Wie weiter?

5. Mai 2012. Ausgemalt in einer sehr atmosphärischen Reportage, in einem "Frontbericht" für die Süddeutsche Zeitung hat Tim Neshitov einen Besuch bei dem Greifswalder Schauspieler Hannes Rittig: Der wurde zum Spielzeitende vom neuen Intendanten Dirk Löschner gekündigt, d.h. sein Vertrag wurde nicht verlängert. Zusammen mit weiteren sieben SchauspielerInnen, das sind "die Hälfte des Ensembles". Sie werden zum 1. August arbeitslos.

"Hannes Rittig hat zwei Söhne, acht und zwei Jahre alt, und keine Ersparnisse. Er hat elf Jahre lang auf den drei Bühnen gearbeitet, die das Theater Vorpommern bespielt: Greifswald, Stralsund und Putbus." Schauspieler bekommen in Deutschland nur Jahresverträge und sind "bei jedem Intendantenwechsel austauschbar" ..."unabhängig von ihrer Leistung, ihrem Alter, der Zahl ihrer Kinder".

Bei diesem "Drama", das sich am Theater Vorpommern abspiele, gehe um den Widerspruch zwischen dem "hohen Kulturgut Theater" und dem "Konsumgut Theater". Zum Konsumgut Theater gehöre, dass "Schauspieler, die nicht ins Sortiment passen, entsorgt werden wie Tomaten im Supermarkt".

Dirk Löschner sage, "Theater müsse sich permanent neu erfinden, sonst drohe Stagnation, wie in der DDR". Dazu trage er "eine Designerbrille und einen gepflegten Bart". Geschäftsführer Hans-Walter Westphal sage: "Kreative Menschen wie Schauspieler sind nicht unbedingt leicht im Umgang." Rechtlich sei den beiden gar nichts vorzuwerfen, schreibt Neshitov.

Bei der Premiere von "Das Fest", mit dem sich die scheidenden Ensemblemitglieder vom Publikum verabschieden, hätten Zuschauer in Greifswald geweint. Ein Transparent sei gezeigt worden: "Wir wollen nicht, dass ihr geht!"

In Greifswald gebe es viele Zuschauer, deren "künstlerisches Abwechslungsbedürfnis sich in Grenzen hält". Sie forderten, dass der neue Intendant sich die Verkaufszahlen der letzten Stücke geben lassen solle und die Erfolgstruppe übernehme. "Nach 15 Jahren werden Schauspieler in Deutschland zwar theoretisch unkündbar, aber bei den meisten wird der Vertrag spätestens im 14. Jahr gekündigt."

Die Schauspieler in Greifswald bekämen wenig Geld, "1300 Euro netto nach zwei Jahrzehnten im Geschäft, das ist weniger als der Tischler am Theater verdient oder der Elektriker oder die Pressesprecherin".

Eine Kollegin von Rittig, Katja Klemt, auch sie gekündigt, habe von der Arbeitsagentur mitgeteilt bekommen, in diesem Jahr sei "in Deutschland eine einzige Schauspielerinnen-Stelle ausgeschrieben, in Münster".

Hannes Rittig könne "vorerst aus Greifswald nicht wegziehen. Seine Frau ist Balletttänzerin am Theater Vorpommern, ihr Vertrag wurde für dieses Jahr verlängert". Sie wohnten in "einer 74-Quadratmeter-Wohnung fußläufig zum Theater und zahlen 700 Euro Miete".

Wenn Rittig von seinen Schwierigkeiten spreche, relativiere er mit dem Satz: "Aber anderen Menschen geht es viel schlechter." In Brasilien etwa, woher seine Frau stammt, sah Rittig "viel Elend".

Wegen des Publikums sei Rittig "Theaterschauspieler geblieben". Er habe irgendwann gelernt "mit der Unsicherheit zu leben". Doch nun fühle er sich ungerecht behandelt.

Der neue Intendant habe im Gespräch so tun müssen, als ob er sich für Rittigs Situation interessiere, erzähle der Schauspieler. Aber die Sache sei längst entschieden gewesen. Der Intendant habe gesagt: Rittigs Fall "sei sozial händelbar". "Das war erniedrigend", sagt Rittig.

(jnm)

 

Kommentare  
SZ in Vorpommern: merkwürdiges Wort
Sozial händelbar? Ist händelbar ein neudeutsches Wort? Man kann ja auch schlecht sagen: Es ist mir egal, wen ich in den Dreck trete.
SZ in Vorpommern: Warum Gutes ändern?
Ich versteh die Welt nicht mehr, was ist das für ein Intendant...wie kann man sehr gute Schauspieler kündigen, die ja auch noch gut beim Publikum ankamen. Mir hat er den Theaterbesuch gründlich versaut. Die Menschen brauchen vielleicht Veränderung, aber warum muss man etwas ändern was vielen Leuten gefallen hat und was einfach gut war.
SZ in Vorpommern: Theater ist Veränderung
liebe steffi,
so traurig es sein mag und als so unverständlich sie es auch empfinden mögen: das ist die realität in der kunst bzw. im theater. jeder neue "chef" hat (und soll) das recht haben, mit "seinem" künstlerischen personal arbeiten zu können. und das muss überhaupt nichts negatives über die künstlerische qualität der betroffenen aussagen. theater ist veränderung, auch vor allem für das publikum! gerade ihr empfinden, steffi, kann doch ein prima motor sein: den neuen kollegen mal so ordentlich kritisch gegenüberstehen, schauen ob und was die besser machen, sich damit auseinandersetzen etc.pp - so unvoreingenommen es nur geht. eine form der auseinandersetzung, wie sie oftmals nur das theater bereitstellen kann.
SZ in Vorpommern: Gorki-Raufbrüder
Maxim Gorki, sind Sie der Maxim Gorki, dem das Maxim Gorki- Theater in Berlin gehört? Ich finde ihre Spielzeitmottos ("Ökonomie des Lebens, vom Geld verdienen und Geld verlieren") sehr gut. Sie sind ja auch bekannt dafür, dass Sie sich sehr für Ihre eigenen Leute einsetzen, dass Ihre eigenen Leute durch Sie selbst sehr gut behandelt werden, manchmal sogar bezahlt werden. Zahlen Sie sich selber auch was oder leben Sie von Ihrer eigenen Geilheit? Ich hörte auch, Sie seien sehr politisch und auch engagiert. Das finde ich echt super, vielleicht treffen wir uns mal, dann könnten wir uns gegenseitig auf die Fresse hauen.
Die SZ in Vorpommern: hi hi
hihi, sie saure gurke. das war ja mal echt lustig! sonst noch was?
SZ in Vorpommern: den Ort kennenlernen
Lieber Gorki,
ein Ortswechsel für einen Intendanten könnte doch auch für den Intendanten eine Chance sein, sich zu verändern, oder?
Neue Intendanten sagen doch gern, sie wollen Theater für eine bestimmte Stadt oder Region machen.
Wenn ein Publikum seine Schauspieler liebt, dann ist es doch eine Riesenchance, über diese Liebe und ihre Gründe dieses Publikum kennen zu lernen.
Wenn die genannten Schauspieler gut sind, fände ich das Verhalten des neuen Intendanten dumm. Wenn die Schauspieler schlecht sind oder die Chemie nicht stimmt, müsste ein Kommunikationsspezialist wie ein Intendant es sein sollte, Worte finden, das Problem auf sagen wir mal "charmante" Weise zu lösen.
SZ in Vorpommern: unpopuläre Entscheidungen
klar "könnte" das sein und u.u. wäre das vielleicht sogar auch gewinn bringed für beide seiten...
aber worauf ich schon versuchte hinzuweisen - und das war meine intention - allein die realität sieht nunmal anders aus. auch kenne ich die zusammenstellung des ensembles nicht, da könnte ein weiterer grund liegen usw.
jaklar, der erste reflex ist, sich gegen die hire-and-fire-mentaliät der bosse zu positionieren. aber ich bleibe dabei, dass ein (theater-)chef eben auch unpopuläre entscheidungen zu treffen hat, auch mal gegen erfolg bewährtes, lieb gewonnenes etc. das hat mit "dummheit" so gar nichts zu tun! genau so wenig wie es eben mit "qualität" nichts zu tun hat bzw. haben muss. wenn es nur danach ginge, wäre womöglich frank baumbauer noch intendant der mk, oder petras nächste spielzeit noch in berlin, khoun noch in hamburg etc...das alles ist, noch dazu, ja richtig: völlig subjektiv...hm...kunst eben!
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