Zwischen Lektion und Labor

von Geesche Wartemann

These 1

Alle Formen der Vermittlung am Theater unterstreichen die konstitutive Bedeutung des Zuschauers als co-creator (Susan Kattwinkel) des Theaters. Aktualität gewinnt die Vermittlung immer dann, wenn die Beteiligung des Zuschauers – aus sehr unterschiedlichen Gründen – problematisch wird.

Der Begriff der Vermittlung ist unscharf und umfasst in einem weiten Sinn dramaturgische Strategien der Inszenierung, den gesamten Bereich der Publikumsakquise sowie Aktivitäten der theaterpädagogischen Abteilungen. Insgesamt zielt Vermittlung immer auf die Teilhabe der Zuschauer bzw. nicht professioneller Akteure am Theater. Sie ist also rezeptions- oder produktionsorientiert. Die theaterpädagogische Tätigkeit am Theater umfasst beide Bereiche. Eine rezeptionsorientierte Theaterpädagogik zielt darauf das Publikum zu qualifizieren, sodass es kenntnisreich und selbstbewusst an der Aufführung teilhaben kann.

Auch im aktuellen theaterwissenschaftlichen Diskurs wird die Aufführung im Theater als "Zwischengeschehen" (Jens Roselt), als ein performatives und dynamisches Geschehen zwischen Darstellern und Publikum beschrieben. Die Aufgabe aktueller Vermittlung besteht also darin, den Zuschauer für den so genannten Ereignischarakter der Aufführung, seine Wahrnehmungen und seinen Beitrag zum Theater zu sensibilisieren.

 

These 2

Theater für junge ZuschauerInnen sind die Vorreiter in der Entwicklung und Reflexion von Modellen der Vermittlung, von denen alle Theater profitieren können.

Als Theater, das sein spezifisches Profil über seine Zuschauer gewinnt, verfügen die Kinder- und Jugendtheater über eine vergleichsweise lange Tradition der Vermittlung. Pädagogische Abteilungen waren fester Bestandteil aller russischen Kinder- und Jugendtheater, die Modell waren für die großen ostdeutschen Kinder- und Jugendtheaterhäuser. In Westdeutschland entwickelte das GRIPS Theater in den 70er Jahren erste Hefte und Unterrichtsvorschläge zur Nachbereitung von Aufführungen. Auch war der Zusammenhang von Theaterrezeption und eigenem Theaterspiel an den Kinder- und Jugendtheatern immer im Blick. Heute zeichnen sich die Theater für junge ZuschauerInnen dadurch aus, dass sie ihr Publikum schon im Produktionsprozess einbeziehen und ihm immer mit Neugier begegnen. Diese Offenheit dem Publikum gegenüber, die Bereitschaft, es mit seinen Fähigkeiten, Erwartungen und Bedürfnissen ernst zu nehmen, macht die Begegnung und auch die theaterpädagogischen Aktivitäten dialogisch.

Die Idee vom Theater als Kommunikation geht in den Kinder- und Jugendtheatern über die einzelne Aufführung hinaus. Selbstverständlich sind Recherchen mit Kindern und Jugendlichen im Probenprozess vieler Theater und insbesondere des GRIPS. Formate wie der "Theorietester" am "Theater der jungen Generation" Dresden oder die "Winterakademie" am Berliner "Theater an der Parkaue" zeigen ein weites Theaterverständnis, das im Austausch mit Kindern und Jugendlichen immer wieder überprüft wird. Auch Entwicklungen im Theater für die Allerkleinsten, also Theater für Kinder bis zu drei Jahren, beim "Helios Theater" Hamm und einigen anderen haben gezeigt, dass die Begegnung von KünstlerInnen und Publikum nicht primär direktiv im Sinne eines audience developments zu verstehen ist, sondern die Beobachtungen der Zuschauer umgekehrt künstlerisch anregend sein können.

Weil die Begegnung mit Kindern und Jugendlichen im Theater für junge Zuschauer nicht als notwendiges Übel, sondern als genuiner Teil der Theaterkunst verstanden wird, haben die TheaterpädagogInnen hier vorbildliche Arbeitsbedingungen. Auch die Auflösung scharfer Grenzen zu anderen Arbeitsbereichen wie der Dramaturgie oder umgekehrt die Etablierung eigener Sparten wie der Theaterakademie am "Theater der jungen Generation" in Dresden sind Ausdruck für die zentrale Position der Vermittlung in diesen Häusern.

 

These 3

Theaterpädagogische Formate bewegen sich zwischen Lektionen in kunsterzieherischer Tradition und einer offenen Erkundung dessen, was man als Theater bezeichnet.

Ein großer Teil der theaterpädagogischen Formate setzt ein normatives, meist traditionelles Theaterverständnis voraus. Der "Kleine Theaterknigge" (Theater an der Parkaue), aber auch Gespräche mit Schulklassen werden so zur Lektion, in der eine Vermittlerin als Expertin das Theater und seine Konventionen erklärt. Auch die "Theaterakademie" für Kinder in der Tradition der Kinderuniversität (RuhrTriennale 2005) sowie (Bilder-)Bücher, die das Theater den meist jungen ZuschauerInnen vorstellen, gehören in dieses Modell. Als Übung kann man ein weiteres Modell bezeichnen, dem in gleicher Weise ein normativer Theaterbegriff zugrunde liegt, der die Teilnehmer aber praktisch, das heißt szenisch und körperlich involviert. Das Labor ist schließlich ein drittes Modell der Vermittlung, in dem das Verhältnis zwischen Vermittlern und Teilnehmenden grundsätzlich anders bestimmt wird: Hier untersuchen Vermittler, Künstler und Kinder gemeinsam ihre Ideen vom Theater. Es fehlt eine Reflexion und Diskussion darüber, wie sehr Ziele und Formen der Vermittlung an einen jeweiligen Theaterbegriff gebunden sind.

 

These 4

Formen und Ziele in der Vermittlung von Theater sind gebunden an den jeweiligen Theaterbegriff. Eine Vermittlung von Theater setzt deshalb die Fähigkeit zur Reflexion theoretischer Implikationen und historischer Bedingungen von Theaterkonzepten voraus.

In der Ausbildung von TheaterpädagogInnen soll praktisches und theoretisches Wissen über Theater und nicht einfach ein "Methodenkoffer" vermittelt werden. Nur so kann Vermittlung sich immer wieder neu ins Verhältnis setzen zur Theaterkunst, kann sie Voraussetzungen, Praxen und Ziele der Vermittlung überdenken und weiter entwickeln.

 

These 5

Vermittlung am Theater soll auch in Zukunft auf möglichst vielfältige Weise möglichst vielen den Zugang zu den hier praktizierten Theaterkünsten eröffnen. Umgekehrt kann das Theater seine Zeitgenossenschaft gerade im Austausch mit jungen und allen anderen mit Theater nicht vertrauten Menschen behaupten. Für entsprechende Projekte braucht es mehr personelle und finanzielle Kapazitäten.

Nach der Konsolidierung des Berufsfelds Theaterpädagogik an Theatern wird die Vermittlung auch in Zukunft auf die Sicherung der tradierten Institution verpflichtet werden, indem sie auf möglichst vielfältige Weise möglichst vielen den Zugang zu den hier praktizierten Theaterkünsten eröffnet. Wünschenswert wäre darüber hinaus, dass TheaterpädagogInnen in ihrer Arbeit mit jungen, aber auch allen anderen, mit Theater nicht vertrauten Menschen mehr Kapazitäten bekommen, die Theaterkunst zu befragen und Theater als Medium und als Ort öffentlicher Auseinandersetzung für viele erfahrbar zu machen.


Geesche Wartemann ist Professorin für Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters an der Universität Hildesheim. Zuvor war sie Theaterpädagogin und Dramaturgin am Staatstheater Braunschweig, Juniorprofessorin für Theorie und Praxis des Kindertheaters in Hildesheim und anschließend Professorin für Theater und Theaterpädagogik an der Universität in Agder, Kristiansand (Norwegen). 2005 initiierte Geesche Wartemann das International Theatre for Young Audiences Research Network (ITYARN), das inzwischen zum Forschungsnetzwerk von ASSITEJ International wurde.

 

Mehr zur Vorlesungsreihe: www.uni-hildesheim.de

Alle Hildesheimer Thesen sind im Lexikon zu finden.

Siehe auch: die Stadttheaterdebatte auf nachtkritik.de

 

 

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