Das Neandertaler-Gen der Linksliberalen

von Jens Fischer

Hamburg, 4. November 2012. Abende wie diese! Endlich ist der Bourgeois nur unter seinesgleichen. Die Kinder längst ins Bett entsorgt, warm ausgeleuchtet soll das Wohnzimmer Heimeligkeit vermitteln, zum Hineinfläzen zurechtgezupft die Sitzmöbellandschaft, aus der Küche schweben Gewürznoten auf Duftwolken herüber, die Dame des Hauses hat sich extra ihre Haare in akkurat-lässig wippende Form bringen lassen, würde gern noch schnell ihrem Mann das blaue Hemd entknittern, der schon mal einen 85er Cheval Blanc entkorkt, während die Gäste schnell noch eine Extraportion gute Laune auflegen. Ach, ein gemütliches Abendessen mit guten Freunden – so beginnen Horrorfilme.

Oder eben französische Gesellschaftskomödien, diese zeitgenössisch gebildeten, psychologisch fortgeschrittenen Formate des bürgerlichen Lachtheaters. Konstitutiv gehört dazu der Störenfried, der mit provokantem Verhalten die gut aufeinander eingespielte Selbstdarstellergruppe in ihrer finanziell abgesicherten Wohlanständigkeit aus der Reserve lockt, so dass nicht nur ein lukullischer Festschmaus, sondern auch alles bisher unter den Teppich Gekehrte auf den Esstisch kommt. Ein solches Kammerspiel haben Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière mit "Der Vorname" zum Pariser Theatertriumph und in eigener Regie auch zum Arthouse-Kinoerfolg geführt.

Kinderzimmer vor der Kissenschlacht

Christian Brey brachte es jetzt stadttheaterdeutsch auf dem Spielfeld des Deutschen Schauspielhauses heraus: Die Dialoge sind nicht so schnabulierironisch elegant angelegt wie in der Verfilmung, die Rollen mit Pointen-Esprit auch nicht so beiläufig virtuos charakterlich ausgestaltet, sondern für die Gag-Dramaturgie kernig typengerecht zurechtgestutzt. Es treten auf: der Stille mit Geheimnis, der Clown mit der viel zu jungen Braut, der Besserwisser mit einer Gattin, der aus jeder Pore Hausfrauenfrust strömt.

dervorname 6092 560 kerstin schomburg uSchlummert hinter der Fassade dieser Herrschaften (Stephan Schad, Janning Kahnert, Ute Hannig, Katja Danowski, Markus John) der Neandertaler? © Kerstin Schomburg

Da wollte auch Ausstatterin Anette Hachmann nicht den innenarchitektonischen Akademiker-Chic einer Pariser Altbauwohnung auf der Bühne herrichten, sondern ein Kinderzimmer kurz vor der Kissenschlacht. Mit einem Boulevardspaß, deutlich über Neil-Simon-Niveau, wird die Lust des Publikums mal wieder bestens bedient, sich über die Verlogenheit des eigenen Lebens zu amüsieren. Ja, herzlich böse darüber zu lachen, wenn der zivilisatorische Firnis ein bisschen abgekratzt wird, so dass auch die linksliberalsten der wohlsituierten Menschenfreunde mal so richtig schäbig in Fahrt kommen. Und als ureigensten Antrieb gerade das erkennen müssen, was sie am meisten verpönen: immer noch aktive Neandertaler-Gene.

Der Fötus mit dem Hitlergruß

Ganz klassisch geht es los: Das Dinner bei den Garaut-Larchets wahrt Einheit von Ort und Zeit. Letztere vergeht etwas zäh, bis endlich alle Figuren eingeführt sind. Die Explosion wird hinausgezögert, um die Fallhöhe zu etablieren. Ein argloser Scherz entfacht dann die Lunte am schönen Schein: Der Immobilienmakler Vincent möchte seinen demnächst zur Welt kommenden Sohn Adolf nennen. Behauptet er. Adolf hat in der altdeutschen Bedeutung Adalwolf, edler Wolf, ja auch was naiv Reizvolles. Kurzes Lachen. Pause. Ungläubiges Schweigen. Gesichtszüge gefrieren. Jetzt wird mal nicht aus Spaß oder Langeweile gestritten, sondern weil elementare Überzeugungen auf dem Spiel stehen.

"Das ist kein Vorname, sondern die Verherrlichung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit." So empört sich der Philologe Pierre. Und reckt der Fötus auf dem Ultraschallbild nicht schon den Arm zum Hitlergruß? Ist Vincent komplett debil, rechtsradikal? Nein, sagt er, nicht Adolf, Adolphe, den romantischen Held aus Benjamin Constants Roman wolle er ehren. Aber es ist zu spät. Das Thema wird jetzt von allen Seiten höhnisch ausgereizt. Dabei greift das Stück ziemlich trendy eine Marotte gutbürgerlicher Akademiker an, die für ihre Kinder etwas Neues, Ungewöhnliches, Experimentelles, Modisches in der Rückbesinnung auf alte Namen suchen oder sich an Berühmtheiten oder Künstler anlehnen: Das immerhin würde beides auch auf Hitler irgendwie zutreffen …

Happy-End-Gekuschel

Die "Adolf"-Idee jedenfalls lässt Höflichkeitsfassaden fallen. Intellektuelle Dünkel, Vorurteile, unterdrückte Konflikte feiern fröhliche Urstände, Missverständnisse werden produziert, Be- und Empfindlichkeiten ausgelebt, Persönlichkeitsmacken angeprangert, alte Rechnungen beglichen, Wunden aufgerissen. Ständig wechseln dabei die Fronten, Koalitionen, Täter- und Opferrollen. Schließlich liegen aller Nerven blank, Familiengeheimnisse offen herum, Beziehungen in Trümmern. Die im enttäuschend harmlosen Finale wieder zusammengeklebt werden.

"Das ist doch nicht der Mann, mit dem ich seit zwei Jahren zusammenlebe", bringt Anna eine unumkehrbare Beschädigung ihrer Ehe zum Ausdruck. Damit nun aber doch alles wieder so sein kann wie vorher, bauen die Autoren das überraschende Geständnis einer Liebesgeschichte ein: Alle sind gerührt, befriedet. Happy-End-Gekuschel nach reinigendem Gewitter – statt Happy-End-Sarkasmus, dass nun einfach alle so schäbig verlogen weitermachen wie bisher. Andererseits wiederum passt Friede-Freude-Eierkuchen. Im Vergleich zum ähnlich konstruierten Gott des Gemetzels von Yasmina Reza ist "Der Vorname" deutlich ungiftiger.

Trotz ausgeschlagenen Zahnes und auf dem Boden verkrümelten Lebensmitteln gibt es kein Gemetzel ohne Rücksicht auf Verluste, eher ein Was-ich-immer-schon-mal-sagen-wollte-Scharmützel. Die Figuren werden dezent nachsichtig entschminkt, nicht zur kompletten Lächerlichkeit entblößt. Es ist eben Typenboulevard, keine Charakterkomödie. Aber extrem bühnenwirksam, ein mild gewürzter Abend wie dieser.

 

Der Vorname oder Zu Gast bei guten Freunden
von Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière, übersetzt von Georg Holzer
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Christian Brey, Bühne und Kostüme: Anette Hachmann, Licht: Holger Stellwag, Dramaturgie: Michael Propfe.
Mit: Katja Danowski, Ute Hannig, Markus John, Janning Kahnert, Stephan Schad.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Wer französische Komödie mag, der kann sich derzeit auch an Yasmina Rezas Ihre Version des Spiels am Deutschen Theater Berlin delektieren.

 

Kritikenrundschau

Im Hamburger Abendblatt (6.11.2012) kann sich Armgard Seegers mit "gebildeten Anspielungen, peinlichen Ausrastern, politischen Miesmachereien, schamlosen Vorurteilen oder knalligen Pointen bestens amüsieren". Christian Breys Inszenierung sei "intelligente Unterhaltung auf hohem Niveau", zwar nicht auf allerhöchstem, zwar nicht mit den allerbesten Schauspielern, aber: "Dass miese Freunde, ausgenutzte Frauen, und dämliche Angeber für einen rundum gelungenen, launigen Abend sorgen können, das ist mit 'Der Vorname' am Schauspielhaus wieder einmal bewiesen."

Kommentare  
Der Vorname, Hamburg: Text-Mangel
Von den Schauspielern erfährt man aber nichts hier, was bei dieser Besetzung (Markus John!) ein besonderer Mangel dieses Textes ist.
Der Vorname, Hamburg: alte Reflexe
Ich weiß, es ist ein bisschen eitel, und ich schäme mich auch, aber wäre es nicht möglich, im Info-Kasten auch den Namen des Übersetzers zu nennen? Fällt mir nur auf, weil ich innerhalb weniger Wochen schon zum zweiten Mal verschwiegen worden bin (zuletzt bei "Das Leben ein Traum" in Mannheim). Klar, Übersetzer sind die grauen Mäuse des Theater und nerven oft, weil sie nicht gut sind, aber ohne sie gibt es nunmal keine Auseinandersetzung mit fremdsprachigen Texten auf dem Theater.
Zur Kritik: Schön, dass die alten Reflexe immer wieder funktionieren! Anscheinend denkt seit Gottsched jeder deutsche Kritiker, sobald er im Theater lachen muss: "Verdammt, ich amüsiere mich! Und zwar unterhalb des Niveaus von Peter Sloterdijk! Da muss was faul sein!" Ich finde, der schlecht gelaunte deutsche Theaterrezensent sollte unbedingt auf die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes. Aber, wie schon bemerkt, sehr schade, dass die Schauspieler mit keinem Wort erwähnt sind. Nur wenn sie sehr gut sind, kann diese Art von Dramatik leben. Und in Hamburg waren sie sehr gut.

(Werter Herr Holzer,

das Verschweigen war keine Absicht. Grundsätzlich gilt bei uns, dass Übersetzer immer mit im Besetzungskasten aufgeführt werden. Selbstverständlich habe ich Ihren Namen nachgetragen.

MfG, Georg Kasch / Die Redaktion)
Der Vorname, Hamburg: Linktipps
http://www.welt.de/print/die_welt/hamburg/article110665411/Fuenf-irrwitzige-Freunde.html

http://www.taz.de/Deutsche-Erstauffuehrung-/!105219/

http://godot-hamburg.de/?p=4096
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