Rückgratloser Mainstream

Berlin, 3. Mai 2012. Was ist das Berliner Theatertreffen? Eine Veranstaltung, die sich in den letzten Jahren "den Mainstream-Direktiven eines tonangebenden Fachblattes unterwarf: wo 'Theater heute', da auch ein zweckdienliches Netzwerk." So macht sich heute Irene Bazinger, die Berlin-Kritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.5.2012), in ebendiesem Blatte Luft. Das Theatertreffen "(h)ofiert" Inszenierungen, "die sich dem Zeitgeist rückgratlos anbiedern. Widerstand, Pluralismus, Diversifikation – Fremdworte in den bevorzugt nach der Mode gehenden Auslesen."

Dabei sei das ganze Festival der bemerkenswertesten Inszenierungen kaum mehr als eine Selbstfeier oder Relevanzbehauptungsshow für das gesellschaftlich zunehmend irrelevante Medium Theater. Im Übrigen lenke es Berlin, das "theatermäßig längst recht wenig zu bieten hat", von den eigentlichen Problemen ab: "Ausgeblutet die Off-Szene; konzeptlos erstarrt die großen Häuser; bald insolvent womöglich das Grips-Theater; überfordert bis ignorant die Kulturpolitik."

(chr)

Kommentare  
FAZ übers Theatertreffen: auf die Sprünge helfen
Das liest sich immerhin in der Bazinger-Kritik zur "(S)panischen Fliege" vom 1.7. des Jahres anders; auch konnte der Faust I des Faust I und II-Projektes von Nicolas Stemann punkten bei Herrn Stadelmaier.

"Hofiert", heißt es bei Bazinger, "... werden Inszenierungen, die sich dem Zeitgeist rückgratlos anbiedern": es wäre ganz hilfreich gewesen, wenn Frau Bazinger hier ausführlicher geworden wäre!
Doch, es mögen ihr in der FAZ dafür die Zeilen fehlen, dem Zeitgeist einmal voller Rückgrat auf die Sprünge zu helfen.
FAZ übers Theatertreffen: niemand seine Zeit voraus
Zur Abwertung des Zeitgenössischen bei Irene Bazinger: Paul Virilio ("Die Kunst des Schreckens") schreibt über den Kunsthändler René Gimpel folgendes:

"Zutiefst vom verhängnisvollen Wesen der Werke Oskar Kokoschkas, Emil Noldes oder des Bildhauers Wilhelm Lehmbruck überzeugt, gab es für Gimpel nie einen Unterschied zwischen alter, moderner oder zeitgenössischer Kunst. Es verhält sich vielmehr so, daß uns der 'alte' Meister geprägt hat, während der 'zeitgenösssische' Maler die Wahrnehmung der nachfolgenden Generation prägt, so daß - Zitat aus dem Tagebuch Gimpels von 1925 - 'NIEMAND SEINER ZEIT VORAUS IST, DENN ER IST, TAG FÜR TAG, SEINE ZEIT."
FAZ übers Theatertreffen: anscheinend wird etwas vermisst
Ich glaube, Frau Bazinger fehlen hier einfach die Vergleiche. Ich weiß zwar nicht, wie viele von den 10 Inszenierungen sie gesehen hat, aber von Zeitgeistanbiederung kann bei Simons, Stemann, Pollesch, Hermanis oder auch Fritsch nicht unbedingt die Rede sein, auch wenn Fritsch nun schon zum zweiten Mal hintereinander dabei war. Bei den kleineren Produktionen sehe ich das auch nicht. Bleiben ganze zwei Inszenierungen übrig, bei denen Zeitgeist, ein Wort, das irgendwie immer negativ besetzt scheint, zu vermuten wäre. Das könnte ich aber auch erst sagen, wenn ich sie tatsächlich gesehen hätte. Diese Pauschalverurteilung kaschiert nur, dass Frau Bazinger hier bestimmte Regiehandschriften vermisst. Vermutlich die von Andrea Breth oder Luc Bondy oder ähnliches. Die nun Eingeladenen machen, jeder auf seine Art, ganz unterschiedliches Theater. Eine bessere Mischung kann man sich gar nicht wünschen. Hermanis Platonov müsste ihr eigentlich sogar liegen, der ist nun wirklich gegen jeglichen Zeitgeist immun. Und Netzwerke sind nun schon so lange Zeitgeist, dass sie nun endlich auch im zeitgeistlichen Theater angekommen und sogar thematisiert werden. Widerstand, Pluralismus, Diversifikation sind starke Geschütze die Frau Bazinger hier gegen den allgemeinen Zeitgeist auffährt. Es knallt und raucht aber nur ein wenig. Den zwingenden Beweis der Mauschelei kann der Text von Frau Bazinger nicht wirklich liefern. Und was sie für widerständig und vielfältig hält, bleibt sie schuldig. Und was heißt hier pluralistisch? Da müsste man ja den Zuschauer selbst abstimmen lassen und keine Jury. Occupy Theatertreffen! Das wäre Frau Bazinger aber sicher auch wieder zu zeitgeistig. Das Theatertreffen ist sicher nicht mehr das von 1964, wer möchte das aber ernsthaft beklagen, außer Claus Peymann. Mit Berlin hat sie zwar nicht ganz Unrecht, man wünscht sich da schon länger eine Erneuerung. Es ist nicht alles Gold, was hier glänzt, die Glatze schimmert durch. Im letzten Jahr gab es zwei Off-Produktion aus der Hauptstadt beim Theatertreffen und in diesem Jahr ist das HAU auch zweimal dabei. Eine Inszenierung größerer Berliner Theater gab es letztmalig vor zwei Jahren und zwei auf einmal im Jahr 2008. Und die sind sicher nicht der Kostensenkung wegen eingeladen worden. Hier widerspricht sich die Anklage. Frau Bazinger springt ganz einfach auf das Trittbrett der Kulturinfarkteure und macht sich für die Off-Szene stark. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden, allerdings geht ihr bei der Auswahl in diesem Jahr der Schuss weit daneben.
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