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Die Dynamik des menschlichen Miteinanders

von Sabine Leucht

München, 1. Oktober 2011. Ein Dramatikertag ist ein Fest für die Zuseh-Gemeinde, die ihr Haus in einem außergewöhnlichen Erregungszustand vorfindet. Aber alles ist zugleich auch sehr entspannt: Jeder ist da, werkelt und zeigt - und kaum etwas steht auf dem Spiel. Für das Theater. Denn heute sind es allein die Stücke, die sich beweisen müssen. Bei der "Langen Nacht der Neuen Dramatik" an den Münchner Kammerspielen stammen sie 2011 ausschließlich von Autorinnen, die zwischen 1980 und 1986 geboren sind. Zu gewinnen gibt es zum zweiten Mal den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik, auf den die Edith- und Werner-Rieder-Stiftung insgesamt 15 000 Euro ausgesetzt hat.

"Jiggy Porsche taucht ab"

7000,- Euro davon gehen an "Jiggy Porsche taucht ab". Doch wer oder was ist Jiggy Porsche?  Ein Wortkaskadenspucker, ein gegenwartsskeptischer Gedankensplitterberg - oder doch eine Figur? Die aus Hans-Georg Küppers (Kulturreferent), Julia Lochte (Chefdramaturgin), Caroline von Lowtzow (BR-Redakteurin), Guido Huller (Drei Masken Verlag) und dem unvermeidlichen Feridun Zaimoglu (Autor) bestehende Jury spricht von einem Mädchen und desweiteren von "sprachkünstlerischer Authentizität". Und tatsächlich lässt das Stück von Olivia Wenzel aufhorchen: Hier kann eine schreiben und hat Stoff und Schwung für mindestens eine Handvoll Stücke.

Das Problem ist nur, dass sie den in ein einziges presst und jeden Themenblock sprachlich anders auftunt. Da wären unter anderem: Eine hochdifferenzierte Schiffsgesellschaft vor dem Absaufen, eine zerbrechende Familie, ein Mann auf der Flucht vor dem Alltag, ein Bewerbungsfloskeln-Medley und das Motiv der Bewegungsvernarrtheit, das irgendwie unter allem liegt. Die meisten dieser Szenensplitter sind je für sich verheißungsvoll. Und wo sie aufscheinen, unterfüttern die Figuren ihren Smalltalk mit Witz und kruder Philosophie. Doch schöne Sätze wie "Der Leistungsträger rutscht uns von den Schultern" oder "Das Mir-einen-blasen-Lassen sehe ich als meine Softskills an" winken so massiert in Richtung Zeitgeistkritik, dass sie selbst sehr zeitgeistig wirken.

Am aufdringlichsten das Symbol des sinkenden Schiffes, das ein genügsamer einheimischer Fischer einem Höher-schneller-weiter-Touristen mit den Worten zeigt: "Das kommt davon". Der Rest ist Labor. Ein sehr unterhaltsames gleichwohl, nicht zuletzt weil Johan Simons in der szenischen Lesung des Gewinnerstückes das Gros seiner "Schiff der Träume"-Besetzung auflaufen lässt. Die können improvisieren und Beziehungen zueinander herstellen mit einem Wimpernschlag. Das ist bei einer Stückpräsentation aber auch ein Problem. Nicht nur bei "Jiggy Porsche". So stellt man sich im Verlauf der "Langen Nacht" wiederholt die Frage: Was sind die ureigensten Qualitäten dieses Stückes abzüglich der Darbietung?

"Bitten an Karl"

Bei Saskia Nisches "Bitten an Karl" ist die Antwort nicht schwer. Reichlich epigonal wirkt der Jargon, der à la Palmetshofer Satzenden, Hilfsverben und manchmal auch Subjekte verschluckt, wenn auch eher inkonsequent. Die Szenerie: Zwischen Weltuntergangslandschaft und Industriebrache vegetieren drei Wegwollende, weil die Fabriken alle geschlossen sind und "die Stadt" ruft. Zugleich kommen sie aber nicht los, weil sie auf ihre verschollenen Väter warten oder ihnen nachschlagen, weil die Geschichte schwer auf ihnen lastet, die Liebe oder der Tod.

Alles im Stück dreht sich um das Mädchen Elise. Und wenn diese in Jessica Glauses Werkstattinszenierung nicht von Wiebke Puls gespielt würde, würde sofort klar, dass dem dreistimmigen düsteren Geraune das Zentrum fehlt. Puls aber braucht keinen Grund, um sich zu versenken und wühlt so intensiv in vier Sandblöcken und in Elises illustren Emotionen, als stehe ihr Ruf als Charakterdarstellerin auf dem Spiel.

"Das blaue Gold" und "Young Rebel"

Ganz anders Marc Benjamin, Lena Lauzemis und Thomas Schmauser, die Georgia Dolls "Das blaue Gold" mit so viel ironischer Distanz lesen und so hemdsärmelig sprechen, dass man den Eindruck bekommt, sie hätten das Stück über ein in der Wüste gestrandetes Backpacker-Pärchen eben erst in die Hände bekommen. Ihnen dabei zuzusehen, macht sehr viel Spaß, aber man bekommt die Ironie der Darbietung schwer vom eventuellen Witz des Stückes getrennt.

Einem Araber (mit Namen Osama) erklären zu müssen, dass man kein Öl mehr hat, ist schon ziemlich klasse. Auch, dass er offenbar den Garten Eden hütet. Dann aber wird sein Vater verdächtigt, ein Selbstmordattentäter zu sein, und der fast dadaistische Mix aus Paar- und Politgroteske bekommt Zuwachs an erklärseligen Passagen und Naseweisereien, über die sich die Schauspieler selbst lustig zu machen scheinen.

Das geht sehr gut, vielleicht sogar mit Gewinn, den dritten Preis aber bekommt seltsamerweise die "Sozialschnulze" (Jury) "Young Rebel": Ein Zwei-Personen-Stück, in dem sich die Dresdnerin Sarah Trilsch an der Figur des sozialistischen Countrysängers Dean Reed abarbeitet - und am Gegensatz zwischen Freiheitskampf und New Economy. Die Autorin verfolgt einen sehr eigenartigen Ansatz, entwirft lebendige Figuren, und Peter Fasching und Hanna Plass sind musikalisch wirklich fit. Und dennoch bleibt irgendwie rätselhaft, was das Ganze soll.

"Die Vorläufigen"

Da fährt Ivna Zic besser, aber auch sicherer, wenn sie auf die eigenartige Dynamik des menschlichen Miteinanders setzt, wofür sie die Jury mit dem zweiten Preis belohnt. "Die Vorläufigen" leben in einem Haus mehr neben- als miteinander. Was klingt wie ein trübes Großstadtklischee wird hier aufgebrochen zu einer vielstimmigen Tragödie der Einsamkeit, in die eine Katastrophe für kurze Zeit ein Wirgefühl einschmuggelt. Zic schaut sehr genau hin und verliert dennoch nie die Hoffnung; ihre Sprache ist witzig, leicht und wunderbar rhythmisiert, wenn auch mehr eine Komposition von Stimmen als eigentlich dramatisch.

Neben manchen lustvoll zitierten Klischees hält das Stück aber auch eine Paraderolle für Hildegard Schmahl parat, die einen fast unverschämten Spaß an der Rolle der alten Frau Wickert entwickelt. Mal keckert sie mädchenhaft los oder kommentiert launig das Verhalten der Jungen, dann personifiziert sie ebenso lustvoll den Stillstand: "Das Haus und ich, wir sitzen da." Dass das Publikum ihr dabei gerne länger zuschauen würde, honorierte es mit dem Publikumspreis für "Die Vorläufigen", dessen Autorin damit mit zwei Auszeichnungen nach Hause ging. Durchaus zu Recht.

 

Das blaue Gold
von Georgia Doll
Regie: Matthias Günther, Bühne: Eva Veronica Born, Kostüme: Henriette Müller.
Mit: Marc Benjamin, Lena Lauzemis, Thomas Schmauser.

Bitten an Karl
von Saskia Nitsche
Regie: Jessica Glause, Ausstattung: Eva-Maria Bauer, Dramaturgie: Julia Lochte.
Mit: Nicola Fritzen, Tim Porath, Wiebke Puls.

Young Rebel
von Sarah Trilsch Regie: Malte Jelden, Bühne: Jil Bertermann, Kostüme: Bettina Werner, Musik: Dean Reed.
Mit: Peter Fasching, Hanna Plass.

Jiggy Porsche taucht ab 
von Olivia Wenzel
Regie: Johan Simons, Dramaturgie: Jeroen Versteele.
Mit: Stephan Bissmeier, Benny Claessens, Katharina Hackhausen, Walter Hess, Brigitte Hobmeier, Nico Holonics, Stefan Hunstein, Oliver Mallison, Dzana Mujic, Edmund Telgenkämper, Kristof Van Boven.

Die Vorläufigen
von Ivna Zic
Regie: Philip Decker, Bühne und Kostüme: Teresa Vergho, Musik: Dominik Obalski.
Mit: Katja Bürkle, Johannes Meier, Clara-Marie Pazzini, Katharina Hackhausen, Peter Brombacher, Hildegard Schmahl.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mehr zu Langen Nächten: Die Autorentheatertage endeteten auch im Jahr 2011 am Deutschen Theater Berlin mit der Langen Nacht der Autoren.

Kommentare  
Lange Nacht der neuen Dramatik, München: zwei Höhepunkte
Für mich bleiben Die Vorläufigen und Bitten an Karl die zwei Höhepunkte des Abends, die auch über die Lange Nacht hinaus beschäftigen.
Zics Text besticht durch einen flotten Sprachrhythmus, der sich im gemeinschaftlichen Erzählen des Personals entfaltet und zusammen mit den Geschichten der einzelnen Figuren dieses Gefühl vom Alleinsein im Wir herstellt, das wir mit liebevollen Augen betrachten, weil auch die Autorin einen liebevollen Blick auf ihre Figuren hat. Von genauer Beobachtungsgabe und poetischer Verdichtung bleiben Sätze wie „Eine Stille wie ein Loch.“ Auch wenn in der Schnelle einer Lesung die Figuren nicht alle einzeln in Erinnerung bleiben, hat die Autorin durch diese Figuren, so scheint es jedenfalls, Bewegendes zu erzählen.
Sprachlich ebenfalls beeindruckend und ganz eigenständig kommt Bitten an Karl von Saskia Nitsche daher. Umso mehr verwundert Leuchts Vergleich mit Ewald Palmetshofer, entfaltet das Stück doch einen ureigenen Sprachteppich, der nichts mit Palmetshofers Ästhetik und Syntax gemein hat. Es ist ein Nicht-Aussprechen von Wörtern, das ganz den Figuren gehört, die sich in ihre Innenwelten zurückgezogen haben, um sich vor dem Außen zu schützen, so scheint es. Wörter, die nicht gesagt werden, müssen oder können in der Situation der Figuren nicht gesagt werden. Durch die Sprache entstehen die Figuren und das ist das Schöne an diesem Text. Bei Palmetshofer entspricht die sprachliche Ästhetik vielmehr dem Versuch Gesellschaft/gesellschaftliche Floskelhaftigkeit widerzuspiegeln. Ansonsten ist Bitten an Karl ein Text, der sich gegen den Trend nicht durch Witz und ironisches Relativieren schützt, leise und sensibel, ein Text, der ein emotionales Einlassen verlangt. Vielleicht bietet er gerade deshalb eine Angriffsfläche zwischen den anderen Stücken dieses Abends. Er lässt in Innenräume blicken und macht dabei Bilder auf, die auch heute, beim Verfassen dieses Textes noch nicht wieder verschwunden sind. Ebenfalls die Bilder, die Jessica Glause in ihrer bildnerischen Umsetzung dafür gefunden hat.
Man hätte Lust, die Geschichten der Figuren in ihrer Gänze zu erfahren. Karls Verhältnis zu den Füchsen, die ihn an den Vater erinnern. Das Nichtzueinanderkommen der Figuren. Eben die Geschichten, die Figuren, das Existenzielle, die Geheimnisse, die dieses Stück wie auch der Text Die Vorläufigen im Vergleich zu den anderen Texten des Abends birgt.
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