Um ein Haar

von Martin Thomas Pesl

St. Pölten, 6. Oktober 2012. Zum Einstand schenkt die Intendantin Bettina Hering St. Pölten eine Prise Virtuosität. Sie lässt Martin Wuttke einfliegen, eigens aus Berlin, und bringt damit, so wird gemunkelt, den Spielplan der Volksbühne gehörig durcheinander. Zwanzig Minuten lang deklamiert Wuttke vor dem Vorhang Texte von Robert Pfaller und René Pollesch, mit einem Eimer, einer Zigarette und seiner wuttkeschen Wucht. Mit diesem Eröffnungsmonolog über den "Beleuchtungswechsel" im Leben und wie wir nicht immer alles meinen müssen, was wir sagen, raubt er dem anfangs noch wie im Kasperletheater dazwischenrufenden Publikum den Atem und gibt vor, was das Landestheater Niederösterreich unter seiner neuen Intendantin einerseits bieten will: intelligente, vollendete Schauspielkunst.

Andererseits folgt dann die eigentliche Eröffnungspremiere, die frech mit den Augen zwinkert und uns auf den Boden der niederösterreichischen Stadttheaterrealität zurückholt: "Wir sind noch einmal davongekommen" von Thornton Wilder ist ein selbstironisches Alles und Nichts, wo Schauspieler aus ihren Rollen fallen und bei einer Lebensmittelvergiftung des halben Ensembles angekündigt wird, man habe "ein paar engagierte Amateure" in petto, die den dritten Akt schnell einstudieren können. Auch das: eine Ansage, wenn auch in die gegenteilige Richtung.

Erst das ABC, dann das Rad

"Wir sind noch einmal davongekommen" verhandelt nicht weniger als die gesamte Menschheitsgeschichte, herunterbanalisiert auf ein Familienhickhack zwischen Adam und Eva (alias Mr. und Mrs. Antrobus), ihren Kindern Gladys und Henry (vormals Kain, der Abel – versehentlich – mit einem Stein erschlug) und der Haushälterin Sabina. Mrs. A. pflegt Familienwerte bis zum Exzess, ihr Mann ist ein erfinderisches Genie: Die Lektüre von Büchern brachte ihn auf die Idee, erst das ABC, dann das Rad zu erfinden. Alles dreht sich also im Kreis, und Kreis und Rad werden im Bühnenbild von Bettina Kraus durch eine Art Laufrad gespiegelt, das aber nicht laufen will, so heftig seine Insassen es auch von innen beklettern.

wir sind noch einmal davongekommen 560a sepp gallauer uLaufrad der Geschichte: "Wir sind noch einmal davongekommen" © Sepp GallauerFamilie Antrobus, die exemplarisch die Komödie des Menschen vorexerziert, entkommt der Eiszeit, der Sintflut und dem Weltkrieg um ein Haar – by "The Skin of Our Teeth", wie Wilders pulitzerpreisgekröntes Drama im Original heißt. Nun war dieses Drama im Jahre 1942 pulitzerwürdig, weil es ein bisschen das Theater revolutionierte. Erstens thematisierte es den Weltkrieg noch während des Weltkriegs mit den optimistischen Worten "Der Krieg ist aus", zweitens brach es die vierte Wand auf.

Bitte nicht ernst nehmen

Siebzig Jahre später, da das Theater kaum noch formale Grenzen kennt, wirken diese Einfälle papieren, besonders wenn sie, wie hier von Regisseurin Daniela Kranz, nicht ins Konzept integriert, sondern ausgestellt werden. Als Franziska Hackl gesteht, dass sie ihren Text als Sabina doof findet, wird sie vom Kollegen unter dem Namen Miss Somerset zurechtgewiesen, nicht als Franziska. Das steht zwar so im Text, aber indem Kranz Wilders Einladungen zu formalen Spielereien ausschlägt, raubt sie dem Abend die Chance auf Welthaltigkeit oder Aktualität: Der assoziative Sprung von der Sintflut zum Klimawandel läge nahe, er wurde, offenbar ganz bewusst, vermieden.

wir sind noch einmal davongekommen 280h sepp gallauer uFamilie in der Dauerschlaufe © Sepp GallauerStattdessen wirkt es, als hätte man die Aufforderung von Sabina/Miss Somerset, "dieses Stück bitte nicht ernst" zu nehmen, nun ja, ernst genommen. So beherzt sich das Ensemble abkämpft – allen voran Babett Arens als eifrige Mrs. Antrobus –, den in die Jahre gekommenen, weil wohl den Zeigefinger zu offenkundig erhebenden Wilder-Text eignet es sich nie recht an. Wenn die Schauspieler aus der Rolle-in-der-Rolle fallen dürfen, scheinen sie hingegen aufzublühen. Tobias Voigt etwa stattet den nervösen Theatermacher detailverliebt mit von Regieassistenten abgeschauten kleinen Gesten aus, verweigert als Nachrichtensprecher aber jeglichen Schwung.

Ab nach Hause

Nun ist absichtlich energielos auf Dauer eben auch langweilig, und wer gegen den Text arbeiten will, bräuchte dafür einen Gegenentwurf. Der scheint Kranz und Hering abzugehen, die hier als Dramaturgin fungierte. Gegen die Unschärfen im Tempo helfen weder die grellen Kostüme der Damen noch die comichafte Slapstick-Anmutung durch manisch Eis schleckend über die Bühne staksende Menschen. Der nach 1942 so erfolgreiche Optimismus des Stückes (weil die Antrobus' ja immer davonkommen) bleibt auf der Strecke zu einem abgebrühten Pessimismus (weil davon ja doch niemand was hat) in bunten Bildern stecken.

Obwohl dieses Stück über die sich wiederholende Geschichte konsequenterweise von vorne beginnt, gestattet uns Sabina/Somerset/Franziska, nach Hause zu gehen. Was wir mitnehmen sollen, wissen wir nicht so genau: nichts über die Welt, eher was übers Theater, und zwar, dass es nicht wirklich eine Bedeutung hat. Das und Wuttke: Nach diesem Beginn ist unter Bettina Hering in St. Pölten wirklich alles möglich.

 

Wir sind noch einmal davongekommen
von Thornton Wilder
Regie: Daniela Kranz, Ausstattung: Bettina Kraus, Dramaturgie: Bettina Hering.
Mit: Babett Arens, Swintha Gersthofer, Pascal Groß, Franziska Hackl, Christine Jirku, Marion Reiser, Michael Scherff, Othmar Schratt, Tobias Voigt, Lisa Weidenmüller.
Dauer: gute 2 Stunden, eine Pause

www.landestheater.net

Kritikenrundschau

Blendend weiß und herzerfrischend zynisch blitze das Stück in Bern, so Ronald Pohl im Standard (8.10.2012). "Trotzdem erlahmt das Interesse an Familie Antrobus fast im Nu. Die Schauspieler einigen sich rasch auf eine mittlere Betriebstemperatur und agieren gemäßigt übertrieben." Obwohl den Schauspielern Lob gebühre, hätte man sich von der Inszenierung "eine intensivere Ausstrahlung von Gefahr durchaus gewünscht".

Ähnlich argumentiert Norbert Mayer in der Presse (8.10.2012): "Kühl, dramaturgisch straff und recht einfallsreich" sei der Abend, "allerdings auch zu brav und ohne viel Risiko, die Differenz zwischen dieser Endzeitstimmung von damals und ihrer Relevanz für heute auszuloten". Den Untergang als Ulk, das hätte Wuttke, der Eröffnungs-Performer, "wohl abgründiger dargeboten". Wegen der tollen Schauspieler sollte man aber "auf jeden Fall von einem hoffnungsvollen Start in die neue Saison sprechen".

 

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