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Farewell Nachkriegssentimentalität

von Matthias Weigel

Berlin, 1. Juni 2012. Zum Ende der Intendanz tastet sich HAU-Chef Matthias Lilienthal ganz nah an das Objekt seiner Begierde heran. Eines seiner zwei Monumental-Abschiedsgeschenke präsentiert er auf dem Tempelhofer Feld, dem ehemaligen Flughafengelände. Ins Terminal-Gebäude wäre Lilienthal gerne langfristig eingezogen, träumte von einem riesigen variablen Kunstraum (mit fünf Millionen Euro Budget). Nun richtet er immerhin auf dem Flughafenfeld davor seine "Weltausstellung" aus. Darin preisen sich 15 größtenteils jüngere HAU-Performer und interdisziplinären Künstler in 15 Pavillons an, bevor sich bald in einem 24-Stunden-Marathon ("Unendlicher Spaß") die alten Hasen und internationalen Performance-Stars die Klinke in die Hand geben werden.

Ort und Kunst verschmelzen lassen

Es liegt an der enormen Fläche des Tempelhofer Feldes mit seinen etwa zwei Kilometer Durchmesser, dass diese Weltausstellung erstmal mehr nach Welt denn nach Ausstellung aussieht. Ohne Fahrrad und Windbreaker-Jacke ist man verloren. Hat man sich mit Lageplan und den "Check-In"-Punkten zurechtgefunden, führt zum Beispiel der erste Weg in ein altes Antennen-Gebäude. Hier hat Hans-Werner Kroesinger die Geschichte des Geländes in einer aufwändigen Installation aufbereitet, zudem gibt es eine Führung durch die Vergangenheit: Im 18. Jahrhundert als Exerzierplatz für die Berliner Garnison genutzt, gab es auf dem Gelände auch eine Vergnügungszone, in der geraucht und getrunken werden durfte. Im 19. Jahrhundert wurden dann die ersten Kasernen gebaut, bis im 20 Jahrhundert der erste Zeppelin abhob. In den unrühmlichen Teil der engen Zusammenarbeit von Lufthansa und Nationalsozialisten während des zweiten Weltkrieges legt Kroesinger seinen Finger natürlich ganz genau. Außerdem erfährt man, wie in Tempelhof die NS-Sturzkampfflugzeuge ("Stukas") von Zwangsarbeitern unterirdisch montiert wurden. wakroes bresadoladramaberlinde 280 uKroesingers Pavillon © Bresadola/Drama-berlin.de

Es sind die starken Momente der "Weltausstellung", in denen das besondere Gelände mit dem Gezeigten und Performten verschmilzt. Auf geniale Art und Weise tut dies die Installation "Fare Thee Well!" von Dries Verhoeven. Vom südlichsten Aussichtsturm aus kann man (mit Soundtrack) einen Blick durch aufgestellte Teleskope werfen, die auf das gigantische Terminal gerichtet sind. Und plötzlich entdeckt man auf dem Gebäude die Laufschrift einer LED-Anzeige, die mit bloßem Auge auf die Entfernung kaum zu entdecken ist. Durch die voyeuristischen Fernrohre aber erreichen uns trotz Kilometerentfernung die stummen Abschiedsformeln plötzlich ganz intim: Farewell Unabhängigkeit, Farewell Retirement, Farewell Hauptstadtkulturfonds, Farewell Nachkriegssentimentalität, Farewell Polish Migrant Workers... Eine magische Verschränkung von Ferne und Nähe, Öffentlichkeit und Privatheit, und natürlich melancholischer Abgesang und frotzelnde politische Unkorrektheit.

Masse ist nicht Klasse

Zwischendurch heißt es dann immer wieder radeln, vorbei an den surrenden Lenkdrachen und keuchenden Rennradlern. Dabei bloß nicht auf die brütende Feldlerche treten. Aber auch den ein oder anderen Pavillon kann man mal getrost links liegen lassen, wie Toshiki Okadas Performance "Unable to see". Eine aufwändige Holzkonstruktion soll an die Fukushima-Ruinen erinnern, die Zuschauer werden als "Zuschauer eines 3D-Filmes" (der aber in diesem Moment erst gedreht wird) durchgeführt. 

waokada 280 dramaberlinToshiki Okadas "Unable to see" © Drama-berlin.deLangweilige Witzchen helfen hier auch nicht darüber hinweg, dass der Erfahrungswert gegen null geht – nichtmal die Unverfügbarkeit des Ortes oder der Bilder wird im Holzverschlag spürbar. Das ist natürlich die Gefahr bei solchen Messeprojekten: dass sie daran kranken, dass für das einzelne Event dann doch Budget/Aufwand/Beachtung zu klein ist, um für sich bestehen zu können – Masse allein reicht nicht.

Ein Highlight, dass sehr wohl für sich stehen kann, ist das neue "Game" der Hildesheimer Gruppe "machina eX". Ihr Prinzip ist die Rückabwicklung der Digitalisierung: Die Performer übersetzen die Struktur von Computerspielen (von Point-and-Click-Adventures wie "Monkey Island") wieder zurück ins Reale. Zusammen mit anderen Zuschauern müssen in interaktiven Performances kleine Rätsel gelöst werden, die die Handlung vorantreiben. Die Story ist typisch kitschig – aber unter der Rettung der Welt oder der Menschheit macht's ja auch kein Computerspiel. "Machina eX" schöpfen wie schon bei ihrem letzten Coup Wir aber erwachen... hinter ihren Türen ihre ganz eigene, wunderbar entrückte Welt.

Raumerfahrung anderer Art

Die unwirkliche Atmosphäre mit waberndem Licht, schwebenden Soundeffekten und liebevoll ausgestalteten Zimmern lässt eine einmalige Raumerfahrung zu, verschiebt einerseits die wahrgenommene Realität ins Virtuelle und ruft gleichzeitig unsere virtuellen Verhaltensmuster in der realen Welt ab. Die rechtzeitige Entschlüsselung der clever designten und technisch perfekten Prüfungen lässt unwillkürlich den Puls in die Höhe schnellen. Denn jederzeit könnte Metatron zurückkehren, der unsere Welt-Illusion aufrecht erhält, obwohl Gott längst aufgegeben hat. Bald steht man kurz davor, den Geist von Albrecht Dürer aus seinem Gitterkäfig zu befreien – "machina eX" haben ihren Pavillon in einem ehemaligen Hundezwinger aufgebaut.

Doch wollte man überhaupt ganz ohne Illusion leben? In den herkömmlichen Weltausstellungen und Expos finden illusionäre Länderdarbietungen ihren absurden Höhepunkt. Die HAU-Weltausstellung gibt dazu einen augenzwinkernden Kommentar – ironisch, und doch als HAU-Welt-Ausstellung.


The World is not Fair/Die große Weltausstellung
"World Freud Center" von andcompany&co., "Camp der Renegaten" von Dellbrügge & De Moll, "Farafra" von Willem De Rooij, "Double shooting" Installation von Rabih Mroué,"Unable to seePerformance" von Toshiki Okada, "The World Is Not fair" Dauerperformance von Tracey Rose, "Festivalzentrum" der Architekten Umschichten, "Fare Thee Well!" Installation von Dries Verhoeven, "Quartier 52.4697°N 13.396°E" Performance von Tamer Yiğit und Branka Prlič, "Parallele" Installation von Harun Farocki, "Institut für Imaginäre Inseln" Installation von Lukas Feireiss und Schülern, "Pavillon der Weltausstellungen" Installation von Erik Göngrich, "Translation Acts" Installation von Institut für Raumexperimente, "Feldpost 2012" Installation und performative Führung von Hans-Werner Kroesinger, "Die Werkstatt des Metatron" Performance von machina eX.

www.hebbel-am-ufer.de
www.raumlabor.net


Kritikenrundschau

"Weite macht noch keinen Horizont", betitelt die Frankfurter Allgemeine Zeitung (2.6.2012) den Bericht von Irene Bazinger. Bereits das Raumkonzept, "warum diese sehr provisorischen 'Orte' in solchen Entfernungen voneinander plaziert wurden, dass man sie ohne Fahrrad nur mit zum Teil halbstündigen Fußmärschen erreichen kann", will der Kritikerin nicht einleuchten. Einen Erklärungsansatz hat sie dennoch parat: Die "Zuschauer können ihre Verwunderung wie ihren Verdruss angesichts der mit rhetorisch auftrumpfender Reklameprahlerei präsentierten Lappalien beim Radeln oder Wandern abreagieren." Bei Toshiki Okada hat sie "peinliches wie verniedlichendes Laienspiel" erlebt und auch sonst herrsche hier ein "unverdrossener Dilettantismus" vor, ganz gleich, "ob ein Computerspiel nachgestellt, ob das Genre der Seifenopern parodiert oder ob eine Versammlungsstätte für Menschen ohne festen Wohnsitz gebastelt wird: mit Turm und Windfahne". Gut weg kommen die "ernsthafteren Beiträge" von Dokumentartheatermacher Hans-Werner Kroesinger, Willem de Rooij mit seiner Klangskulptur "Farafra" oder die "beklemmende Installation" von Rabih Mroué. "Ohne die paar gelungenen, kunstvollen Arbeiten wäre diese 'Große Weltausstellung' in noch stärkerem Maße ein großer Bluff aus Aufschneiderei, Trash und Einfalt."

In ihrer Doppelbesprechung der "Weltausstellung" mit der 24-Stunden-Tour "Unendlicher Spaß" schreibt Doris Meierhenrich für die Berliner Zeitung (4.6.2012): Die Weltausstellung auf dem Tempelhofer-Flugfeld "imponiert bisher vor allem durch die informative Ausstellungszeitung. Die Performances selbst in den Pavillons von Raumlabor, die teils aussehen wie munter zusammengehauene Piraten-Burgen, bleiben dagegen noch hinter den Erwartungen zurück". Es sei alles gut angedacht; die Künstler "suchen antikommerzielle Lebenstechniken"; ihre Ideen "setzten sich aber noch kaum um". "Am Ende überzeugt Bewährtes: Hans-Werner Kroesingers Dokumentation der militärischen Flughafengeschichte und Rabih Mroues aufrüttelnde Installation "Double Shooting".

"Die fünfzehn Ausstellungsorte der Weltausstellung liegen so verstreut in der weiten Wiesenlandschaft zwischen den ehemaligen Landebahnen, dass die Wege dazwischen das Hauptereignis werden", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (5.6.2012), "das Zeigen von Welt also ständig zu einem Punkt zusammenschrumpft, während die Erfahrung der eigenen Gegenwart, das Gehen oder Fahrradfahren, die anderen sehen, Jogger, Skater und Menschen mit Flugdrachen, sich ausdehnt." Innen gebe es dann teilweise gar nicht viel zu sehen, mehr zu denken. "Warum Utopien so oft auf Inseln stattfinden, ob die vielen nach Berlin gezogenen Künstler im Alter eine eigene Kolonie brauchen, ob die Tricks der Computeranimation nicht inzwischen schon die Wahrnehmung der Wirklichkeit präfigurieren - solche Sachen." Und wieder lasse die Kunst – und das gehöre eben zu den Tugenden vieler Projekte, die Matthias Lilienthal am HAU initiiert habe – "neben sich viel Raum für das Eindringen weiterer Wahrnehmungen."

Und in einem wirklich wunderbaren, liebevoll hybriden Text, halb Rezension der Weltausstellung, halb Lilienthal-Porträt, schreibt Peter Kümmel (Die Zeit, 6.6.2012): "Eine melancholische Schau, deren Pavillons in bitterer und heroischer Einsamkeit auf dem Gelände stehen und sich unter dem Wind wegducken, der von Neukölln einfällt." Die Kunst und die Schnapsidee hätten alle Platz auf dem Flugfeld mit seinen umwerfenden Blickachsen. Und in den Berliner Theaterveranstaltungenim Theater sah Matthias Lilienthal aus wie "ein in Schach Gehaltener, ein Eindringling", beim zweiten Blick aber merkte man, dass Lilienthal auf seine Umgebung einen beruhigenden Einfluss hatte: "Die Leute waren froh, dass er da war; sie fühlten sich von ihm vor dem Wahnsinn auf der Bühne beschützt. Kein Zweifel, dieser Mann wird wiederkommen."

Zwei "angemessen größenwahnsinnigen Unternehmungen" wohnte Peter Laudenbach für die Süddeutsche Zeitung (11.6.2012) am langen HAU-Wochenende bei: der 24-Stunden-Tour "Unendlicher Spaß" und der großen Weltausstellung auf dem Tempelhofer Flugfeld. Er bespricht sie ihm Rahmen eines Abschlussporträts der Intendanz von Matthias Lilienthal, die durch "Überforderung, Exkursionen in urbane Situationen aller Art und Experimente mit offenem Ausgang" gekennzeichnet gewesen sei. Ein "Messinstrument für gesellschaftliche Brüche, Paradoxien oder Sehnsüchte" habe Lilienthal mit dem HAU geschaffen. Hier "konnte man entdecken, wie sich das Theater angesichts neuer Medien und der Globalisierung, der Dominanz der Pop-Kultur und dem Verschwinden der Genre-Grenzen zwischen Performance, Bildender Kunst und Film immer wieder neu in Frage stellte." Zu den finalen XXL-Veranstaltungen, die für die "radikale Internationalisierung des Theaters" am HAU stünden, folgen dann auch kritische Töne, wenn konstatiert wird, dass "Lilienthals Strategie der Überprüfung der Mittel und Grenzen des Theaters an einem Endpunkt angekommen ist. Es ist ein Endpunkt, der gefährlich um sich selbst und die Freude an der eigenen radikalen Geste kreist." Da HAU nähere sich dann dem "Kunst-Ghetto" bzw. – in Lilienthals Worten – der "Kunstkacke" an, "gegen die es immer polemisiert hat". Bei Weltausstellung und 24-Stunden-Tour sei anscheinend zu viel Energie in die "Konstruktion der beiden Groß-Rahmen" geflossen. "Dafür, diese riesigen Rahmen mit Inhalt zu füllen, blieb dann wenig Kraft. Das Ganze rutscht in die Nähe eines sich selbst feiernden Kultur-Events, das durch pure Größe, durch die exzessive zeitliche oder räumliche Ausdehnung Bedeutung simulieren will." Positive Ausnahmen stellen für den Kritiker die Arbeiten von Rabih Mroué, Hans Werner Kroesinger und Toshiki Okada (alle Weltausstellung) und Chris Kondek ("Unendlicher Spaß") dar.

Für die Welt (21.6.2012) hat Sarah Elsing "ein Gegenmodell zum Format der Expo" gesehen und bewandert. "Keine ausgestellte Welt in Pavillons, die Nationalstaaten für ihre Markenbildung nutzen. Sondern 15 auf dem Flugfeld verstreute Orte, in denen Künstler, Theatermacher und Architekten einen anderen Blick auf die Welt riskieren - jenseits typischer Expo-Kategorien wie Leistung und Fortschritt." Obwohl die Pavillons inhaltlich und räumlich ein sehr weites Feld absteckten, scheine in vielen das Thema "Weltausstellung" durch. Diese Weltausstellung füge sich nicht zu einem schlüssigen Bild, einer besseren Weltsicht. "Eher eine Einladung zur kollektiven Bricolage auf weitem Feld."

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