Mäuse auf der Probebühne
oder Dinge tun, die man zuhause nicht macht

von Simone Kaempf

Hamburg, 31. August 2012. Der Musiker Neil Young kommt in Navid Kermanis maßlosem 1200-Seiten-Roman "Dein Name" schon ziemlich oft vor, gute drei Dutzend Male, zum ersten Mal auf Seite 53, und schließlich irgendwo im letzten Drittel in einer Szene, zu der Carl Hegemann seine eigene Version zu erzählen hat. Der Dramaturg sitzt in der Küche im labyrinthischen Inneren der Thalia-Probe- und Studiobühne in der Gaußstraße mit sechs Besuchern am Tisch.

Eigentlich ist eine Lesung aus Kermanis Roman angekündigt, aber Hegemann will nicht lesen, "denn das kann jeder zuhause tun". Man hält das in der heiter-aufgeladenen Stimmung schon mal für eine ganz schöne Definition: dass im Theater Dinge geschehen, die man nicht zuhause macht.

Von Neil Young über "Werther" zum Koran

Hegemann erzählt also, wie das mit Neil Young wirklich war. Dazu gehört, dass bei ihm im Haus jemand gewohnt hat, der nach Amerika ausgewandert ist und Mikrofontechnik-Meister von Neil Young wurde. Über diesen Kontakt erhielt Hegemann die private Telefonnummer von Neil Young. Und dessen Mailboxansage spielte er dann einst bei einem Abend im Schauspielhaus Bochum ein. Lerne: Die Wege, wie Kunst auf die Bühne kommt, sind manchmal lang, aber interessant.

Hegemann hat sein Laptop dabei und das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom Freitag, das den Aufmacher über Kreativität überschrieben hat mit "Der Feind ist der Schlaf", wo es doch eigentlich heißen müsste "Der Feind ist die Schlaflosigkeit", so Hegemann, weil Kreativität nicht funktioniere ohne Kontemplation und Pausen, denn sonst ergehe es einem, wie es bei Young heißt: "The same things that make you live will kill you". Inhaltlich finde man das sowohl bei Goethes "Werther" als auch im Koran, sagt Hegemann – und kommt in Volten doch wieder zurück zu Kermani, zum Theatermachen und zum Inneren des Theaters, das Leben und Denken vereinen muss.

Einhaken und Herauspicken

Um dieses Innere geht es also an diesem Abend, der gar nicht als offizielle Eröffnung angekündigt ist, mehr als Grillfest mit 25 Schauspielern (vom Thalia Theater und vom Deutschen Schauspielhaus), die an unterschiedlichen Orten vom Schuhfundus bis zur Herrendusche aus Kermanis Roman lesen. Aber sich in praxi ständig von der Lesung lösen, wenn auch nicht alle mit der Hegemann'schen Konsequenz. Und doch alle mit dem Wunsch, offen zu legen, was jeden einzelnen aus dem Buch interessiert. Vielleicht, weil es etwas trifft, was einen selber beschäftigt. Und dieses Einhaken und etwas Herauspicken symbolisiert wohl auch die beste Rezeption des Buches, das Leben und Denken parallel zu erzählen versucht.

So erfährt man unter dem Stichwort "Zufall" von der Schauspielerin Gabriela Maria Schmeide, dass die Flucht des Vaters aus der DDR ihr das geplante Medizin-Studium verbaute und sie aus dieser Not ans Theater kam, um dort als Schauspielerin ihren Platz zu finden. Folgt der eigene Weg einem höheren Plan oder doch nur einer zufälligen Ordnung?

Mexiko, Köln und schon wieder Neil Young

Tilo Werner wiederum liest fast täglich mittelamerikanische Blogs, die über den Drogenkrieg in Mexiko berichten. Dem Land fühlt er sich seit einem Schüleraustausch verbunden. Das Ausmaß der Gewalt aber sei ihm unerklärlich, und auch, dass die Drogenbosse vor ihrer Ermordung lächeln wie Märtyrer, um die es auch in Kermanis "Dein Name" geht.

Und der Schauspieler Bernd Grawert hat mal in dem Viertel hinter dem Kölner Bahnhof gewohnt, dessen Mischung aus türkischen Läden, Handyshops und Internetcafés in "Dein Name" beschrieben ist. Nun klampft Grawert aus den Textstellen ein Lied (natürlich auf Basis von Neil Young), erfindet ein bisschen Karneval-Satire, aber hält auch eine kleine Liebesbekundung an die Stadt Köln bereit.

Ein "Ulysses" von heute?

Mit dem Erkunden des Inneren ist aber auch das Haus selbst gemeint, die Architektur und die Materie, die sich in ihr ablagert. Man wandert an Requisitenregalen vorbei, in denen mal eine erhebliche Anzahl von Krückstöcken auffällt, dann gestapelte Autoreifen. Ein Schild warnt vor Mäusen auf der Probebühne, Essbares soll nicht liegen gelassen werden. Im Flur hängt ein großes Plakat eines Südamerika-Gastspiels aus der Zeit, als Ulrich Khuon noch Intendant war.

In diesem Sammelsurium aus Dingen und Erzählungen, die man zwei Stunden nebeneinander erlebt, formt sich in kurzer Zeit tatsächlich ein Pendant zu Kermanis Roman. Was der wirklich ist – eine Art "Ulysses" von heute oder der Versuch, das Ineinander von Leben und Denken, Gegenwart und Vergangenem aufzuschreiben – das bleibt angenehm offen. Niemand versucht, das Buch zu erklären oder den Abend ernsthaft als Dramatisierung zu beschreiben. Und doch hat es hier eigene Kräfte entwickelt und Hilfe geleistet, die Bewusstseinsbildung des Theaters für zwei Stunden nach außen sichtbar zu machen.

 

Herzzentrum I–IV
Textauswahl von Carl Hegemann und Navid Kermani nach Kermanis Roman "Dein Name"
Szenische Einrichtung: Luk Perceval und Christina Bellingen, Ausstattung: Annette Kurz.
Mit: Alicia Aumüller, Christina Geiße, Bernd Grawert, Hannes Hellmann, Ute Hannig, Carl Hegemann, Markus John, Janning Kahnert, Navid Kermani, Lutz Krajenski, Irene Kugler, Barbara Nüsse, Thomas Niehaus, Sebastian Rudolph, Gustav Rübenacker, Günter Schaupp, Gabriela Maria Schmeide, Maja Schöne, Cathérine Seifert, Tristan Seith, Alexander Simon, Oana Solomon, Wolf-Dietrich Sprenger, André Szymanski, Oda Thormeyer, Tilo Werner. Musik: Lutz Krajenski (Hammond-Orgel), Bernd Grawert, Hannes Hellmann, Thomas Niehaus, Tilo Werner (Neil Young Bandprojekt).

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

In seiner Besprechung des Saisonauftakts am Thalia Theater für die Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (2.9.2012) spielt Michael Laages den Kermani-Abend gegen Bosses "Platonow" (hier zur Platonow-Einschätzung von Laages) aus. Ein "mutigeres Abenteuer" sei bei Kermani zu erleben gewesen. "Stuhllager oder Requisite sind da zu Räumen der Fantasie geworden – und ein wenig jener Fantasie, die sich aus dem Nichts erfindet, wäre auch dem Rest der Eröffnung zu wünschen gewesen."

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