Von innen gewachsen

von Regine Müller

Köln, 11. Januar 2013. Der Kreis schließt sich: Vieles erinnert in Karin Beiers Inszenierung von Jean-Paul Sartres Adaption der "Troerinnen" von Euripides an ihre grandiose Regie von Grillparzers Das goldene Vlies, mit der sie vor fünf Jahren ihre furiose erste Spielzeit als Intendantin und maßgebliche Regisseurin am Kölner Schauspielhaus souverän krönte.

Wieder eine neuzeitliche Adaption eines antiken Stoffes – damals Grillparzers Medea-Version, heute Sartres Euripides-Modernisierung – wieder ein karges Spielkarree, gerahmt von kahlen Metall-Traversen und gefüllt mit dunklem Sand, wieder übergroße kalkweiße Masken und Ansätze von Choreografie und wieder eine äußerste Reduktion und zugleich Konzentration der Theater-Mittel. Diesmal aber ist es ihre letzte Regiearbeit als Intendantin in Köln und sicher nicht zufällig greift Beier mit den "Troerinnen" in ihrer Ästhetik auf eine ihre stärksten Arbeiten dieser glorreichen fünf Jahre zurück.

Verschleppung der Frauen

Noch grausamer als der "Medea"-Stoff ist das, was in den "Troerinnen" verhandelt wird, denn Euripides' großes Klagelied erzählt von der Zeit nach den großen Heldentaten und dem Morden, von der Zeit nach der Vernichtung der Stadt Troja durch die siegreichen Griechen und von der bevorstehenden Verschleppung der Frauen als Sklavinnen. Die trojanischen Frauen, die das Gemetzel überlebt haben, müssen ohnmächtig die zügellose und gänzlich willkürliche Rache der Sieger über sich ergehen lassen. Sartre bezog sich in seiner Aktualisierung auf den Algerienkrieg. Die Anprangerung des Krieges und seiner immer gleichen Folgen jedoch ist zeitlos und die Ironisierung der Götter vielleicht aktueller denn je.

Troer2 560 KlausLefebvre uDie Troerinnen © Klaus Lefebvre

Männer spielen an diesem Abend nur eine marginale Rolle: Zu Beginn ein kurzer Auftritt des Poseidon (Robert Dölle), dann der bewusst beiläufig erscheinende, aus dem Rhythmus der Aufführung heraus fallende Talthybios (Nikolaus Benda) und schließlich York Dippes heutiger Menelaos, dessen nervöse Hastigkeit während seines kurzen Auftritts die Fallhöhe der Trojanerinnen noch erhöht.

Auflehnung, stoischem Ertragen, Verharmlosung

Es ist wieder – wie bei Beiers König Lear -  ein Abend der großen Frauen. Karin Beier führt sie mit der von ihr gewohnten körperlichen Intensität und Hochgespanntheit. Nichts scheint dem Zufall überlassen, der ganze Abend ist – unterfüttert von Jörg Gollaschs suggestiver Tonspur, die drei Musikerinnen manchmal fast unmerklich beisteuern – streng rhythmisiert und von höchster psychologischer Intelligenz. Wenn man Beiers Arbeit überhaupt etwas vorwerfen kann, dann wäre das vielleicht die Perfektion, mit der ihr Theaterräderwerk mittlerweile arbeitet und die schon fast unheimlich ist. Wie beispielsweise die makellose Verzahnung der Sprechchorszene auf der Bühne mit den hinter der Zuschauertribüne positionierten Frauenchören, die sich mit donnernder Intensität entluden.

troerinnen6 280 klaus lefebre u© Klaus Lefebvre

Anja Laïs, Rosmary Hardy und Sachiko Hara bilden ein eigentlich chorisch gedachtes Trio der Trojanerinnen, die aber unterschiedlicher nicht sein könnten in ihren Reaktionen zwischen Auflehnung, stoischem Ertragen und Verharmlosung der Situation. Großartig vor allem Anja Laïs' verstörende Soli zwischen Goethe-Rezitation und der indirekten Beschwörung einer bestialischen Vergewaltigungsszene. Julia Wieninger ist eine bohrend intensive, bis zur Starrheit widerständige Hekuba, die einst den Paris, und damit den Anstifter der trojanischen Kriegs gebahr und nun erleben muss, wie man ihr vorwirft, sich damals dem Willen der Götter widersetzt zu haben, die ihr geboten hatten, ihren Sohn zu töten. Rosalba Torres Guerrero ist eine Kassandra mit tänzerischer Ausdruckskraft und Angelika Richter zeigt die angeblich den Krieg auslösende Helena als nicht ganz unschuldiges Opfer mit erkaltetem, längst verglühtem Zorn.

Gefeierter Abschied

Lina Beckmann als Witwe des Hector und junge Mutter, deren Kind sinnlos geopfert wird aber gehören die stärksten Momente des Abends: Wie sie sich gegen den drohenden Tod ihres Kindes auflehnt, darum wissend, dass jeder Widerstand sinnlos ist, wie sie unglaublich nuanciert, ohne das Sentimentale auch nur zu streifen alle Stufen der Verzweiflung durchleidet und in hilfloser Trauer schließlich nur noch mit den Schultern zuckt, ist schlichtweg grandios. Am Schluss bricht sie mehrfach bewusstlos zusammen und Hekuba klagt: "Gebt mir meine Kinder wieder!"

Ein starker Abend. Vielleicht nicht Beiers intensivste Arbeit in Köln, aber die Kölner feierten die scheidende Intendantin mit demonstrativer Begeisterung.  

 

 

Die Troerinnen
von Euripides / Jean-Paul Sartre
Deutsch von Hans Mayer, Spielfassung von Karin Beier und Ursula Rühle
Regie: Karin Beier, Bühne: Thomas Dreissigacker, Kostüme: Maria Roers, Musik: Jörg Gollasch, Dramaturgie: Ursula Rühle, Licht: Jürgen Kapitein.
Mit: Julia Wieninger, Rosalba Torres Guerrero, Lina Beckmann, Angelika Richter, Anja Laïs, Rosmary Hardy, Sachiko Hara, Robert Dölle, Nikolaus Benda, Yorck Dippe.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

Diese "Troerinnen" zählen "nicht zu Karin Beiers besten Inszenierungen", sagt Ulrike Gondorf in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (11.1.2012). Mit einer "fast distanzlosen Direktheit" präsentiere Beier das Geschehen und ihr gelängen "suggestive Bilder, vor allem mit der Wirkung von Licht und Schatten". Doch gibt es Abstriche beim Schauspiel: Nicht immer gelinge es Beier, "die Intensität durch Verdichtung zu steigern. Dann wird der Abend laut und äußerlich. Einen starken Auftritt hat auch Angelika Richter als schneidend intellektuelle Helena. Aber nicht alle Darstellerinnen meistern ihre Monologszenen mit derselben Überzeugungskraft, manchmal wirkt die emotionale Extremsituation auch manieriert und hysterisch."

Die "kurze, stimmige Inszenierung" von Karin Beier schlage "mit Sartre und einem 2000 Jahre alten Stück Bewusstseinsbrücken ins 21. Jahrhundert", berichtet Karin Fischer in der Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (12.1.2013). Beier und ihre Dramaturgin Ursula Rühle "haben die schlanke Übersetzung der 'Troerinnen' von Jean-Paul Sartre noch einmal verdichtet, kurze Texte von Cioran, Nietzsche oder Pasolini eingearbeitet und daraus ein dunkles, starkes Oratorium der Opfer gemacht. Das aber nicht so sehr von Ohnmacht kündet als eher von Erschöpfung oder Wut." Die Ära Beier resümiert Fischer in den höchsten Tönen: Mit Beier "verliert Köln nicht nur eine kluge Intendantin mit geradlinigem Urteil, sondern auch das konsequenteste, menschlichste, politischste und aufklärerischste Bild der Frau, das das Theater in den letzten Jahren gezeichnet hat".

Den "fulminanten Abschluss einer Ära" hat Jessica Düster vom Kölner Stadt-Anzeiger (14.1.2013) erlebt. Beier fokussiere auf die "Rolle der weiblichen Leidtragenden kriegerischer Auseinandersetzungen" und inszeniere sie "in martialischen Choreografien in einem weiten, von schwarzer Lavaerde dominierten Bühnenraum". Sie nutze "Elemente der Dionysien und traditioneller asiatischer Theaterformen" sowie Szenen die "an Stammesriten der Maori" erinnern", um die "physische Kraft dieser Amazonen" zu betonen. "Mit diesen starken, wenn auch besiegten Frauen setzt Karin Beier ein kräftiges Ausrufezeichen hinter ihre Zeit in Köln. Sie fordert die Zuschauer wie in allen ihren Regiearbeiten, konfrontiert sie mit komplexen Zusammenhängen und schwerem Stoff und lädt diesen symbolisch wie thematisch maximal auf. Diese Fülle in weniger als zwei Stunden dennoch verständlich, zugänglich und einleuchtend zu vermitteln, ist ein Kunststück."

Stefan Keim berichtet in der Welt (14.1.2013) von einer "Aufführung, die zweifellos hohes Niveau hat, aber auch viel Bekanntes bietet". Stärke und Schwächen hat er in diesem Intendanzabschlussabend, mit dem "eine goldene Zeit für das Schauspiel" zu Ende gehe, ausgemacht. "Große Stärken hat die Aufführung in den gedankenklaren Klagemonologen der Hekuba (Julia Wieninger) und vor allem in den Szenen mit Hektors Gattin Andromache". Deren Fall spiele Lina Beckmann: "Psychologisch, voller Zwischentöne, überwältigend." Abzüge gibt es dagegen für "deftiges Satyrspiel" rund um Menelaos und Helena: Der Heerführer der Griechen "befragt das Publikum wie in einer blöden Fernsehshow, ob er Helena gleich oder lieber in Griechenland abmurksen soll. Während die Schöne sich den Rock hochpusten lässt und 'Happy Birthday, Mr. President' singt. Ein Abrutsch ins Ausgelutschte, wie er Karin Beier in den letzten Jahren kaum noch passiert ist."

"Man kann die Regie-Einfälle an diesem Abend förmlich vom Bühnenhimmel purzeln sehen und hat nicht das Gefühl, dass auch nur ein einziger verworfen wurde", so Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (15.1.2012). Auch würden Ironie und Pathos der Schauspieler nicht zusammenpassen. "Was das Pathos dieser Inszenierung so schwer erträglich erscheinen lässt, ist das offensichtlich Gemachte daran." Wenn man im Theater – so wie Beier – alles wolle, "siegt in der Regel das Varieté. Der 'totale Nihilismus', in dem Jean-Paul Sartre das Stück enden sieht, wird hier ersetzt durch eine totale Beliebigkeit der Theatermittel." Für Krumholz kein großer Abend, auch wenn die Begeisterung in Köln mal wieder keine Grenzen kenne.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.1.2013) schwärmt Andreas Rossmann von Beier, die "einen erstaunlich weiten und konsequenten Weg gegangen [ist], auf dem sie eine offene, risikobereite und vielseitige Theatersprache entwickelt und ein fabelhaftes Frauen-Ensemble geformt hat". Ihre Inszenierung sei eine "Symphonie des Leids und der Schmerzen", sie öffne das Stück "für heutige Realitäten, assoziiert aktuelle Gewaltverhältnisse des Menschenhandels und der Prostitution, aber der Versuch, die archaische Strenge patchworkartig in die Trivialität der Mediengesellschaft zu überführen, verrutscht dann doch ins Äußerliche." Trotzdem: "In ihrer Abschiedsinszenierung zeigt die Regisseurin auch, was sie inzwischen alles kann."

Kommentare  
Troerinnen, Köln: Abwegige Vergleiche
Eine solch überwältigende Aufführung, die manche, männliche und weibliche Besucher zu Tränen rührte, ist einzigartig. Bei welch anderer, der früheren Inszenierungen der Karin Baier war das wahrzunehmen? Schon insofern sind Vergleiche abwegig. Sowohl der anfänglich emotionslose Befehlston und die hilflose Geste des Boten als auch das groteske Intermezzo zwischen Menelaos und Helena erhöhten nur das Grauen.
Kommentar schreiben