Vernetzung stärken

von Thomas Schmidt

Hildesheim, 28. November 2012.

These 1

Das deutsche Theater- und Orchestersystem steht vor der größten Umbruchssituation seit seiner Wiederentstehung in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, weil vor allem das öffentliche Theater an seinen Enden und in der "Peripherie" massiv zu bröckeln beginnt. Die Legitimation der Theater ist gesunken, die Zahl der Zuschauer hat in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen, während die Theater mit immer weniger Ressourcen immer mehr produzieren. Die Theaterstrukturen sind ebenso unflexibel wie ihre Produktionsbedingungen. Hinzu kommt eine chronische finanzielle Unterausstattung, die zu einem Substanzabbau führt. Verstärkt wird dies durch eine – in weiten Teilen des Landes – kulturpolitische Ideenlosigkeit, diesen Problemen zukunftsfähige Konzepte entgegen zu setzen.

These 2

Die Hauptaufgabe des Theater ist und bleibt es, sich und seine künstlerischen Formate weiter zu entwickeln. Die Legitimationskrise, die temporäre Veränderung der Besucherstrukturen und der Wahrnehmung des Theaters, dürfen dieses nicht daran hindern, immer wieder und weiter neue Wege zu suchen, das Theater künstlerisch neu zu erfinden. Gleichzeitig muss das Theater auch in einer heterogenen und sich immer weiter diversifizierenden Gesellschaft dorthin zurückfinden, wo es einmal seinen Ursprung genommen hat: in der Mitte.

These 3

Die Aufgabe des Theaters ist es, das Publikum für sich zu gewinnen. Der Besucher muss wiederentdeckt und begleitet, in seiner Differenziertheit, in seiner Entwicklung, seinem Wissen und seinen Ansprüchen wahrgenommen werden. Niemals zuvor war das Publikum einer Stadt heterogener als heute. Die Theater müssen über die Entwicklung und Kommunikation neuer künstlerischer Formate einen Weg zu den verschiedenen Besuchergruppen und damit zurück in die Gesellschaft finden. Nicht der Weg zurück zum "Theatermuseum" und zu althergebrachten Aufführungspraxen, sondern interdisziplinäre, performative Spielweisen, Neuentwicklungen von Texten, zeitgenössische, experimentelle Inszenierungen, neue Musik, Tanz und Performance haben die Kraft zur Erneuerung.

These 4

Vor allem das Stadttheater und sein Betrieb müssen sich grundlegend reformieren, hinsichtlich interner Produktionsprozesse (Vereinfachung), der Tarifstruktur (Theatereinheitstarifvertrag), der Tendenz zur Überproduktion (Entschleunigung), der Komplexität der Spielplanung (Veränderung des Repertoirebetriebes), der Zusammenarbeit mit freien Gruppen (echte Kooperationen, Öffnung, finanzielle Restrukturierung der Etats) und ihrer Ausrichtung (Zukunftsfähigkeit).

These 5

Das Verhältnis zwischen Theatern und Politik muss neu definiert werden, dazu gehört, dass Politik die entsprechenden Rahmenbedingungen schafft bzw. neu definiert, u.a. für neue, öffentliche und gerechtere Finanzierungsformen (Grundfinanzierung für öffentliche und freie Theater/Gruppen, Zugriff auf zusätzliche Förder- und Exzellenzmittel für alle), aber auch für eine regelmäßige künstlerische Evaluierung durch externe Fachleute. Kultur muss zudem aus dem Status der "freiwilligen", also jederzeit zur Disposition stehenden Aufgaben befreit werden. Die Aufgabe der Kulturpolitik eines Landes und seiner Kommunen ist es, eine ausgewogene, heterogene und entwicklungsfähige Theaterstruktur zu erhalten, die sowohl öffentliche wie freie Theater und Ensembles fördert.

These 6

Die Kluft zwischen öffentlichen und freien Theatern muss grundlegend aufgehoben werden, durch gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen, durch gleichberechtige politische Legitimation und durch eine enge Kommunikation und Zusammenarbeit – dies ist die Grundvoraussetzung für die Zukunft der deutschen Theaterlandschaft. Der damit verbundene Austausch zwischen öffentlichen und freien Theatern, öffentlichen und freien Orchesterensembles muss vorangetrieben werden.

These 7

Die Ausbildung in den Theaterberufen muss sich stärker mit dieser neuen Wirklichkeit auseinandersetzen. Noch immer wird vor dem Hintergrund einer "blühenden" öffentlichen deutschen Theater- und Orchesterlandschaft ausgebildet. Die wenigsten Studenten werden auf die veränderten Anforderungen und daraus entstehenden neuen Berufsprofile oder für die anspruchsvollen Aufgaben in der freien Szene und den freien Ensembles vorbereitet. Neue Berufsfelder an der Schnittstelle zwischen Kunst und Management werden sich entwickeln und müssen in der Ausbildung gefördert werden.

These 8

Wir müssen die Arbeit in realen Netzwerken verstärken, so wie sich Teile der freien Musiktheaterensembles, der Konzerthäuser, der freien Szene und im Tanz zusammengeschlossen haben. Ein Netzwerk, das sich über alle Teilnetzwerke der öffentlichen Theater und der freien Szene spannt, als Diskussions- und Kommunikationsplattform, als Austauschbörse, Denkfabrik und Motor für ein Theater der Zukunft dient, und sich als gemeinsame, politisch unabhängige Interessensgruppe artikuliert.


thomas schmidtThomas Schmidt ist Professor für Theater- und Orchestermanagement und Direktor des gleichnamigen Masterstudiengangs an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Seine Lehrschwerpunkte sind Theatermanagement, Kulturwirtschaftslehre, Kulturpolitik sowie Organisationstheorie und Organisationsmanagement. Er ist außerdem Geschäftsführer des Deutschen Nationaltheaters Weimar und ist in der Spielzeit 2012/13 außerdem Interimsintendant.

 

Mehr zur Vorlesungsreihe: www.uni-hildesheim.de

Alle Hildesheimer Thesen sind im Lexikon zu finden

Siehe auch: die Stadttheaterdebatte auf nachtkritik.de

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Kommentare  
Hildesheimer Thesen VI: Hat Breivik abgesagt
Ist dieser Thomas Schmidt nicht der gleiche Thomas Schmidt, der kürzlich als Leiter des DNT die Breivik- Lecture in Weimar abgesagt hat? Irgendwie passt das nicht zu seinen Thesen....

Sehr geehrter User/in,
"dieser" Thomas Schmidt ist Geschäftsführer des DNT Weimar und für die Spielzeit 12/13 hat er außerdem die interimistische Intendanz inne, wir ergänzen die Biographie.
Die Redaktion
Hildesheimer Thesen VI: Glaubwürdigkeitsproblem
Warum fällt es so schwer jemandem Glauben zu schenken der Mut von der nächsten Generation fordert, aber den eigenen Ast auf dem er sitzt nicht absägt.
Hildesheimer Thesen VI: utopisch
Die Thesen sind alle wohl durchaus sinnvoll, doch erscheinen sie tatsächlich utopisch. Möglich wäre wohl nur die Zusammenlegung der künstlerischen Tarife. Doch wer bestimmt den neuen Tarifvertrag, wenn er für alle Theater gelten soll? Wer legt die Klauseln für die einzelnen Sparten im Tarifvertrag fest? Passiert dies in den Theatern? Dann sprächen wir hier lediglich um einen genormten Lohn. Um einen einheitlichen, fairen Lohn für alle zu gewährleisten, fehlt wie so oft, das Geld. Also bleibt nur das Geben und Nehmen Prinzip und das wird, so könnte ich mir denken, zu a) Personalabbau führen oder zu b) Leben am Existenzminimum.
Auch die Umstellung vom Repertoiretheater auf das Stagionesystem umzuarbeiten, wird, durch die Vielzahl von Theatern schwer umzusetzen. Außerdem wage ich zu bezweifeln, dass, wie Thomas Schmidt behauptete, die Zuschauermenge keine Verluste erfahren würde. Abonnements würden auf jeden Fall unter einem Stagionesystem leiden.
Hildesheimer Thesen VI: gute Absichten
Die Tarife auf eineander abzugleichen, oder zumindest einen gleichen Mindestlohn (der reale wird ja doch immer abweichen) zu gewähleisten finde ich nur fair und richtig. Die unterschiedelichen Abteilungen die einer Produktion zuarbeiten sollten auch gleich behandelt werden. Die Frage ist nur, ob die Theaterherachie die zulassen würde, bzw. ob das realistisch ist. Herr Schmidt hat doch selbst gesagt, wie unterschiedlich jedes Theater schon innerhalb Deutschlands ist, dass kein System dem anderen gleichen würde und dass krampfhaft umgepflanzte Erfolge woanders durchaus nicht funktionieren müssen, oder sogar Schaden anrichten. Gute Absichten, vielleicht wird ja noch daran gepfeilt werden, die Theaterschaffenden würden sich sicher freuen.
Hildesheimer Thesen VI: wie soll das aussehen?
Die Idee eines Mindestlohnes kann ich nur unterstützen. Wie die Löhne im Theater allerdings angeglichen werden sollen, ist mir völlig unklar, wenn die Differenz beispielsweise zwischen Orchestermusiker und Schauspieler doch locker bei 1000€ liegen kann. Alle Löhne auf das Maximum hochzudrehen ist aufgrund der vorhandenen Mittel nicht möglich, während ein Angleichen mit notwenigen Lohnsenkungen wohl von den „Opfern“ boykottiert würde. Wie das also konkret aussehen soll, würde mich sehr interessieren.
Hildesheimer Thesen VI: Platz in Köpfen schaffen
Ich finde, eine gewisse Utopie herrscht auch in Sachen Kommunikation und Kooperation zwischen den öffentlichen und freien Theatern. Denn wer soll hier vermitteln? Oftmals herrschen auf beiden Seiten Vorurteile und Unverständnis in Bezug auf Ausbildung, Qualität, Qualifikationen der Theaterschaffenden. Hierbei gilt es alte Ideale und Denkstrukturen der Theaterschaffenden zu erweitern um in den Köpfen einen Platz für ein „Theater der Zukunft“ zu schaffen.
Obwohl auch ich diese Thesen als sinnvoll erachte, bin ich mir nicht sicher, ob der Verfasser sie selbst einzuhalten vermag (siehe Kommentar Nr. 2).
Hildesheimer Thesen VI: Experte gesucht
@ Rosa Rot : Liebe Rosa Rot,

mir bekannte Vorteile für den (Semi)Stagione-Betrieb ergeben sich durch monetäre Einsparungen, da das Bühnenbild & Kostümbild nicht nach jeder Vorstellung von den Techniker_innen auf- und wiederabgebaut werden muss, sondern zwei Wochen lang bespielt werden kann. Die Arbeitszeit einer zehnköpfige Technikercrew würde dadurch modifiziert werden.

Was ich nicht verstehe sind die von dir angesprochenen Nachteile eines (Semi)Stagione-Betriebs für das Abonnementpublikum. Ich kenne mich nicht sehr gut mit Abonnementnutzerstatistiken aus, aber
gehen Abonnementen wirklich alle zwei Wochen ins Theater?

Vielleicht gibt es hierzu einen Experten in der Follower-Runde?
Hildesheimer Thesen VI: Info zum Abo
@ Simple Simon:

Abopublikum geht im Schnitt einmal im Monat ins Theater
Hildesheimer Thesen VI: authentisch & anregend
Die Aussage Thomas Schmidts, mit eigenen bisherigen Ansichten zu brechen, die Situation zu reflektieren und unter neuen Aspekten zu betrachten, sowie seine Meinung zu ändern, zeigt den guten Willen. Ob er und weitere Vertreter der Forderungen u.a. eines Tarifabgleiches, als auch gerade der, der Einführung des Stagionesystems und diese durchzusetzen, erscheint mir ein
großes Vorhaben. Es heißt nicht, dass ich dies als unmöglich abtue, lediglich wird es viel Kraft, Innovation und Mut in Anspruch nehmen. Trotz des durchaus demotivierenden mitschwingenden Gedanken, die gegen den Berufseinstieg in diese Branche stehen, finde ich, war dieser Vortrag dennoch überzeugend und in einer ganz seltenen Weise wirklich anregend, vielleicht gerade durch das eigene Beispiel Herrn Schmidts auch authentisch genug, den Kampf gegen die Krise aufnehmen zu wollen und vor allem auch als Darsteller zu versuchen, etwas zu bewegen.
Hildesheimer Thesen VI: Zuschauer stagione
Lieber SimpleSimon, der Repertoire-Betrieb hat für das Publikum den deutlichen Vorteil, dass der interessierte Zuschauer die Aufführung nicht ausschließlich in einem kurzen stagione Zeitraum besuchen muss, sondern sich entsprechend der persönlichen Situation über die Spielzeit verteilte Termine auswählen kann. So hat auch derjenige etwas von der Inszenierung, der während der stagione Zeit vielleicht krank im Bett lag oder Urlaub hatte oder keinen Babysitter oder erst zu spät erfahren hat, wie toll die Inszenierung ist oder, oder, oder... Das ist der Hintergrund, warum die Zuschauerzahlen bei dem stagione Prinzip erfahrungsgemäß zurückgehen.
Hildesheimer Thesen VI: ohne Politik läuft nichts
In seiner Funktion als aktueller Interimsintendant und Geschäftsführer des Deutschen Nationaltheaters Weimar stellt mit Thomas Schmidt eine Führungsperson aus dem Stadttheaterbetrieb öffentlich Forderungen nach einem Nachdenken über und Umsetzen von Reformen des deutschen Stadttheaters. In seinen Thesen 3, 4 und 5 führt er entscheidende Problemfelder an: Publikum, Organisationsstrukturen des Stadttheaters und die Förder- und Finanzierungsstrukturen.
Während man innerhalb der Theaterszene, sowohl in der "freien" als auch in der "institutionellen" bereits seit Jahren kontrovers darüber diskutiert [1], wird es an der Zeit, das auch in kommunaler, Landes- und Bundespolitik ernsthaft über Strukturreformen verhandelt wird und zukunftsfähige Konzepte entwickelt werden. Denn selbst wenn Verantwortliche wie Thomas Schmidt Veränderungsbedarf sehen und vorantreiben wollen, so läuft nichts ohne den Einsatz der Politik. Schließlich sind die Intendant_innen den Städten und Kommunen als öffentliche Träger der Theater gegenüber verantwortlich.

Um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, plädiert Herr Schmidt wie bereits schon zuvor in der Vortragsreihe Alexander Pinto und Annemarie Matzke an alle Theatermachenden: Macht Kulturpolitik in eigener Sache!

[1] zum Beispiel in der Düsseldorfer und Wuppertaler Debatte beim NRW Kultursekretariat:
http://nrw-kultur.de/projekte/projekte/theaterdebatte/duesseldorfer-debatte/tagungsprogramm/#0
Hildesheimer Thesen VI: mutige, richtige Schritte
Auch ich finde die Angleichung der Tarife ziemlich gerechtfertigt, sowie auch alle weiteren Punkte der 4. These. Besonders die mehrfach erwähnte Öffnung zu den Freien Theatern bis zur Gleichstellung halte ich für einen richtigen, aber sicher auch mutigen Schritt. Aber das sind sie ja alle, diese Forderungen in der 4. These: mutig. Und so habe ich auch den Vortrag verstanden. Utopie ist mir da merkwürdigerweise gar nicht in den Sinn gekommen. Denn, wie auch in in dem Vortrag schon erwähnt, ist ja gerade das Weiterentwickeln mit, und damit zu, dem Publikum die Hauptaufgabe des Theaters.
Und ohne solche Schritte bliebe ob der aufgezeigten Probleme mit dem Repertoirebetrieb etc. doch die Frage, was auf Dauer noch an kreativer Energie in Theater zu spüren sein wird.
Hildesheimer Thesen VI: Umfeld mitgestalten
Aus meiner Sicht hängt es an jedem einzelnen Theater-Macher, sich der politischen Verantwortung zu stellen die er oder sie hat. Wenn zu viele dabei sind, die sich zwar unwohl fühlen, aber selbst nichts tun, dann wird sich nichts ändern. Wie schon genannt, kommt immer wieder die Aufforderung, dass jeder Beteiligte sich nicht einfach nur in das suboptimale System fügt, sondern das Umfeld mitgestaltet. Dass das nicht umsonst ist, zeigt doch das Beispiel der Orchestermusiker: als sie früher mies behandelt wurden, haben sie das nicht auf sich sitzen lassen, sondern sie haben sich eingesetzt. Und jetzt haben sie mit die sichersten Arbeitsbedingungen und besten Löhne im gesamten Theater. Diese „Erfolgsgeschichte“ ist nicht einmalig, sondern wird in ähnlicher Weise wieder passieren, wenn es 1. Menschen gibt, die die Probleme thematisieren und definieren (dieser Schritt wird gemacht) 2. Menschen, die praktische Umsetzungsmöglichkeiten entwickeln, so wie beispielsweise Herr Schmidt und 3. Menschen, die mutig genug sind, das durchzusetzen. Die großen Dinge scheinen immer utopisch, solange man sie nicht umsetzt. Sie kommen schließlich im Erfahrungsschatz noch nicht vor, was den Denker zu dem Irrschluss verleitet, dass sie nicht vorkommen können. Die Orchestermusiker haben damals sicherlich auch nur Unglauben geerntet, als sie sich gegen ihre Arbeitsbedingungen wehren wollten. Aber vielleicht ist unser Leidensdruck auch einfach noch nicht hoch genug und damit der Wille und daraus wachsender Mut, Neues umzusetzen noch zu klein.
Hildesheimer Thesen VI: im Umbruch
Anregend war dieser Vortrag in jedem Fall. Bei all den Krisen, die das Theater in den letzten Jahren durchlebt hat und immer noch erlebt, ist es doch motivierend, einen Kurs in die Gegenrichtung aufnehmen zu können. Fraglich ist dabei nur, inwieweit das wirklich möglich ist. Immerhin wurde hier schon genügend diskutiert, dass es wie so oft die finanziellen Mittel sind, die den guten Willen untergraben. Ganz abgesehen einmal davon, dass bei so vielen verschiedenen Theatern und Strukturen eine einheitliche Tarifbesprechung schwerfallen dürfte. Der Gedanke dabei erscheint mir aber dennoch sinnvoll und wichtig, immerhin sind die künstlerischen Leistungen von Schauspielern und Orchestermusikern gleichermaßen wichtig, nur um ein Beispiel der gewissermaßen “ungerechten” Verteilung aufzugreifen. Sicherlich ist es wichtig, allgemein am weiten Berufsfeld “Theatermensch” zu arbeiten. Die Erkenntnis, dass sich das Theater im Umbruch befindet, dass neue Berufssparten entstehen werden, während alte dabei vielleicht verloren gehen, ist wichtig und richtig. Bleibt nur zu hoffen, dass diese notwendige Förderung dieser Bereiche tatsächlich stattfinden wird.
Und das liegt leider nicht mehr in den Händen der Theaterleute, die diese angesprochenen Krisen sicherlich am intensivsten zu spüren bekommen und bekommen haben. Immerhin sind die Diskussionen über Kommunikation zwischen freien und institutionierten Theatern genauso wenig neu, wie die fortwährende Debatte über künstlerische Freiheit im Zusammenspiel mit der Notwendigkeit, Zuschauer anzuziehen.
Wichtig ist, dass Kulturpolitik nicht mehr, wie Thomas Schmidt es nannte, “Liebhaberpolitik” sein darf. Die kontroversen Diskussionen müssen nicht mehr nur in und zwischen den Theaterhäusern stattfinden, sondern auf Ebene der Politik. Wenn das passiert, wenn entsprechende Förderprogramme aufgenommen werden, können diese von Thomas Schmidt aufgestellten Thesen sicherlich mehr werden als nur eine gerne herbei geträumte Utopie der “perfekten” Theaterwelt.
Hildesheimer Thesen VI: Pflichtpraktikum für Schauspielstudenten
Auch ich bin der Meinung, dass die Tarife im Theater anders gehandhabt werden müssen. Es kann nicht sein, dass immer noch Bsp. Schauspielerinnen weniger verdienen wie Schauspieler und dies möglicherweise bei einer höhere Qualifikation.
Ich finde die Thesen sehr nachvollziehbar und bestimmt sind hier viele gute Ansätze die verwirklicht werden können. Bsp. These 3, das Theater kann natürlich nicht schlagartig dies verwirklichen. Doch man sollte das Publikum langsam neuere Theaterformen und Tanzformen näher bringen. Bei These 7 muss ich Herr Schmidt vollkommen Recht geben. Die Schauspielschulen suchen noch immer bei ihren Aufnahmeprüfungen nach traditionellen Schauspieltypen und Spieltypen.
Mann muss auch mal wieder etwas wagen. Weg von null acht fünfzehn Typen.
Frauen Männerrollen spielen lassen, Collageartig arbeiten usw.
Man sollte vielleicht überlegen, um der Blauäugigkeit von Bewerbern wiederstandzugeben, ob man wie bei anderen Studiengängen ein Praktikum Pflicht von min.6 Wochen voraussetzt, um sich überhaupt Bewerben zu können.
So können junge Bewerberinnen sehen, ob sie in der heutigen Theaterlandschaft arbeiten möchten und sehen das Theater nicht mehr wie Herr Schmidt es nennt " eine blühende Theaterlandschaft" ist, sowie die Schwierigkeiten des heutigen Künstler Berufes.
Hildesheimer Thesen VI: Publikumsorientierung statt Vorlieben
Wie Herr Schmidt in seinem Vortrag erwähnte, stehen den Intendanten laut Vertrag die Auswahl ästhetischer Mittel, die Wahl von Ensembles und Musikern sowie die inhaltliche Ausgestaltung des Programms frei. Doch vielleicht führt gerade diese umfassende Freiheit nicht zu einer Offenheit, sondern zum genauen Gegenteil? Der Drang so manches Intendanten, eigenen Neigungen und Interessen zu folgen, sicher auch oft die Angst davor, Neuland zu betreten und damit möglicherweise Stammbesucher zu verprellen, führen dazu, dass Bedürfnisse potenzieller Besucher aus dem Blick geraten – der Intendant macht „falsches“ Theater für die Stadt, wie Herr Schmidt es sehr treffend ausdrückte (obwohl die Inszenierungen natürlich zweifelsohne gut umgesetzt sein können).
Es wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung, wenn seitens der Intendanz mehr Entwicklungsbereitschaft gezeigt und sich nicht an die jeweiligen persönlichen „Vorlieben“ geklammert würde. In diesem Kontext erklärt sich auch die Bedeutung der Ausbildung einer neuen Generation von Theatermachern, die für Themen wie Publikumsorientierung frühzeitig sensibilisiert werden und die dazu bereit sind, bestehende Strukturen auch mal zu hinterfragen. Ich glaube, dass nur so umzusetzen ist, was Herr Schmidt fordert, nämlich das Theater wieder zurück in die Mitte der Gesellschaft zu bringen.
Hildesheimer Thesen VI: in Personalunion
Wie in der Biografie skizziert: Thomas Schmidt ist in Personalunion Professor in Frankfurt, kaufmännischer Geschäftsführer und Intendant in Weimar. Er findet darüber hinaus ausreichend Zeit, zu referieren, zu publizieren. An seinem Haus sind in dieser Spielzeit bereits zwei Produktionen "aufgrund von inhaltlichen Differenzen" unmittelbar vor der Premiere abgesagt worden. Seine Mitarbeiter am DNT lässt Thomas Schmidt nach einem Haustarifvertrag bezahlen. Er bezeichnet dieses Vorgehen euphemistisch als "Weimarer Modell". (...)


Liebe Inga,
bitte führen Sie doch noch aus um welche weitere Produktion es sich neben "Breiviks Erklärung" handelt, damit keine unüberprüfbaren Behauptungen im Raum stehen.
Die Redaktion
Hildesheimer Thesen VI: Neues Universalgenie?
@17: Es handelt sich um "Im Abseits" von Sergi Belbel. Diese Produktion fand statt, jedoch ist eine Woche vor der Premiere die Regie durch „die Theaterleitung“ ausgetauscht worden, wie in Ihrer Kritik nachzulesen war. Sie informieren ferner, dass die Produktion mit einem anderen Regisseur und einem anderen Team "von Grund auf neu realisiert worden sei"

Thomas Schmidt schreibt in seinen Thesen von der "Entwicklung und Kommunikation neuer künstlerischer Formate" von dem Beschreiten eines Weges "weg vom Theatermuseum". Sein Verhalten neuen Formen des Schreibens gegenüber, deren Umsetzung, nicht zuletzt der Spielplan seines Hauses, zeigt ein Entwicklungspotential zwischen Anspruch und Umsetzung auf

Ganz offensichtlich wird in Weimar - möglicherweise aus einer regionalen Tradition heraus - an der Schaffung eines neuen Universalgenies gearbeitet. Der Kaufmann ist jetzt nicht mehr nur Intendant und Hochschullehrer, er bezeichnet sich auch als Autor und Kritiker. Dass es einen Unterschied zwischen Kunst und Kultur gibt, muss in dabei genauso wenig interessieren, wie die Möglichkeit zur Bewertung einer künstlerischen Arbeit über betriebswirtschaftliche Kennzahlen hinaus


Liebe Inga,
vielleicht helfen Sie uns nochmal weiter: Wo bezeichnet sich "der Kaufmann" als Kritiker? Dass ein Geschäftsführer nach dem Weggang des bisherigen Intendanten für ein Jahr die Interimsintendanz übernimmt ist meines Wissens nach übrigens nicht allzu unüblich.
Matthias Weigel für die Redaktion
Hildesheimer Thesen VI: was heißt hier Mitte?
Was versteht Thomas Schmidt unter folgendem Satz? "Gleichzeitig muss das Theater auch in einer heterogenen und sich immer weiter diversifizierenden Gesellschaft dorthin zurückfinden, wo es einmal seinen Ursprung genommen hat: in der Mitte." Meint er die antike Polis? Oder meint er die politische bzw. schwarz-gelbe Mitte, welche sich längst von der sozialen Marktwirtschaft verabschiedet hat und einem ungesunden Marktradikalismus frönt?
Hildesheimer Thesen VI: Link
@18, näheres unter anderem hier, unbenommen, ambitioniert:

http://wordpress.p134055.webspaceconfig.de/?page_id=125


Hildesheimer Thesen VI: wenig offenes Stadttheater
Genau, wie These 4 beschreibt, halte auch ich das Stadttheater und seinen Betrieb gegenwärtig für überholt und reformbedürftig. These 4 beschreibt die Bereiche, wo man ansetzen müsse, um das Stadttheater wieder in die Mitte der Gesellschaft zu rücken. Insbesondere halte ich die Kooperation mit Gruppen des freien Theaters und Gestaltung von enthierarchisierten Personalstrukturen für sehr bedeutend. Die Frage, die sich mir im Hinblick auf die Umgestaltung von Personalstrukturen und Kooperationen mit freien Theatergruppen stellt, ist, ob das Stadttheater bereit für einen derartigen Paradigmenwechel ist. Wie die Bewerbung des Intendantenensembles von Hildesheim zeigt, scheint das Stadttheater, meiner Meinung nach, obwohl es strukturell und essenziell an einem Wendepunkt steht, nicht offen für subversive, aber notwendige Veränderungen zu sein.
Hildesheimer Thesen: warum nicht in die Gewerkschaft?
Der Aspekt der unterschiedlich aufgebauten Tarifverträge ist ein sehr interessanter aber viel zu selten angesprochener und öffentlich gemachter Fall. Weshalb gibt es für dieses Problem keine öffentlichen Stimmen und Aktionen; keine Demonstrationen seitens der Schauspieler, in deren Interesse es vor allem liegen sollte?
Mich wundert auch, weshalb sich der Großteil der Schauspieler nicht der Gewerkschaft anschließt, durch die eine Besserung der misslichen finanziellen Vergütung eventuell möglich wäre?
Denn Unmut über die schlechte Bezahlung gibt es sicherlich genug!
Hildesheimer Thesen VI: enormer Druck
Ich empfand den Vortrag von Herrn Thomas Schmidt als sehr interessant und seine Thesen weitestgehend auch sinnvoll.
Auf einen Aspekt möchte ich hier eingehen, da mir ein Satz besonders im Gedächtnis geblieben ist: „Wir produzieren Theater knapp am Infarkt." Es ist Fakt, dass „die Theater mit immer weniger Ressourcen immer mehr produzieren" und, dass einfach immer mehr in kürzester Zeit auf die Bühnen gebracht werden soll. Es lastet ein enormer Druck auf allen Mitarbeitern jeglicher Bereiche. Eine Produktion jagt die Nächste und muss mit einem knappen Budget auf die Bühne gebracht werden. Das dann auch meist schon während die vorherige noch nicht mal Premiere hatte. Nicht nur die Schauspieler haben nicht ausreichend Ruhezeiten, auch die Mitarbeiter der zahlreichen anderen Bereiche haben oft Überstunden, viele Abteilungen sind einfach unterbesetzt und werden nicht des Arbeitsaufwandes entsprechend bezahlt. Die sind Aspekte, die bekannt sind, und die meiner Meinung nach dringend verbessert werden müssen. Ich frage mich auch, ob bei so einem Druck nicht eventuell auch die kreative Seite vernachlässigt wird.

Die Überlegung den Repertoire-Betrieb in einen Stagione-Betrieb umzuwandeln finde ich interessant, aber bezweifle, dass dies vom Publikum gut angenommen werden würde.

Deutlich ist sicherlich, dass die von Herrn Schmidt vorgeschlagenen Veränderungen jeglicher Art in der Umsetzung sehr schwierig erscheinen und wenn sie irgendwie umsetzbar sein sollten, sicherlich viel Zeit bräuchten. Es mangelt wie sooft an Zeit und Geld.
Hildesheimer Thesen VI: Stücke im Treppenhaus
Der Aspekt: "Wir produzieren knapp am Infarkt." hat auch bei mir besondere Aufmerksamkeit erregt. So wird jedes Jahr mit immer weniger Geld immer mehr produziert. Wo es geht wird noch ein Stück hier eingeschoben und noch schnell ein Stück da im Treppenhaus gemacht. SchauspielerInnen werden von den Intendanten geradezu verheizt. Man spielt so lange bis es nicht mehr geht und viele SchauspielerInnen trauen sich nicht den Schritt dazu zu machen als freie SchauspielerInn zu arbeiten und spielen sich schlussendlich um ihre Gesundheit. Genauso geht es bei vielen AssistentenInnen darum nur durchzuhalten, bis diese Zeit vorbei ist. Es wird einem keine kreative Kompetenz zugetraut, solang man nicht lange genug assistiert egal. Egal was man für Abschlüsse hat oder man vorher schon geleistet hat. Ist man körperlich nicht stark genug dafür jede Nacht die nächste Probe vorzubereiten und quasi für 4 Jahre auf sein Privatleben zu verzichten, wird es einem sehr schwer fallen in der Theaterbranche Fuß zu fassen.

Ich halte die Umstellung von einem Repertoire-Betrieb auf einen Stagione-Betrieb für eine sehr sinnvolle Sache. Nur leider, wie Herr Schmidt schon sagte, fehlt es dabei an Intendanten die den Mut dazu haben bei der Umstellung dieses Systems auch mit Verlust klarzukommen und dies vor ihren Geldgebern zu rechtfertigen.
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