Machospiele, Muskeln, Männerschweiß

von Ralph Gambihler

Leipzig, 26. Oktober 2007. Die Stadttheater könnten ja zusperren, wenn es das Ewigweibliche nicht mehr gäbe, den Vamp, die Venusfalle, das Verhängnis Frau. Welche Lulu hätte die Besucherstatistik nicht zu bessern geholfen? Aber hier ist es ja der andere Fall: der echte Kerl steht auf der Bühne, der Frauenverbraucher, der männliche Mann. Sein Name ist Liliom.

Und wenn man sich zunächst einmal die Frage stellt, warum das Stück, dem er seinen Namen gibt, seit sechs, sieben Jahren eine bemerkenswerte Konjunktur erlebt, dann könnte man auch ohne Kenntnis der einschlägigen Diskurse schlussfolgern: Es muss etwas dran sein an dieser Figur.

Machospiele also. Muskeln. Männerschweiß. Und Frauen, die das ziemlich toll finden. Das alles gibt es jetzt auch am Schauspiel Leipzig, wo Jan Jochymski und das Ensemble mit einer radikal verheutigten und bezwingenden Version von Ferenc Molnárs Rummelplatz-Klassiker am Premierenabend einigen Jubel ernteten.

Hüfte zeigen, bis es knackt

Gleich im ersten Bild schmeißt sich die versammelte Weiblichkeit für das andere Geschlecht in Positur: die Freundinnen Julie und Marie und die Karussellbesitzerin Frau Muskat. Sie drücken das Standbein durch, zeigen Hüfte, bis es knackt, stemmen die Hände kokett in die Kurven. Laufstegmotorik für den Hausgebrauch. Der Herr sieht's gern. Dazu grölen sie mit vereinten Kräften ins Mikrofon, dass sie Männer mögen, "die mit schwerem Gerät gut umgehen können". Fast möchte man an Besenkammern und Boxenluder denken, doch bricht ja gleich eine tragische Liebe los.

Den Wiener Schmäh der "Vorstadtlegende" aus dem Jahr 1909 hat die Regie komplett gestrichen. Und auch für das Sozialdrama interessiert sie sich nicht übermäßig. Letzteres ist noch am ehesten auf der sprachlichen Ebene erkennbar: in einem Unterschichten-Jargon, der die "Fresse" und die "Fotze" kennt. Außerdem, unerwartet und ganz plötzlich, in der herzzerreißenden Selbstmordszene.

Liliom, der Tunichtgut vom Rummel, der "Rausgeschmissene", der Straßenräuber aus Liebe, tötet sich nach dem vermasselten Überfall auf den Kassierer nicht einfach selbst. Nein, er hetzt noch eine Weile sehr lebendig über die Drehbühne, fleht zunächst verdatterte Zuschauer in der ersten Reihe an, ihn endlich abzustechen, dann die restlichen Figuren – was jene, halb ins Licht eines Sterbedeliriums getaucht, schließlich mit Vehemenz erledigen. Auch wir, die Gesellschaft, sind halt ein bisschen die Mörder.

Finster, rauschhaft, unerklärlich

Indessen: Die Szene hat nichts von plakativem Sozialkitsch. Das liegt womöglich schlicht daran, dass der Abend generell mehr das Dionysische einfängt. Unter Kontrolle haben sich Julie und Liliom jedenfalls kein bisschen. Auf der weitgehend leeren, mit Taubendreck und Pfützen verunzierten Bühne von Thilo Richter erleben die zwei eine finster-rauschhafte, eigentlich unerklärliche Liebe.

Eine Amour Fou, beschwert mit einer Sprachlosigkeit, deren Nachhut Gewalt heißt. Die Momente, in denen das Schweigen wie ein unsichtbares Tier über das Paar herfällt, sind beklemmend, die Fluchtversuche zahlreich. Julie und Liliom fliehen in Mätzchen, Posen, Rollen, Aktivitäten – was sich immerhin wie Leben anfühlt.

Zu sehen gibt es in Leipzig auch Schauspielertheater hoher Güte. Da ist sichtlich etwas gewachsen und aufgegangen. Marlène Dunker glänzt als nur oberflächlich selbstbewusste und bockige Julie. In ihrem anfänglichen Girlie steckt eine unsichere, dabei authentische, starke, junge Frau. Die Prügel des Geliebten Liliom, den der hübsch muskulöse, fulminant spielende Alexander Gamnitzer als klassischen Weiberhelden anlegt, steckt sie nicht einfach weg, sondern wendet sie in Gewalt gegen sich selber. Immer wieder wirft sie sich gegen die Wand, wie es der Brutalo gerade tat, besinnungslos und mechanisch. In diesem Moment ist Molnárs Vorlage aufs Dringlichste verknappt. Im Leid dieser bedingungslosen Liebe offenbart sich kein Masochismus, sondern eine stumme, wilde, rasende Hoffnung.

Aber auch: die menschliche Komödie

Ansonsten enthalten die hundert Minuten dieser gut durchkomponierten Herzschmerz-Ballade auch heitere bis bitterkomische, mehr oder weniger sinnige Einschübe. Wenn etwa Passanten auf der Straße per Videoeinspielung äußern, wie sie sich den Mann von heute vorstellen (und dabei vor allem Bedingungen aufzählen). Oder wenn Martin Reik als brummbärchenhafter UPS-Fahrer im Karrierefieber all seine Leidenschaft an die Firmenphilosophie verliert (und damit auch alle Männlichkeit).

Oder wenn kurz vor Schluss, im Jenseitsdrama, Gottes Beamte als Kettensägen schwingende Sado-Maso-Horde über Liliom herfallen (was krampfig-schräg wirkt, aber nichts mehr kaputt machen kann). Oder wenn Armin Dillenberger als Kommissar seine schwarzen Schafe ständig mit ahnungsvollen Tierfabeln verfolgt – dann erreicht diese Molnár-Entstaubung die abgründige Leichtigkeit einer menschlichen Komödie. Und die soll es ja auch noch geben.


Liliom
von Ferenc Molnár
Regie: Jan Jochymski, Bühne, Kostüme und Video: Thilo Reuther.
Mit: Alexander Gamnitzer, Marlène Dunker, Katharina Ley, Susanne Stein, Lisa Weidenmüller, Thomas Dehler, Martin Reik und Armin Dillenberger.

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

Hendrik Pupat berichet in der Leipziger Volkszeitung (29.10.2007) von einer mit Grund "gründlich aktualisierten Bühnenfassung". Denn "der gesellschaftliche Humus, dem Molnárs "Vorstadtlegende" über "Leben und Tod eines Vagabunden" vor 100 Jahren entwuchs, besitzt kaum noch Relevanz." Jochymski spiele deshalb mit den Klischees vom modernen Mann resp. der modernen Frau "bis ins Dokumentarische: Videosequenzen von der Kleinmesse, sogar eine Umfrage zum Mann von heute ergänzen die Bühnenhandlung". Ohne Molnárs Vorlage zu verraten, "trimmt der Regisseur das Drama auf Heute und setzt auf Gegenwartsästhetik". Er habe "viel gestrichen und viel ergänzt. "Fotzi" und "Hängetitte" waren um 1909 so wenig gebräuchlich wie die Berufsbezeichnung 'Accounting Executive'", weiß der Kritiker. Die Rollen, die geblieben sind, habe Jochymski aber "aufgewertet", und zu sehen sei so "mitreißendes Theater".

"Jochymski treibt mit seinem rauhen, kantigen Konzept alle Darsteller zum Optimum." Auf der Drehbühne, "deren Fliehkräfte die Figuren immer wieder auseinandertreiben", entfalte seine Inszenierung geradezu "rauschhafte Qualität". Das liege auch daran, dass die Inszenierung ihre Vorlage sinnvoll entschlackt habe: "Wo Molnár seine "Vorstadtlegende" noch mit pittoreskem Schießbuden-Panorama bevölkerte, genügt den Leipzigern (...) eine scharf umrissene Gruppe: Liliom und seine verzweifelt jugendliche Arbeitgeberin Frau Muskat, die ziellos lebenshungrige Julie und der Schwerenöter Ficsur, die pragmatische Marie und ihr traurig lächerlicher Bräutigam." 

Kommentare  
zu Liliom: Gleich reingehen!
Ach, wenn man das hier liest, möchte man gleich reingehen in Liliom.
zu Liliom: klingt spannend
Klingt sehr spannend; freue mich schon sehr auf den Besuch von „Liliom“. Alexander Gamnitzer ist ein herausragender Schauspieler. Ich sah ihn letztens beim Tag der offenen Tür in einem beeindruckenden Solostück im Keller.
Jochymskis Liliom: das einzig Positive ist die Musik
mh, nun hab ich die insznierung ja auch endlich mal sehen können, und ich muss sagen, das einzige, was ich in positiver erinnerung behalten habe (und behalten möchte), ist die musik.
wo hier "schauspielerische größe" stecken soll, ist mir ein rätsel. gamnitzer tut das, was er eben immer tut: brust raus und hauptsache mann sein. das hat nichts mit schauspielerei zu tun.

aber nach den verhältnismäßigen höhepunkten der letzten insznierungen war's ja mal wieder zeit für kunst in bedrohlicher bodennähe.
Liliom: Platte Aktualisierungsversuche
in der tat ist dem vorredner zuzustimmen, ich kann das zustimmende urteil auch nicht teilen, bis auf martin reik, der eine interessante studie als ups-fahrer liefert, wirklich nur uninspiriertes durschschnittstheater. die inszenierung geht ganz glatt am stück vorbei, die aktualisierungsversuche geraten platt und unbeholfen. alles nur vorgeführt und nichts erspielt, die figuren sind eindimensional und leer. wieder eines der viel zu zahlreichen beispiele, wenn es im theater am ende doch nur ums theater geht. schade!
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