Mehr Inhalt, weniger Virtuosentum!

von Wolfgang Behrens

Potsdam, 30. Oktober 2007. Wird sich das Elektron ablenken lassen? Wird sich der Bakterienstamm vermehren? Und was passiert mit meiner Pulvermischung im Reagenzglas, wenn ich sie über die Flamme halte – wird sie knallen? Das Aufregende an wissenschaftlichen Experimenten ist ihre Ergebnisoffenheit, ihr ungewisser Ausgang. So gesehen, war das Experimentellste, was die "Lange Nacht der Experimente" beim Potsdamer Internationalen Theaterfestival "unidram" bieten konnte, die Frage, ob und wie es den Veranstaltern gelingen würde, den immensen Besucherandrang zu kanalisieren und auf die einzelnen Aufführungen zu verteilen.

Nacht des Staunens beim Ausschreibungsfestival

Die eingeladenen Produktionen selbst aber waren an einem ungewissen Ausgang nur wenig interessiert – präzise, ja mitunter abgezirkelt spekulierten sie vielmehr auf den sicheren Effekt, wilderten auf dem Gebiet des Circensischen und machten so aus einer "Langen Nacht der Experimente" eher eine "Lange Nacht des Staunens": Puppen, Stelzen, Sensationen.

"unidram", das in diesem Jahr (vom 25. Oktober bis zum 3. November) seine immerhin 14. Auflage erlebt, gehört zur raren Gattung des Ausschreibungsfestivals. Die künstlerischen Leiter Jens-Uwe Sprengel und Thomas Pösl reisen nicht in erster Linie herum, um ihre Produktionen zu entdecken, sondern sie lassen sich von interessierten Freien Gruppen aus aller Welt Videos zuschicken, auf deren Grundlage sie über eine Einladung entscheiden. Eine riskante Methode, die sich jedoch bewährt hat – und aus der sich fast zwangsläufig eine Tendenz zu stark visuell geprägten Aufführungen ergibt. Auf diese Weise hat es "unidram" in den vergangenen Jahren aber auch geschafft – trotz der finanziell beschränkten Mittel –, Inszenierungen und Gruppen gerade aus dem osteuropäischen Raum ein Forum zu bieten.

Der heilige Antonius im Hause Düsentrieb 

In diesem Jahr ist Osteuropa zwar nicht mehr dominant vertreten, aber immer noch ein wichtiges Standbein des Festivals. Bei der "Langen Nacht der Experimente" stellte sich etwa die "New Stage Company" aus Weißrussland vor, junge Absolventen der Kunstakademie Minsk. Ihr Beitrag "Das Wunder des heiligen Antonius" führt geradewegs in die Welt des Entenhausener Tüftlers Daniel Düsentrieb (dessen kleiner Assistent Helferlein ja bekanntlich nur aus ein paar Metallverstrebungen und einem Glühbirnen-Köpfchen besteht): Aus Lampen und Transformatoren, aus nie gesehenem Elektroplunder und Schrott haben sich die Weißrussen puppenähnliche Gestalten gebastelt, mit denen sie eine Episode aus der Legende des Antonius nachspielen. Der Heilige, der sich aus zwei Lampen zusammensetzt, bringt seinen Heiligenschein so praktischerweise gleich selbst mit.

Der Charme der halbstündigen Performance besteht – bei aller Dürftigkeit der Erzählung – vor allem darin, dass die bizarren Figuren zwar nur herzlich wenig Voraussetzungen dafür mitbringen, menschenähnliche Wirkungen zu erzielen, die Zuschauer sich aber mit kindlicher Freude bereit finden, der Suggestion der Spieler zu folgen.

Ville Walo oder der Wille zur Doppelgängerei 

Der Wille des Publikums, sich verzaubern zu lassen und der Illusion hinzugeben, ist – allen theaterdekonstruktiven Ansätzen zum Trotz – ohnehin ungebrochen. Die finnischen Illusionskünstler Ville Walo & Kalle Hakkarainen etwa vermochten in Potsdam Entzücken und Begeisterung auszulösen. In "Odotustila" (das ist verdeutscht "Warteraum") zeigen die beiden die Geburt des Varietés aus dem Geist des Wartens. Während im Hintergrund auf drei versetzt stehenden Leinwänden eine Bahnhofshalle mit Reisenden projiziert wird, beginnt Ville Walo mit seinen Schuhen und kleinen weißen Kugeln die tote Wartezeit vor der Abreise zu füllen. Was anfangs nur aussieht wie beiläufiges Spiel (Kann ich meine Schuhe schnell den Platz tauschen lassen, während die Kugel nur einmal den Boden berührt?), entwickelt sich unversehens zu einer schwindelerregenden Jongliernummer.

Der Clou von "Odotustila" ist jedoch, wie die beiden Akteure mit den Projektionen auf der Leinwand interagieren. Sie scheinen sich ihre Jongliergeräte aus der Zweidimensionalität der Leinwand zuwerfen zu lassen, nur um sie ihren projizierten Doubles prompt wiederzugeben. Der Höhepunkt der angenehmen Verwirrung ist erreicht, wenn der jonglierende Ville Walo der dritten Dimension zunächst zwei, später gar sechs projizierten, ebenfalls jonglierenden Doppelgängern begegnet, mit denen er unablässig Jonglierkeulen austauscht: ein Meisterstück an illusionistischer Präzision.

Nur Staunen macht müde 

Vollends circensisch kommt dann das Stelzentheater "Phalanx Bamboo" der Berliner Gruppe "Grotest Maru" daher. Weiß gewandet, staksen die mit gigantischen Bambusstäben bewehrten Stelzenriesen über den Hof des um das Potsdamer T-Werk gruppierten Festivalgeländes und erinnern von ferne an die seltsam weisen Zukunftswesen am Ende des Films "A.I." von Steven Spielberg. Ein paar schön symmetrisch choreographierte Posen in stimmungsvoller Beleuchtung zu flächigem Elektrosound lassen die Performance schnell im perfekt kunstgewerblichen Ästhetizismus absaufen.

Und damit kommt der Berichterstatter schlussendlich zum eigentlich virulenten Punkt: Ja, man konnte über vieles staunen bei der diesjährigen "Langen Nacht der Experimente", über bizarre Fantasiewelten, über Raffinesse, Artistik und seltsame Schönheit. Doch allzu schnell mischte sich auch ein Gähnen in dieses Staunen: Nur Staunen macht müde. Ein bisschen mehr Inhalt hätte man sich denn doch gewünscht. Ein bisschen mehr Mut zum Experiment.

www.unidram.de

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