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Mit Ödipus gegen die Ödnis

von Matthias Schmidt

Dessau, 24. Juni 2011. Das neue "Alte Theater" von Dessau hat es nicht leicht. Ein Zweckbau, wie ihn Stadtplaner sich gerne für fröhliche Arbeitsämter aufschwatzen lassen, in die man als "Kunde" dann gerne gehen soll. Man kann das originell nennen, freundlich und farbenfroh, wie es ist, bauhauseckig und doch kein Würfel. Genau genommen aber kann man es auch als folgerichtige Rückseite des "Rathaus-Centers" verstehen, der benachbarten Shopping Mall.

Später Nachmittag vor dem "Alten Theater": Auf den riesigen Bänken sitzen ein paar Bewohner der daneben stehenden "Platte", nehmen Getränke ein und lamentieren weithin vernehmbar, früher sei der Zusammenhalt im Haus größer gewesen. Das Theater steht mitten in Klischees, das Flair ist nicht eben hochkulturell. Genau das wollen die Theaterleute ändern, aus dem "Alten Theater" einen Ort der Lebens- und der Hochkultur und – ja, auch das – der guten Gastronomie machen. Das Spektakel kann beginnen.

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Es heißt "Ein Antike-Projekt", was ein bisschen an Christoph Schroths Schweriner "Antiken-Entdeckungen" von 1982 erinnert, nur dass es viel kleiner ist. Ein wenig zu klein eigentlich, um Spektakel genannt zu werden, doch sei's drum.

© Claudia Heysel
"Ödipus Tyrann"
© Claudia Heysel

Bierchen bei Tiresias

Teil 1, Auftritt Ödipus und Kreon auf dem Platz vor dem Theater: zwei Herren im Anzug, Lokalpolitiker der eine, der andere mit seiner Sonnebrille – sagen wir – Berater. Aus dem Publikum, das auf grob getischlerten Holztraversen sitzt, erhebt sich ein Bürgerchor und spricht, mehr oder weniger frei – die Hölderlin'schen Verse. Im heimischen Dialekt. Es ist, als spielten wir alle mit. Als ginge es uns alle an. Alles geschieht lapidar, meint: echt. Das ist schön anzuschauen, sorgt für kleine Verunsicherungen und Heiterkeiten, aber leider ist es dann doch etwas zu kraftlos für die große Tragödie, um die es eigentlich geht.

Tiresias, der blinde Seher, ist ein Obdachloser, mit Schlafsack und Decke und seinem halben Leben im Einkauf-Rolli. Sein Darsteller, Bernd Lücken, ist ein schwer an Parkinson erkrankter Laie, der sich für die Rolle als Tiresias beworben hat. Er ist ein Highlight der Inszenierung, nicht, weil er diese Rolle trotz der Krankheit bewältigt, sondern wie er sie gerade dadurch prägt. Das ist echt und theatral zugleich und wirkt, im Gegensatz zu manchen der anderen Ideen, tatsächlich nach.

Als er sich nach seinem Auftritt auf dem kühlen Beton zur Ruhe legt, liegt dort keiner, der ein Schauspieler ist, sondern einer, der zu den traurigen Nachmittagstrinkern gehören könnte. Am Ende trinken alle ein Bierchen mit Tiresias; den Flaschenöffner hat er im Rollwagen dabei Dieser "Ödipus" bleibt vor allem deshalb am ehesten als Sozialdrama in Erinnerung.

© Claudia Heysel
"Mamma Medea" © Claudia Heysel

Rosenkrieg im Kinderparadies

Teil 2, Tom Lanoyes flotte Fassung der "Medea". Die Studio-Bühne im "Alten Theater" ist voller kleiner Plastikbälle, und wie im Ikea-Kinderparadies spielen Medeas Kinder darin. Ihre Eltern liefern unterdessen einen Rosenkrieg vom Feinsten ab. Soll es geben, nicht nur in Korinth.

Auch diese Inszenierung ist weniger Antike als der Name sagt, aber ging es nicht um Verwandlungen? Tom Lanoye verwandelt den Euripides-Text in einen pointenreichen Geschlechterkampf, in dem Katrin Nowak als Medea und Sebastian Müller-Stahl als Jason großartig aufspielen. Was dem "Ödipus" etwas fehlte, eine in sich geschlossene Regie-Idee, hier wird es nachgereicht. Die Geschichte einer von ihrem Mann zugunsten einer Jüngeren verlassenen Frau namens Medea, die schließlich ihre Kinder umbringt – der Mythos als bedrückende Schablone auf die Nachrichten der Jetztzeit.

© Claudia Heysel
"Ich und du und ein Schiff dazu"
© Claudia Heysel

Homer in der Südsee

Im letzten Teil des Abends werden Schlager gesungen. Die Schauspieler toben sich in schrillen Kostümen nach Herzenslust aus, und das Publikum jubelt. "Monotonie in der Südsee", "Abenteuerland", und sogar Mozart kommt vor. Man kann das bunte Treiben mit viel gutem Willen als Anspielung auf Homers "Odyssee" verstehen, muss man aber nicht. Letztlich ist, was auf der MS "Calypso", einem Kreuzfahrtschiff für Singles, stattfindet, einer dieser Unterhaltungsabende, mit denen die Bühnen landauf landab um Zuschauer kämpfen. Knapp an der Belanglosigkeit vorbei, aber toll und leidenschaftlich gemacht. Eine Kinderspielecke für Schauspieler.

Als die zahlreichen Beteiligten des Abends im Anschluss auf die Bühne kommen, ist das "Antike-Projekt" für einen Moment ein richtiges Spektakel. Mehr davon, für mehr Menschen und mit mehr Bewirtung – da geht was, in und vor dem "Alten Theater" in Dessau!

 

Metamorphosen (Verwandlungen). Ein Antike-Projekt.
In Kooperation mit der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Berlin.

Ödipus Tyrann
von Sophokles
Regie: Uwe Fischer, Bühne: Silvia Maradea, Kostüme: Silvia Maradea, Uwe Fischer, Dramaturgie: Sabeth Braun, Holger Kuhla.
Mit: Stephan Korves, Boris Malré, Bernd Lücken, Katja Sieder, Sabine Noß, Irene Kirsche, Birgit Küster, Margitta Engelmann, Christine Breitmann, Jasmin Kaiser, Anna Scholz, Rita Exner, Corinna Kottke, Barbara Berki, Harald Kaschke, Monika Miseler, Iris Rullert, Doreen Honauer, Claudia Kautzsch, Hannelore Ecknig, Inge Lersch, Rebecca Möbius, Lea Argirov, Alexander Argirov, Enrico Meinhardt.

Mamma Medea
von Tom Lanoye nach Euripides
Regie: Ulrike Müller, Bühne: Jan Lehmann, Kostüme: Katja Schröpfer, Dramaturgie: Sabeth Braun, Holger Kuhla, Holger Teschke.
Mit: Katrin Nowak, Susanne Hessel, Christel Ortmann, Sebastian Müller-Stahl, Gerald Fiedler, Karl Thiele, Marvin Heidrich, Lukas Hildebrand, Anton Möckel.

Ich und du und ein Schiff dazu. Eine Schlagerette an Bord
Uraufführung frei nach Homers "Odyssee"
Regie: Elsa Vortisch, Ausstattung: Nicole Bergmann, Musikalische Leitung: Dorothee Dietz, Boris Cepeda, Dramaturgie: Sabeth Braun, Holger Kuhla, Holger Teschke.
Mit: Sarah Davidovic, Katja Sieder, Jan Kersjes, Patrick Rupar, Dorothee Dietz, Stephan Korves.

www.anhaltisches-theater.de

 

Aus Dessau gab es zuletzt Nachtkritiken zu Woyzeck, Tolles Geld oder Armut ist keine Schande, Doktor Mabuse und Carmen Kittel.

 

Kritikenrundschau

"Vater-, Bruder-, Kindermord, Inzest auch und Kannibalismus: die Antike als Stanzform abendländischer Kultur wird an diesem Abend angerissen, durchlitten und ausgeweidet", schreibt Thomas Altmann in der Mitteldeutschen Zeitung (28.6.2011). Altmann berichtet, dass das für den König Ödipus vorgesehene Regieteam von der Ernst-Busch-Schule abhanden gekommen sei und nun Uwe Fischer versuche zu retten, was in der Hölderlin-Übertragung des Ödipus eigentlich gar nicht zu retten sei. Einleuchtender ür Altmann der zweite Teil mit Tom Lanoyes "Mamma Medea". "Großartig und beklemmend" sei der Dialog auf schiefer Ebene zwischen Katrin Nowak als Medea und Susanne Hessel als Kreusa. "Hier wird jedes Wort Fleisch, jede Geste Wort." Sebastian Müller-Stahl als Jason binde "Macht und Ohnmacht", spiele einen "Karrierist mit Gewissensscherben" und das ganze Team spiele "berufen" mit. Die Geschichte werde "hoch konzentriert erzählt, bis Luftballons platzen". Der Liederabend, der dritte Teil schlißlich, sei ein Panoramablick auf "12.000 Hexameter", eine "unendliche Heimkehr des Banalen auf dem Oberdeck eines Kreuzfahrtschiffes, das die abgestandene Gischt der Mythen quert". Die Schauspieler lieferten einen höhisch hämischen Trip. Unablässig werde idiotisch animiert und köstlich tirilliert".

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