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Das Leben auskosten – auf Teufel komm raus

von Sabine Leucht

München, 18. November 2011. Woher kommt bloß das Unbehagen, die Kluft zwischen mir und meinem doch ganz okayen Leben? Macht es Sinn, darüber nachzugrübeln, andere damit zu behelligen? Oder wäre es besser, sich ein Motorrad zu kaufen und den Frust um die Midlife- und Sinnkrise im Zwiegespräch mit dem Sonnenuntergang auszutragen?

Letzteres schlägt eines der Kinder vor, die in Gob Squads Before Your Very Eyes im Schnelldurchlauf erwachsen werden. Mit ihrem distanzierten (oder als distanziert inszenierten) Blick sehen sie das Leben der Um-die-Vierzig-Jährigen als eines an, in dem man falsch und hysterisch lacht und einander sogar in Sachen Haarschnitt die Unwahrheit sagt. Danach enden die "Ich kann"-Sätze, die Zeit des "Ich hätte" beginnt.

Überraschungsparty des Lebens

Und das neunte Spielart-Festival in München, das uns in diesem Jahr nicht in Ruhe unglücklich sein lassen will und nicht in lauer Behaglichkeit erstarren. Statt dessen wird uns gleich zum Auftakt zwei mal die Frage entgegengeschleudert, wie wir eigentlich leben wollen. Während die Gob Squad-Kids vor allem den Ist-Zustand spiegeln und ein paar winzige Alternativen aufblitzen lassen, wälzt und bewegt die japanische Auftaktinszenierung diese Frage lange und wortreich im Kopf. Denn nur da entsteht und verändert sich für Toshiki Okada das, was wir Wirklichkeit nennen.

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"The Sonic Life of a Giant Tortoise" © Chelfitsch

Als phantastisches Stück über den Alltag bezeichnet der Regisseur und Choreograf aus Tokio das von ihm selbst verfasste "The Sonic Life of a Giant Tortoise". Und auch aus der Sicht eines Mitteleuropäers haut das durchaus hin: Okadas fünf Akteure legen Zeugnis ab von der Unerfülltheit eines mittelalten Paares und werden mit einer Überraschungs-Party für Dinge belohnt, die sie nicht getan haben (Sex gehabt, eine gute Tat vollbracht). Sie verlieren sich in Träumen von Reisen oder in solchen, in denen der Tod der Freundin zu etwas Wünschenswertem mutiert, weil er die Gefühlswelt der Überlebenden um etwas Intensives und Bedeutungsvolles bereichern könnte. Und was, wenn das Ende des Lebens in der U-Bahn auf einen wartet? Wenn Japan eine Nation von Fischern wurde, weil Fische dümmer sind als Landtiere? 

Verrückte Kapriolen der Assoziationsketten

Auf der Textebene montiert Okada Fragen und Perspektiven zu Endlosschleifen, klassifiziert Träume und Emotionen und hinterfragt alles wieder und wieder. Seine meist rasend schnell sprechenden, teils extrem extrovertiert, teils autistisch wirkenden und sich im Auspendeln ihrer Bewegungen genügenden Darsteller sehen in Shorts, Hemden oder Strickjacken und Birkenstock-Clogs ganz nach globalisiertem Alltag aus. Sie tauschen Plätze, schneiden Grimassen, halten einen rosa Ball zwischen den ausgestreckten Beinen, gehen beim Erzählen seitlich und immer mehr in die Knie, drücken eine Schulter auf den Boden oder sitzen in einem beleuchteten Viereck vor der Kamera und sperren den Mund auf.

Die Körpersprache dieses Abends ist reduziert und seltsam wankelmütig. Scheint sich anfangs alles in Richtung abstrakter Tanz zu bewegen, bleiben gegen Ende einzelne Bewegungen wie Mahnmale länger stehen, während sich kleine Spielszenen entwickeln, in denen die "Handlungs-" beziehungsweise Assoziationsketten immer verrücktere Kapriolen schlagen.

Nervenzehrend wie das Alltagsleben

Es fragt sich, ob "Das akustische Leben einer Riesenschildkröte" ganz verstanden werden kann, wenn man nur mit dem nach Fukushima neu erstarkten Interesse an einer gänzlich fremden Kultur darauf schaut. Was glaubt man dann vor sich zu haben? Eine vor Fukushima entstandene Produktion, in der sich natürlich nichts wiederfindet von No, Kabuki, Butoh oder Bunraku. Nichts deutet hin auf die Beeinflussung von westlichem Literaturtheater, aber ebenso wenig auf die Kultur von Manga, Cosplay und übermenschlicher Selbstbeherrschung. Ob Okada in Japan ein Einzelfall ist, wird zumindest teilweise das weitere Festival klären. In Befindlichkeiten zu wühlen und sich dabei selbst auf die Schippe zu nehmen, scheint aber jedenfalls eine auch dort verbreitete Gabe zu sein.

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"The Sonic Life of a Giant Tortoise" © Chelfitsch

Und doch bleibt die viele Voreingenommenheiten zerschlagende Aufführung über weite Strecken fremd, und so nervenzehrend, langatmig und absurd wie das Alltagsleben, von dem sie handelt. Andererseits errichtet Okada ein eindrucksvolles Tableau der Selbstbespiegelung und -entfremdung und beleuchtet mit dem rastlosen Soundtrack einer immer wildere Kapriolen schlagenden Sprache die partielle Tödlichkeit unserer Gefahr- und Gefühlsvermeidungsstrategien. Wir brauchen Sehnsüchte, aber auch Schmerzen und Verluste, ruft die "Riesenschildkröte" Japan uns via Spielart zu. Und wir brauchen verrückte Lösungsstrategien für unsere Probleme: Zum Beispiel einen ausländischen Freund, der unser Land gerne mag, wodurch wir es selbst vielleicht auch mögen. Oder den Aufruf "Lasst euch nicht nieder, dann hört auch der Alltag ganz von selbst auf!" Aber wir brauchen auch ein bisschen Entspannung. Denn wir, das sind in diesem Fall alle, die sich an Ende nicht nachsagen lassen wollen, sie hätten ihr Leben nicht vollauf ausgekostet.


The Sonic Life of a Giant Tortoise
von Toshiki Okada/chelfitsch (Yokohama)
Text und Regie: Toshiki Okada, Bühne: Torafu Architects Inc., Licht: Tomomi Ohira, Sound Design: Norimasa Ushikawa, Produzentin: Akane Nakumara, Produktionsmanagement: Tamiko Ouki.
Mit: Tomomitsu Adachi, Shoko Matsumura, Yukiko Sasaki, Riki Takeda, Taichi Yamagata.

www.spielart.org

 

Mehr zu Spielart in München? In der Festivalübersicht lassen sich etliche der eingeladenen Inszenierungen und Performances schon mal überprüfen.

 

Kritikenrundschau

In einem ersten Überblick über das "packende" SpielArt-Festival widmet Gabriella Lorenz in der Abendzeitung (21.11.2011) auch dem "Sonic Life of a Giant Tortoise" einen Absatz: Regisseur Toshiki Okada und seine Gruppe chelfistsch hätten das Publikum "streng gezüchtigt", meint sie. Die Riesenschildkröte stehe wohl für die japanische Gesellschaft und "hört eine endlos plappernde Selbstreflexion des Ich-Erzählers." Im "kopflastigen Diskurs" trenne Okada bewusst Bewegung von Text.

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