Am Ende fehlt die Auswahl?

25. März 2012. Es gäbe kaum Schauspieler, Intendanten, Dramaturgen oder Regisseure mit ausländischen Wurzeln, moniere Nurkan Erpulat ("Verrücktes Blut"), schreibt dpa. Das deutsche Theater versäume es, die interkulturelle Wirklichkeit auch im eigenen Betrieb abzubilden, meinen Kritiker. dpa hat in dieser Sache eine Umfrage gemacht, die Halterner Zeitung (22.3.2012) hat sie abgedruckt, die Süddeutsche Zeitung zog nach (23.3.2012).

Etwa ein Fünftel der Bevölkerung Deutschlands habe einen Migrationshintergrund, von einem repräsentativen Anteil dieser Menschen am Staatstheaterbetrieb und Publikum könne nicht die Rede sein, sage Wolfgang Schneider, Professor für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim.

Der Intendant des Münchner Residenztheaters, Martin Kusej, sage, als Kärntner Slowene reagiere er "hoch sensibel" auf das Thema. Und frage weiter, warum sich diese Frage immer nach nationalen Grenzen ausrichte. Wolle man nicht diese Grenzen, an deren Auflösung "man" interessiert sein sollte, dauernd "fortschreiben", bedürfe es ausgesprochener Vorsicht. "Das Theater soll nicht versuchen, Aufgaben zu übernehmen, die gesellschaftlich anderswo - und zwar dringend - institutionalisiert und geleistet werden müssen", sagte Kusej.
Gegenüber der Konkurrenzagentur dapd (Süddeutsche Zeitung, 22.3.2012) hatte Kusej Tags zuvor eine "Öffnung der deutschen Theaterszene gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund" gefordert. Dadurch sollten "neue künstlerische Sichtweisen" entstehen. Doch sei es wichtig "im Auge zu behalten", dass eine "solche Zusammenarbeit nicht immer harmonisch und friedlich" ablaufe. Sie sei mit "Auseinandersetzungen und schmerzlichen Erfahrungen" verbunden. Die jedoch seien gerade "wertvoll", da sie "einen starken Willen zur Überprüfung und Veränderung der eigenen Gewohnheiten" voraussetzten.

Am Thalia Theater in Hamburg seien nach Angaben einer Sprecherin insgesamt 360 Mitarbeiter beschäftigt. Im nicht-künstlerischen Bereich arbeiteten 240 Personen, von denen rund 36 einen Migrationshintergrund haben. Im künstlerischen Bereich arbeiteten 110 Menschen, von denen etwa 25 einen Migrationshintergrund haben.

Am Schauspiel Hannover seien 18 Menschen mit einer Migrationsgeschichte im künstlerischen Bereich tätig. Das Schauspiel nenne drei Stücke als "exemplarisch für zeitgemäßes interkulturelles Theater". ""Deportation Cast" beschäftige sich mit der Abschiebung von Roma aus Niedersachsen in den Kosovo. "Fatima" handele davon, "dass ein junges Mädchen durch das Tragen eines Kopftuchs seinen Freundeskreis aus der Fassung bringt". Als drittes interkulturelles Stück feiere "Bagdad 3260 KM" am 31. Mai Premiere.

Im Berliner Ensemble hätten nach Angaben einer Sprecherin sechs von 40 fest engagierten Schauspielern einen Migrationshintergrund. Im BE gebe es seit Jahren viele Schulklassen in den Aufführungen. "Die Zuschauer mit Migrationshintergrund kommen also schon seit Jahren ins BE. Und wir arbeiten daran, dass das so bleibt."

Thomas Ostermeier, Künstlerischer Leiter der Schaubühne, verweise auf die lange Tradition der Schaubühne in Sachen Produktionen mit türkischen Schauspielern. Und außerdem: "Ich habe an der 'Baracke' vor über zwölf Jahren zwei Produktionen ausschließlich mit türkischen Schauspielern gemacht, lange bevor dieses Thema medienwirksam wurde ..."

Der Intendant des Deutschen Theaters, Ulrich Khuon, könne sich eine Quote vorstellen: "Bisher hat sich kaum eine Ungleichheit ohne Quote richtig verändert. Im Grunde braucht es solche Instrumente, weil Institutionen sich nur mühsam von selbst ändern ... Vorstellbar wäre aber auch eine Selbstverpflichtung der Theater oder der Branche, wie das in der Wirtschaft der Fall ist."

"Wann beginnt man, Deutscher ohne Migrationshintergrund zu sein?", frage der Düsseldorfer Intendant Staffan Valdemar Holm - ein Schwede. In Düsseldorf werde kein Künstler eingestellt, weil er oder sie aus der Türkei komme oder türkische Wurzeln habe, "sondern weil wir ihn oder sie als Künstler herausragend finden."

Die Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins mache sich Gedanken, wie Menschen mit Migrationshintergrund als zuschauer für das Theater gewönnen werden können. Rolf Bolwin, Direktor des Deutschen Bühnenvereins: "Bei vielen Migranten gibt es offenbar eine hohe Schwellenangst ... Was die Schauspieler betrifft, kann man die besten Absichten haben - am Ende muss man doch die vorgegebenen Rollen besetzen und da wird es im Einzelfall schwierig."

Oliver Reese, Intendant des Schauspiel Frankfurt, verweise auf "den Mangel an künstlerischem Nachwuchs mit Migrantenhintergrund". Gegenüber dpa sagte Reese: "Für die Vorbereitung meiner Frankfurter Intendanz habe ich etwa 2000 Bewerbungen von Schauspielerinnen und Schauspielern bekommen, davon habe ich 200 zu einem Vorsprechen eingeladen und etwa 10 engagiert. Ich kann aber an zwei Händen abzählen, wie viele der Bewerber einen erkennbaren Migrationshintergrund hatten. Auch unter den Absolventen der Schauspielschulen ist das Verhältnis ähnlich. ... Für mich als Theaterleiter fehlt jedenfalls am Ende die notwendige Auswahl an Kandidaten."

(jnm)

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