Wie man den Wolf zähmt

von Oliver Schneider

Zürich, 3. November 2012. Am Ende will Harry Haller es nicht glauben, dass er das Magische Theater nicht verstanden hat. Er war doch eingetreten, um das Lachen zu lernen. Und jetzt? Seinen misslungenen Versuch nimmt Harry so nicht hin. Er will gleich noch einmal in die Geschichte einsteigen, um endlich über sich selbst lachen zu können. Der "Steppenwolf" könnte wieder von vorn beginnen.

Seit seinem Erscheinen 1927 ist Hermann Hesses Roman für Generationen von Jugendlichen ein zentrales Werk auf dem Weg, die eigene Persönlichkeit in ihren Widersprüchen zu entdecken. Der gut situierte, im Schöngeistigen tätige Harry kehrt in seine Studienstadt zurück. Unzufrieden trotz des Erreichten schafft er es nicht aus eigenen Kräften, sich von den gesellschaftlichen Erwartungen und Fesseln zu befreien und sein facettenreiches Ich stärker auszuleben. Sein Ich, das ist auch ein wildes Tier in ihm, der Steppenwolf.

Fünferteam auf der Drehbühnentorte

Gespielt wird in der Schiffbau-Box, der Dependance des Schauspielhauses Zürich, die vor sieben Jahren für das Wiener Burgtheater von Joachim Lux erstellte Romanadaption. Der aus Göppingen stammende junge Regisseur Bastian Kraft und sein Ausstattungsteam lassen das dreiteilige Stück auf einer hochzeitstortenähnlichen Drehbühne spielen, die scharfe prosaartige Schnitte ermöglicht: Ein Bett, ein Sessel, eine Pflanze oder eine Tür deuten die Handlungsorte an.

Fünf Schauspieler schlüpfen in die verschiedenen Rollen, Harry selbst wird manchmal auch von einem Viererteam verkörpert. Damit wird das Romanhafte in der Dramatisierung bewusst betont und zugleich eine Metapher für den gespaltenen Charakter Harrys geschaffen. Und wie rasch die Schauspieler von einer Rolle in die andere wechseln und sich dabei auf die Darstellung der im aktuellen Moment wesentlichen Charakterzüge beschränken, ist bewundernswert.

steppenwolf 1490 560 toni suter uTheater mit Kopf: Timo Fakhraver (auf Projektion), Anna Blomeier und Arnd Klawitter.
© Toni Suter

Der Wolf an der Rokoko-Tafel

Dem Wunsch des Sohnes seiner rechtschaffenen Zimmerwirtin, den Meldezettel auszufüllen, widersetzt sich Haller ängstlich, aber mit Erfolg. Man soll nichts wissen von ihm, der den Ausweg aus seiner inneren Zerrissenheit nur im Selbstmord sieht. Denn es ließe sich wohl leidlich im bildungsbürgerlichen Mittelmaß leben – wenn nur der innere Wolf nicht wäre.

Als ihn sein alter Professor Haller zu einem Abendessen einlädt, siegt der gut erzogene Bürger in ihm. Widerwillig sitzt er mit den Gastgebern auf Kloschüsseln an einem Rokoko-Tisch. Indem er jedoch ein Goethe-Porträt, das dem Professor gleicht, als verkitscht bezeichnet und er damit die Gastgeberin vor den Kopf stößt, verletzt der zum Wolf Gewordene die Konventionen. Es ist Hallers erster fälliger Schritt auf dem Weg der Befreiung seines Ichs. Das unweigerlich aufkommende Lachen bleibt einem im Halse stecken.

Unter Tänzern

Hermine, eine Kurtisane im Zwanziger-Jahre-Look, die Harrys Freund Hermann gleicht, setzt nun alles daran, Harry von seinen Neurosen zu befreien. Wie ungelenk Harry mit seinen knapp 50 Jahren ist, zeigt sich beim Tanzen, das Hermine ihm mit Mühe beibringt. Die Drehbühne verwandelt sich zum Schallplattenspieler. Langsam werden Harrys Bewegungen freier. Er traut sich sogar, die hübsche Prostituierte Maria zum Tanzen aufzufordern. Von Hermines Freund Pablo muss Harry lernen, dass es nicht darauf ankommt, ob Musik in ferner Zukunft noch Bestand hat, sondern einzig und allein darauf, Musik zu machen, wozu er auf der auf dem Boden aufgezeichneten Tastatur die Oktaven runter und rauf hüpft.

steppenwolf 0346 560 toni suter uReise zum Ich: Anna Blomeier und Fritz Fenne. © Toni Suter

Hermine, Pablo und Maria nehmen Harry gehörig unter ihre Fittiche, und Harry erweist sich als ihr gelehriger Schüler. Tanzen, Shopping und Champagner gehören rasch zu seinem Alltag wie Goethe und Mozart bisher. So schließt Harry Bekanntschaft mit einer profanen Welt, die der unserigen zum Verwechseln ähnlich sieht. Der Wolf in ihm wird in der konsumkapitalistischen Wirklichkeit gezähmt. Ob das im Sinne Hesses ist, sei dahin gestellt. Eine schlüssige Deutung ist es jedenfalls.

Finale im Magischen Theater

Die Tatsache, dass Maria in seinem Bett gelandet ist, erschreckt Harry nur im ersten Moment beim Gedanken an seine Untermieterin. Noch ist Harrys Reise in sein Ich nicht beendet, nun muss er noch ins Magische Theater seines Freundes Pablo eintreten, der sich hier als perfekter Conférencier erweist.

Seine Persönlichkeit gibt Harry am Eingang ab und sieht sich einer Vielzahl von Harry-Steppenwölfen gegenüber: dem Publikum – was in Bastian Krafts Zürcher Inszenierung überhaupt nicht wie ein abgedroschener Gag wirkt, sondern als ganz selbstverständliche Lösung wirkt. Die Idee fügt sich harmonisch in die gesamte Inszenierung ein, die es in ihrer nacherzählenden Art mit stilisierenden Bildern als Ausdruck für das zerrissene Seelenleben Hallers bestens ermöglicht, in Hesses Welt einzutauchen.


Der Steppenwolf
von Hermann Hesse
für die Bühne eingerichtet von Joachim Lux
Regie: Bastian Kraft, Bühne: Simeon Meier, Kostüme: Inga Timm, Musik: Arthur Fussy, Choreographie: Peter Kadar, Licht: Michel Güntert, Dramaturgie: Thomas Jonigk.
Mit: Anna Blomeier, Timo Fakhravar, Fritz Fenne, Arnd Klawitter, Yanna Rüger.
Spieldauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

Mehr zu dem Regisseur Bastian Kraft, der sich einen Namen als Experte für Romanumsetzungen gemacht hat, erfahren Sie im Lexikoneintrag.


Kritikenrundschau

Schauspieler in einem "Rausch" und eine "packende, Hesses Anliegen und Sprache ungewöhnlich ernst nehmende Version" der Romans hat Claudio Steiger für die Neue Zürcher Zeitung (5.11.2012) im Schiffbau beobachtet. Es sei ein Abend, an dem "alles stimmt": der Auftakt "im Zusammenspiel von Arthur Fussys Musik und der suggestiven Wortmacht des Beginns" ein "Paukenschlag", das Spiel der Akteure "brillant". Die Geschichte ende für Harry Haller im "magischen Theater seiner Seele". Und: "Wie dieses visualisiert wird, ist allein einen Besuch wert. Was aber Bastian Kraft mit einem brillanten Ensemble und einem großen Team von Technikern hier an diesem denkwürdigen Abend auf die Bühne zaubert, ist selbst nichts weniger als magisches Theater."

"Eine wahre Meisterleistung" registriert auch Roger Cahn für die Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio (3.11.2012). Kraft bleibe "nahe beim Text", um "Hesses ästhetische Sprache zu zelebrieren", er gebe dem "unstrukturiert-strukturierten Roman eine Struktur" und verwandele die "oft ausufernden inneren Monologe und Reflexionen des Helden in spannende Dialoge". Einziger Einwand: "Die menschliche Seite des Harry Haller erhält ein deutliches Übergewicht gegenüber dessen zerstörerischer und anarchistischen Seele."

Im Tagesanzeiger (5.11.2012) lobt Alexandra Kedves zwar den Regisseur: "Kraft hat den Roman exakt vermessen und für jede These ein Bild gebaut. Er war so textgetreu, wie man nur sein kann, verfuhr so munter mathematisch, wie es geht". Außerdem schillere es, "dieses Ding zwischen Odeon und Moulin Rouge". Allein: Kraft entlarve damit den 'Steppenwolf' als furchtbar langweiligen Text. "Wenn Hesse, dann Pathos, bitte! Selbstzerwühlung ohne Orgie ist wie ein Wolf ohne Steppe."

Bastian Krafts "Inszenierung ist technisch nahezu perfekt: präzises Spiel, schnelle Wechsel der Szenen, Rollen, Perspektiven, vorbeirauschende Projektionen der Ängste und Sehnsüchte des in sich zerrissenen Hallers", schreibt Cornelia Fiedler für die Süddeutsche Zeitung (22.11.2012). Die Mehrfachbesetzung der Hauptfigur sei dabei zwar eine "konsequente Besetzungsidee", allerdings bleibe dieser Protagonist Haller im ganzen "Bühnenzauber" auch "seltsam blass". Die Aufführung "verharrt an der Oberfläche", weil "Hallers Leiden, sein auf Erfahrung gründender Weltekel nicht intensiv spürbar sind". Dadurch "fehlt nicht nur dessen versuchter Wandlung zum Lebemann die Motivation, es fehlen auch die überall lauernden Abgründe."

 

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