Wir sind viele und reiten ohne Pferd (UA) - Marc Lunghuß inszeniert Martin Heckmanns' Definitionsversuch der Occupy-Bewegung
Die Liturgie des Protestes
von Dennis Baranski
Stuttgart, 20. Mai 2012. Verbarrikadierte Nobel-Boutiquen, menschenleere Straßenzüge und Heerscharen von Polizisten – beeindruckende Bilder erreichten uns dieser Tage aus dem deutschen Finanzzentrum Frankfurt. Statt farbenfroher Proteste der "Occupy"-Bewegung stand hier eine anschauliche Vorführung der Staatsgewalt auf dem Programm, statt Volksfest herrschte Ausnahmezustand. Doch unterm Strich ward das erklärte Ziel erreicht: Geschlagene vier Tage fand sich die Metropole des Geldes blockiert und belagert.
Weder gewalttätige Ausschreitungen noch ein allgemeines Versammlungsverbot musste man indes am Staatstheater Stuttgart fürchten. In der Heimat des Wutbürgers gänzlich von Sanktionierungsmaßnahmen unbehelligt, besetzt der Autor Martin Heckmanns mit seiner nun uraufgeführten Auftragsarbeit "Wir sind viele und reiten ohne Pferd" den öffentlichen Raum Theater.
Vier kunterbunt zusammen gewürfelte Protestler lärmen in der zukünftigen Ausweichspielstätte "Nord" auch sogleich drauf los und brennen ein ganzes Feuerwerk an garantiert Aufmerksamkeit erregenden, schlagkräftigen Unwörtern hemmungslos ab. "Schuldenkrise", "Brennstoffende" oder "Spekulationsblase" können, ja müssen unweigerlich die einzig mögliche Antwort provozieren: dagegen. Und diese genügt. Sie genügt, um einander Fremde zu einen, um der gemeinsamen Sache wegen alle Differenzen und Anschauungen über Bord und die Ziviler-Ungehorsam-Maschinerie anzuwerfen – und alsbald wieder abzuwürgen. Denn allein die Ablehnung der bestehenden Ordnung taugt auf Martin Dolniks Bühne nicht recht zum kleinsten gemeinsamen Nenner, der bestenfalls zugleich als ausformulierter Konflikt fungieren sollte.
Konsenssuche der Hampelmänner
Es bedarf weitaus strapazierfähigerer Vokabeln, und so ackert man sich auf dem Dreiecksgiebel der New York Stock Exchange, dem klassizistischen Finanzmarkt-Tempel schlechthin, wo vor knapp einem Jahr die "Occupy"-Bewegung ihren Ursprung nahm, durch Schlachtrufe und Slogans, bis sich das Kollektiv zwischen politischer Korrektheit und anarchischem Umsturzwillen in der Konsenssuche zu verlieren droht. "Was sind eure Forderungen" wird zur Existenz bedrohenden Frage, da ein konkreter Gegenspieler fehlt. Als gemeinschaftsbildende Sofortmaßnahme dient Regisseur Marc Lunghuß eine immer wiederkehrende Hampelmann-Choreographie, einhergehend mit dem "Occupy"-Leitgedanken "wir sind die 99 Prozent", jener von den wenigen Reichen abgehängte und ausgebeutete Bevölkerungsteil also.
Erneut lässt der studierte Philosoph Heckmanns Künstler Knax (Bijan Zamani), die übermotivierte Hobby-Revolutionärin Kling (Marlène Meyer-Dunker), den Ideologen Klar (Jonas Fürstenau) und Hippster Ätz (Lukas Rüppel) gnadenlos auflaufen: Sie bilden schlicht keine Mehrheit. Schlechterdings erweisen sich die Figuren als Platzhalter denkbar ungeeignet und verweigern darüber konsequent jede Identifikationsmöglichkeit. Dass sich das enthusiasmierte, herrlich in Rollenwechseln aufgehende Ensemble dann auch noch dreist zu Stellvertretern einer abwesenden Überzahl erklärt, ist blanker Hohn. Derart vorgeführt, ist man beinahe geneigt, Abend und Protestbewegung – mit den Worten des Bundespräsidenten Gauck – "unsäglich albern" zu finden.
Wir zaudern, aber gemeinsam
Aber das wäre nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich schreibt Heckmanns all den Plattitüden, den Allgemeinplätzen und Phrasen eine tiefe Sehnsucht nach Gemeinschaft ein. Und das "Wir" muss gewinnen. Ritualisierte Handlungsfolgen oder allgemeingültige Vermarktungsstrategien sollen die utopische Idee von der Bildung eines Kollektivs aus der heterogenen Masse in greifbare Nähe rücken – in letzter, stimmig naiver Konsequenz eine bessere Welt möglich machen. All das fügt sich zu einer zunehmend komplexeren Liturgie, die Lunghuß in einer guten Theaterstunde amüsant zu verdichten weiß. Er begegnet der absurd-komischen Kopfgeburt mit größtmöglicher Leichtigkeit und formatiert Heckmanns' gefällige Wortakrobatik zu einem bühnentauglichen Diskurs über die Möglichkeit einer kraftvollen Opposition bei zunehmender Individualisierung ihrer Anhänger.
In Stuttgart kann man letztlich auch kleine Schritte als erkennbaren Fortschritt genüsslich feiern. Zwar findet sich das sakrale Handelshaus erfolgreich zum Protest-Camp demontiert, die Gruppe aber bleibt, uneins über Vorgehen und Ziele, allein in einem vereint: dem gemeinsamen Zaudern.
Wir sind viele und reiten ohne Pferd
von Martin Heckmanns
Uraufführung
Regie: Marc Lunghuß, Bühne: Martin Dolnik, Kostüme: Jennifer Thiel, Dramaturgie: Beate Seidel.
Mit: Jonas Fürstenau, Lukas Rüppel, Marlène Meyer-Dunker, Bijan Zamani.
www.schauspiel-stuttgart.de
Einen anderen theatralen Blick auf die Occupy-Bewegung warf am Tag zuvor Volker Lösch mit Die Gerechten / Occupy nach Albert Camus, ebenfalls in Stuttgart.
Als Collage aus Zeitgeist-Floskeln und Demo-Parolen beschreibt Volker Österreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (22.5.2012) diese Auftragsarbeit, mit der Martin Heckmanns also nun ganz oben auf der "Occupy"-Welle "mitsurfe". Marc Lunghuß' Regie empfindet der Kritiker als "gripstheaternd", womit er nichts Schlechtes über das Grips Theater sagen will. Trotzdem stelle der Abend lediglich Fragen, beantworte sie aber nicht. Wenn "mit einem toten Esel ein 'Lehrstück über Leerverkäufe' als Komödienstadl veranstaltet wird, wenn die Erniedrigten und Beleidigten als Papp-Figuren von dem New Yorker Börsen-Fries kippen und wenn das protestierende Quartett von einem Miniatur- Wasserwerfer angespritzt wird, gleicht das zwar tiefen Griffen in die Mottenkiste der Klamotte, aber auch die gehören seit jeher zum stilistischen Repertoire der Spaßguerilleros."
Das Stuttgarter Schauspiel, schreibt Armin Friedl in den Stuttgarter Nachrichten (22.5.2012), scheine nicht nur mit dieser Produktion einen Weg gefunden zu haben, in das politische Tagesgeschäft einzusteigen, "ohne Schlagzeilen hinterherzuhecheln und ohne mit Pro- und Contra-Aussagen zu Stuttgart 21 das ... Publikum zu polarisieren". Die Stimmung in der Inszenierung sei "ungefähr so wie vor 30 Jahren", als die Band Geier Sturzflug mit ihrem Hit vom Steigern des Bruttosozialprodukts die Situation auf den Punkt gebracht habe: "Dem Einzelnen gehen zunehmend die Perspektiven verloren, aus der großen Wirtschaftswelt dagegen, kommt eine Erfolgsmeldung nach der anderen." Es gebe bei Lunguhß viel "flotte Musik", die Akteure seien "immer bestens gelaunt". Lösungen suche man allerdings auch bei Heckmanns vergeblich, dafür werde man "sensibilisiert" für die verschiedenen Standpunkte.
Martin Halter schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.5.2012) über Martin Heckmans neues Stück, es benutze, wie üblich seit seinem Durchbruch mit "Schieß doch Kaufhaus" 2002, die "Distanzwaffen von Ironie und Selbstironie, Sketchen und Sprachspielen". "Die Frage aber 'Was tun?' sei "mindestens so schwer zu beantworten wie vor zehn Jahren". "Fröhlich und manchmal überschlau" dekliniere Heckmanns die Widersprüche der Bewegung durch. Regisseur Marc Lunghuß choreographiere die "hirnwütigen Textflächen" als "kurzweiliges Begriffsballett". Aus dem "Hampeln und Strampeln der konkurrierenden, vereinzelten, hellsichtig delirierenden Ichs" kristallisierten sich immer wieder gemeinsame "Rituale und Ringelreigen". Die Sehnsucht nach dem "Wir" sei der kleinste gemeinsame Nenner. Für das "Spiel vom Fragen sei die ungeliebte Ausweichspielstätte des Stuttgarter Schauspiels im Industriegebiet am Stadtrand wie geschaffen. In dem "Gewirr der Bürokomplexe, Schnellstraßen und Fabrikhallen" komme sein Stück über die "Unfertigkeit und Unwirtlichkeit des Lebens unter den Bedingungen von Globalisierung, Klimakatastrophe und Schuldenkrise" erst richtig zur Geltung. "Wir reiten ohne Pferd, Scheuklappen und Zügel und können weder Ross und Reiter noch konkrete Utopien benennen."
In einer Doppelbesprechung mit Volker Löschs "Die Gerechten / Occupy" schreibt Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (1.6.2012), dass Heckmanns Titel erst mal Lust mache, "was folgt, ist aber ziemlich schmal und präsentiert Suchbürger, die nicht wissen, auf welchen Protestzug sie denn nun aufspringen sollen." Nachvollziehbar ist, dass Heckmanns die Seelenlage heutiger Widerständler erforschen möchte, die, eingekeilt zwischen Katastrophenszenarien, wie wesenlose Zombies durch die Innenstädte irren. "Das Stück zum Thema ist aber selbst so unfertig, dass man den Autor, der zuletzt für Dresden die Familienfunkelgroteske 'Vater Mutter Geisterbahn' geschrieben hat, nicht wiederzuerkennen meint." Für die Regie von Marc Lunghuß bedeutet das, dass die Schauspieler agieren, als ginge es um Schadensbegrenzung. "Sie tanzen auf Versatzstücken der New York Stock Exchange und sind Teil jenes frontalen Texttransporttheaters, das gerne immer dann bemüht wird, wenn ein Regisseur einem Text nicht traut."
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