alt

Wer bin ich denn noch?

von Nikolaus Merck

Berlin, 25. Januar 2012. Das wahre Selbst, es gibt es nicht. Das wusste schon Shakespeare, der Frauen und Männer nicht nur in "Twelfth Night" ("Was ihr wollt") gerne in tiefste Identitätsverwirrung schickte. Später fand die Wissenschaft den dazu passenden Beweis: das Capgras-Syndrom. Wer darunter leidet, erkennt zwar Freunde, Räume, sogar die Lieblingsbäume seiner Kindheit wieder, vermag auch die Stimmen der Nächsten am Telefon mit den entsprechenden Affekten zu verbinden, hält aber Eltern, Geliebte oder die eigenen Kinder, wenn er ihnen begegnet, für Betrüger. Die Ursachen des Syndroms, das nach Kopfverletzungen auftritt oder bei Demenz, sind unklar, Heilung kommt von alleine oder gar nicht.

Das Schwere leicht nehmen
Das klingt bizarr? Wer demente Menschen pflegt, wird anders darüber denken. "Wieso wissen Sie so viel über mich? Woher haben Sie die Fotos meiner Kindheit?", fragen verwirrte Eltern im Pflegeheim ihre Kinder. Und Töchter und Söhne sehen sich angesichts des Verlustes selbst in tiefe Krisen gestürzt.

Die amerikanisch-deutsche Choreographin Sommer Ulrickson (38) und der italienische Molekularbiologe Giovanni Frazzetto (35) nehmen das Schwere leicht. In "Never Mind" lassen sie Mara und Michael tanzen. Liebe ist: die Körper ineinander zu verschlingen, zu heben und wie Brücken oder Stahlfedern zu einander zu spannen. Die Liebe endet, wenn an die Stelle einer Mara zwei Maras treten. Die Tänzerinnen Laura und Lisa Quarg sind Zwillinge. Laura spielt die Capgras-kranke Mara, Lisa die gesunde. Aber das verwischt sich auf Grund der Ähnlichkeit.

Eine Art Job
Michael jedenfalls hat zwischen den acht weißen Rollos im Hochzeitssaal der Sophiensaele zu kämpfen. Nicht nur mit der idiotisch lärmenden Klimaanlage im kleineren Hochzeitssaal der just sanierten Sophiensaele, mehr noch mit der Krankheit seiner Freundin. Die hält ihn für einen Schauspieler, der dem Liebsten nur stark ähnelt. Obwohl er den gleichen Leberfleck an der gleichen Stelle am Po trägt, kann ihr Gefühl den Fremden nicht als den Geliebten erkennen. Eine Sackkarre, auf der die Patientin herumgefahren wird, verbildlicht ihre seelisch-gefühlsmäßige Gehbehinderung. Vergeblich mühen sich Michael und der gesunde Teil seiner doppelten Freundin, die Kranke aus dem Verlies ihrer Fremdheit zu befreien.

Sommer Ulrickson und ihr Ensemble haben für diese Vergeblichkeitsübungen spöttisch-zärtliche Bilder gefunden. Ein Pas de trois des langen Christoph Schüchner mit den beiden, drei Köpfe kleineren Quarg-Schwestern. Das Ziehen und Zwingen-Wollen, das vergebliche Umschlingen und Umgarnen der Kranken, die sich immer wieder aus der zärtlichen Umarmung losreißt. Einmal schiebt sich Schüchner langsam und mühevoll rücklings unter die umgekippte Sackkarre, auf der Mara bäuchlings liegt. Als sie endlich übereinander liegen und ihre Nasenspitzen sich berühren, fragt ihn Mara trocken: "Warum tust Du das? Es ist eine Art Job, du wirst dafür bezahlt?"

Wie soll ich meine Seele halten?
Das klingt komisch und sieht auch genauso aus, versetzt man sich jedoch in Michaels Lage, gewinnt der Horror Gestalt, der sich weder durch Rilkes Liebeslied ("Wie soll ich meine Seele halten ..."), noch durch Beschimpfungen verscheuchen lässt.

Zwischen diese schwebend, skurril gehaltenen Zweier- und Dreier-Szenen stapft Sommer Ulrickson als Krankenschwester mit energischem Schwung und verkündet mit perfektem komischen Timing die notwendigsten Informationen über die Krankheit. Auf Nachfrage spielt sie Michael witzig die Folgen etwaiger Medikamenten-Gaben vor, von drohender Fettleibigkeit über Epilepsie bis zur Nymphomanie. Und im Hintergrund hantiert Amos Elkana per Notebook an der Musik.

Sog der Krankheit
Wenn die Besuchsstunde in der Klinik zu Ende geht, ist die zwiegespaltene Mara nicht geheilt, dafür der vermeintlich gesunde Michael nachhaltig in seiner Identität verunsichert. Der liebende Blick vermag keine Kranken zu heilen, schlimmer noch, wo er fehlt, gerät auch der Gesunde in den Sog der Krankheit. Wie Michael, der zuletzt angesichts Maras Fremdheit verzweifelt fragt: "Wer bin ich denn noch?"

Es gibt einen zweiten Teil nach der Pause, "Songs, Scenes ans Syndromes", den Sommer Ulrickson als Fußnote ankündigt. Ein Satyrspiel mit netten Songs und Pappschildern, auf denen Namen psychischer Störungen gezeigt werden. Das hat etwas von Probenblödsinn und ist ziemlich überflüssig, weil man die Feststellung, dass das "Diagnostische und statistische Handbuch psychischer Störungen" heute so gut wie jedem einen Psycho-Defekt anhängt, auch einfach hätte ins Programmheft schreiben können. So gibt es nur am Ende noch ein fetziges Liedlein, das verkündet, dass die Dinge der Menschen sind, wie sie sind. Na ja.

 

Never Mind
Text von Giovanni Frazzetto und dem Ensemble
Regie: Sommer Ulrickson, Musik: Amos Elkana, Ausstattung: Nicola Minssen, Alexander Polzin.
Mit: Christoph Schuechner, Laura Quarg, Lisa Quarg, Sommer Ulrickson, Amos Elkana.

Songs, Scenes and Syndromes
Regie und Idee: Sommer Ulrickson, Texte und Musik: Ensemble, Ausstattung: Nicola Minssen, Alexander Polzin.
Mit: Amos Elkana, Edna Kedar, Lena Kussmann, Mareile Metzner, Christoph Schuechner, Sommer Ulrickson, Jonas Vietzke und Special Guests.

www.sophiensaele.com

 

Kritikenrundschau

Wenn sie sich im ersten Teil des Abends dem neurologischen Syndrom "Capgras" widme, gebe sich die Aufführung "betont munter" und kapriziere "sich vor allem auf die kuriosen Aspekte der Erkrankung", schreibt Sandra Luzina (28.1.2012) im Tagesspiegel. "Wie hier ein bizarres Phänomen umtänzelt wird, nervt schon mal." Dafür sei die kleine Revue "Songs, Scenes and Syndromes" im zweiten Teil dann aber "amüsanter und kritischer": "Warum, fragt die Regisseurin, wird derzeit eine deutliche Zunahme von psychische Störungen festgestellt? Wird heute jede Abweichung gleich pathologisiert?"

Kommentar schreiben