so lange bis er die Inszenierung gesehen habe. Auch Gerstenberg zeigte sich überrascht über den Erfolg: "Das Spiel mit Vorurteilen gab es doch schon vorher in vielen Stücken". Anders Marber: Ihn habe das Stück sehr bewegt, die Inszenierung weniger ("da treffen fünf starke Menschen auf eine Micky Maus").

Völlig vorbeigerauscht

Leichter fiel da schon der Abschied von drei ersten Kandidaten: von Felicia Zellers Gespräche mit Astronauten – für die einen wie Yoga (Zaimoglu) und ein kaum aufführbares Stück (Burckhardt), für den anderen spießig und reaktionär in seiner zynischen Annäherung an die Menschen (Marber). Von Lutz Hübners Die Firma dankt – für die eine weniger irrwitzig als es die Wirklichkeit selbst ist (Gerstenberg), für die andere hat Hübner Pollesch-Thesen in eine Bürgerlichkeit übersetzt. Und von Kevin Rittbergers Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung – für Sprachverteidiger Zaimoglu zu unsensibel und bruchstückhaft, für Burckhardt zu feige, um eine klare Position zu beziehen.

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Bei Fritz Katers we are blood konnte sich die Jury nicht darauf einigen, ob da Menschen mit freier Entscheidungsmöglichkeit beschrieben würden oder eben nicht. Oder – wie Marber sagen würde – ob das Stück klüger sei als der Autor. Bei Warteraum Zukunft wurde die interessante Innenperspektive von der einen Seite gelobt (Cerny, Gerstenberg), an der anderen rauschte die allerdings "völlig vorbei" (Marber).

Unübertroffene Kunstsprache

Und so kürte die Jury zwei Stunden, einige persönliche Bekenntnisse (Zaimoglu träumte von Szenen, Cerny mag den kalten, ungerechten Blick auf die Welt und Marber wird als Zuschauer nicht gerne von Schauspielern angeglotzt) und konträre Ansichten später Jelineks "Winterreise", nachvollziehbar und ganz ohne Not zu solistisch-verbalem Kampfgeist. Jelinek war der gemeinsame Nenner aus einer Auswahl, die für Cerny insgesamt das Thema Überforderung widerspiegelt und der nach Zaimoglu wieder mehr Welthaltigkeit innewohnt. Politisches, soziales Theater habe er gelesen. Nur sei es wichtig, auch eine eigene Kunstsprache zu finden. Und da bleibt Jelinek mit ihrer persönlichen Reise in die familiäre Vergangenheit, die sie – in Anlehnung an Schuberts "Winterreise" – überträgt in eine Sturzflut an Allegorien, Wortspielereien und gewohnt figurenloser, dafür polyphoner Poesie eben unübertroffen.

Es ist eine Konsensentscheidung gegen die dramatischen Vertreter eines globalen und interkulturellen Diskurses oder der kritischen Einsicht in unsere Arbeitswelt, also gegen konkrete Analysen unserer Zeit in und aus einer bestimmten Perspektive. Es ist die Entscheidung für einen "singulären Kontinent", wie Cerny Jelineks Werk beschreibt, und damit auf der sicheren, (trotz Zeitbezügen) zeitloseren und sprachlich spannenderen Seite. Und durchaus auch im Sinne des Publikums, denn die meisten Zuschauerstimmen nach "Verrücktes Blut" bekam die "Winterreise".

 

Presseschau

"Das deutsche Gegenwartstheater ist politisch, konkret, weniger Nabelschau und Befindlichkeitsstück als Analyseanstalt für die Wirklichkeit", befindet Karin Fischer (Kultur heute, Deutschlandfunk, 8.6.2011). Und Jelinek? "Jelinek ist ein Solitär, der in diesem Jahr besonders einsam leuchtete. Neue Stücke von Peter Handke und Botho Strauß gab es schlicht nicht, das von Peter Turrini war schwach."

"Sie machen alles richtig", die Dramatiker, sie "recherchieren über afrikanische Flüchtlinge, schreiben über die Zumutungen der Arbeitswelt und die Leiden von Au-pair-Mädchen aus dem Ostblock. Ihre Stücke sind gesellschaftlich relevant und manchmal sogar witzig. Doch den Mülheimer Dramatikerpreis kriegen sie dafür nicht.", schreibt Stefan Keim (Die Welt, 9.6.2011). Der gehe an eine Elfriede Jelinek, "die weitgehend über ihren Computer die Welt wahrnimmt und sie genauer, böser und ironischer spiegelt als jeder andere Stückeschreiber". Übermächtig wirke die Literaturnobelpreisträgerin, "die Preisjury verneigte sich in ihrer öffentlichen Diskussion nur noch vor ihr, kein anderes Stück war ernsthafte Konkurrenz". Jelineks "Mischung aus lustvoller Selbstzerstörung und radikaler Gesellschaftskritik bleibt einzigartig - und doch wird Jelinek selten nachgespielt. Es gibt viele mittlere Theater, in denen noch nie ein Jelinek-Text gesprochen wurde. Für den Alltagsgebrauch schreiben andere, und das auf hohem Niveau". Der Publikumspreis ging an "Verrücktes Blut", obwohl der "pure Text", so Keim, "manche Schwäche" habe. "Doch eben das zeigt eine Tendenz der neuen Dramatik. Sie ist direkt performativ gedacht, mit dem Entstehungsprozess der Aufführung verzahnt."

Auch Claudia Schmied, Österreichs Kulturministerin, gratuliert Elfriede Jelinek, wie APA (9.6.2011) meldet. Und zwar so: Jelineks Werk sei "ein dramatischer Appell gegen die Banalisierung des Schreckens, der auch unsere Welt beherrscht. Sprachgewaltig und radikal enthüllt sie die Tiefen des Menschen und unserer Gesellschaft. Eine Künstlerin wie Elfriede Jelinek braucht unser Land."

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Kommentare  
Jury-Abschlussdiskussion in Mülheim: das Publikum überflügelt die Experten
zaimoglu hat wohl angst um seinen eigenen anschluss in der gesellschaft der deutschen highclass autoren und stellt sich gut mit jelinek, in dem er verrücktes blut als schlampig bezeichnet.
necla kelek ist wohl seine beste freundin.
gerade er scheint das stück in keinster weise begriffen zu haben von herrn marber ganz zu schweigen.
dies gilt auch für das petras stück. nichts verstanden die herren.
zum glück lebt das theater von der meinung des publikums und nicht von der von "experten".
der publikumspreis sagt alles.
es lebe die vielfalt!
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