Hildesheimer Thesen XII - Für einen Dialog zwischen Opernhäusern und freier Musiktheaterszene
Spielräume schaffen!
von Matthias Rebstock
Hildesheim, 23. Januar 2013. Es gibt eine lebendige Musiktheaterszene jenseits der Opernhäuser, doch sie tritt nicht als zusammenhängende in Erscheinung, ist vielmehr zersplittert in Einzelszenen.
Gegenüber diesen Szenen verhalten sich die Opernhäuser geradezu hermetisch verschlossen. Es gibt eine Reihe von Ausnahmen (zuletzt Einrichtung der "Tischlerei" an der Deutschen Oper Berlin im November 2012), aber es ist nicht erkennbar, dass sich hieraus ein nachhaltiger Trend ablesen lässt. Den neu eingerichteten Spielstätten stehen ebenso viele Abwicklungen gegenüber (z.B. "Forum Neues Musiktheater", Stuttgart, Reihe "Visible Music", Mannheim etc.) Nach wie vor werden viele der bemerkenswerten Entwicklungen im Musiktheater nicht an Opernhäusern, sondern an Sprechtheaterbühnen gezeigt (z.B. Ruedi Häusermann, David Marton).
Für einen weiten Begriff von "MusikTheater"
Der Terminus "Musiktheater" wird auf zwei sich widersprechende Weisen verwendet:
• quasi als Ersatz für den Terminus "Oper". In dieser Bedeutung hat er programmatischen Charakter und steht für eine Oper, die als Theater ernst genommen werden will.
• als Sammelbegriff für verschiedenste Aufführungsformen, die in besonderem Maße durch die Inszenierung von oder mit Musik bestimmt sind.
Um das Musiktheater in diesem weiten Sinn zu bezeichnen, verwende ich die Schreibweise "MusikTheater". Es lässt sich in drei große Bereiche einteilen: den Bereich der Oper, des Komponierten Theaters und der szenischen Konzerte.
Zum Bereich der Oper gehören einerseits Aufführungen, die sich auf besondere Weise mit Repertoireopern oder selten gespielten (Kammer)Opern beschäftigen, und andererseits der der Neuen Musik nahe stehende Bereich der "Neuen Oper" bzw. des "Neuen Musiktheaters". Das Komponierte Theater ist wiederum ein Sammelbegriff für Musiktheaterformen, die sich durch die Verwendung kompositorischer Verfahren und Strategien auszeichnen. Dieses Feld liegt zwischen den klassischen Gebieten des Theaters, der Oper und des Tanzes. Beim szenischen Konzert bildet das Konzert als Aufführungsform den Ansatzpunkt: Es geht darum, die traditionelle Konzertform aufzubrechen und durch verschiedene Formen der Inszenierung andere Hörweisen zu ermöglichen.
Historische Gründe für die Zersplitterung der MusikTheaterlandschaft
1. Ein Großteil der Musiktheaterformen, die sich in den 60er Jahren gebildet haben (Musikalische Aktionen und Happenings von John Cage, Fluxus, Experimentelles Musiktheater, Instrumentales Theater), sind aus musikalischen und kompositorischen Fragen entstanden (Theatralisierung der Musik). Die Oper spielte für diese noch nicht einmal als Gegenmodell eine Rolle und kam als lebendige Kunstform gar nicht in Betracht. Die gegenseitige Ablehnung hat also Tradition, ist jedoch inzwischen als überholt anzusehen.
2. Die Theateravantgarden des 20. Jahrhunderts hatten ein besonderes Interesse für die Abstraktheit der Musik und die Genauigkeit ihrer Organisation mittels Partituren. In dem Maße, in dem die Vorrangstellung des Textes im Theater kritisiert wurde, rückten musikalische Gestaltungsprinzipien in den Vordergrund. Das gilt auch für das Postdramatische Theater, für das Hans-Thies Lehmann eine besondere Musikalität bzw. eine Musikalisierung des Theaters als Signum angibt. Von daher ist leicht zu sehen, dass ein Teil der MusikTheaterlandschaft starke Berührungspunkte mit der Freien Theaterszene hat bzw. sogar in dieser aufgeht.
3. Das MusikTheater hatte an der Herausbildung des Freien Theaters in Deutschland kaum Anteil. Freie Opernproduktionen bzw. freie MusikTheaterensembles finden sich in Deutschland erst seit Ende der 80er Jahre. Gegenüber dem Freien Theater fehlen der Freien MusikTheaterszene die historischen Wurzeln, die ursprünglich politischen, gesellschaftlichen und soziokulturellen Triebkräfte und die Breite der Verankerung (publikumsmäßig, kulturpolitisch und institutionell).
Es gibt gleichzeitig zu viele und zu wenige Spielorte für MusikTheater
Das Freie MusikTheater wird an den Spielstätten des Freien Theaters gespielt, es gehört aber nirgends zu den profilbildenden Faktoren der Häuser bzw. Festivals. Einzige Ausnahme in Berlin ist die Neuköllner Oper, die aber nur klein besetzte Projekte umsetzen kann. Vor diesem Hintergrund ist die Einrichtung von Studiobühnen als wichtiger und überfälliger Schritt zu begrüßen.
Zehn Forderungen für das MusikTheater
1. Die Opernhäuser müssen sich dem MusikTheater in seiner ganzen Breite an Formen öffnen. Hierfür ist die Einrichtung kleinerer Spielstätten, auf denen nicht der Auslastungsdruck der großen Bühnen lastet, Voraussetzung.
2. Die internen Strukturen der Opernhäuser müssen so verändert werden, dass die gemeinsame Projektarbeit mit Beteiligten aus den Häusern und Teams von außen und Produktionsweisen aus der Freien (Musik)Theaterszene überhaupt möglich wird (Flexibilisierung der Tarifverträge, Zulagenregelungen, Dienstplangestaltung etc.).
3. Keine Alibiveranstaltungen: Die Studiobühnen müssen zu einem festen Bestandteil der Hausprofile werden und müssen entsprechend auch in den regulären Budgets verankert sein. Ausschließlich über Sponsoren- oder andere Zusatzmittel finanzierte Einrichtungen können nicht die nötige Kontinuität garantieren.
4. Im Bereich des KindermusikTheaters sind in den letzten Jahren bereits Erfahrungen mit spartenübergreifender Projektarbeit und alternativen Produktionsprozessen gesammelt worden, an die angeknüpft werden kann.
5. Das Freie MusikTheater muss als zusammenhängendes Feld sichtbarer werden. Hierfür wäre eine eigene "Leistungsschau" von zentraler Bedeutung (ähnlich dem "Impulse" Festival für das Freie Theater).
6. Die Spielstätten, die es im Freien MusikTheater gibt, müssen sich stärker zu Netzwerken und Koproduktionspartnern zusammenschließen.
7. Es muss ein eigener Diskurs um das MusikTheater entstehen.
8. Die Ausbildung an den Musikhochschulen muss auf die veränderten Aufgabenfelder und Kompetenzanforderungen im freien MusikTheater, aber auch in den festen Orchestern reagieren.
9. Auch auf Seiten der Macher der freien Spielstätten braucht es eine verstärkte Kompetenz auf dem Feld des MusikTheaters. Zu viele Projektideen werden nicht weiterverfolgt oder unterstützt, weil sich niemand für die musikalische Seite zuständig fühlt.
10. Die Qualität muss stimmen: Letztlich ist die Qualität der Stücke der entscheidende Faktor, um eine stärkere öffentliche Aufmerksamkeit für das Freie MusikTheater zu erreichen.
Matthias Rebstock ist Professor für szenische Musik an der Universität Hildesheim. Er beschäftigt sich mit Formen des musikalisierten Theaters, Musiktheaters und der Oper sowie der Geschichte und Ästhetik der Neuen Musik. Zuletzt erschienen ist 2012 "Composed Theatre. Aesthetics, Processes, Practices" (zusammen mit David Roesner). Schwerpunkt seiner Arbeit als Regisseur im Bereich des Neuen Musiktheaters bilden Stückentwicklungen im Grenzbereich zwischen Musik und Theater und Uraufführungen im Spektrum von szenischen Konzerten bis neuen Opern.
Mehr zur Vorlesungsreihe: www.uni-hildesheim.de
Alle Hildesheimer Thesen sind im Lexikon zu finden.
Siehe auch: die Stadttheaterdebatte auf nachtkritik.de
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Durch die deutlichere Formulierung "Musiktheater" scheint sich diese Sparte schon etwas freigeschwommen und ihre Absichten wenigstens im Namen deutlich gemacht zu haben. Aber durch diese klare Beschreibung des Tätigkeitsbereiches und die Abgrenzung zum Sprechtheater wird doch vorausgesetzt, dass sich das Musiktheater mit seinen Inhalten auseinander gesetzt hat. Dem ist scheinbar nicht so, wenn sich die verschiedenen Ausprägungen von Musiktheater untereinander konkurrierend voneinander abgrenzen. Ist aber nicht die Diskussion über das Musiktheater als solches mit seinen verschiedenen Schwerpunkten die Grundlage für das Bestehen der Gattung?
Vielen Dank für die Fokussierung allein auf das Musiktheater - es scheint neben dem Sprechtheater in der Diskussion oft unterzugehen.
Das ist äußerst bedauerlich.
Schade finde ich es auch, dass sich die Opernhäuser anscheinend so konsequent nicht für das Musiktheater als solches interessieren und es nicht mit in ihre Spielpläne aufnehmen, wo doch so viel Potenzial in ihm stecken kann.
Und es sollten sich wohl auch ein paar Spielstätten des freien Theaters endlich trauen und das Musiktheater als eine ihrer Hauptprogramme zu führen.
Eine Frage allerdings bleibt mir noch, nach diesem Vortrag in Bezug auf die von Ihnen aufgelisteten Forderungen, an das Musiktheater in Deutschland. Sie erwähnen ja z.B. Dinge wie die Öffnung der Häuser für die Freien der Theaterszene, eine Veränderung der Struktur in den Häusern wäre anzustreben, freie Aktuere bräuchten eine bessere Vernetzung, etc.
Also meine Frage:
Sind das nicht eher weniger Probleme zwischen Opernhäusern und des Musiktheaters als vielmehr Probleme zwischen der freien Szene und dem instiutionalisiertem Theater?
Gerade hier stellt sich mir die Frage, warum es in dem Großteil der Spielstätten noch zu keiner Verschmelzung dieser beiden Bereiche gekommen ist? Beide Bereiche sind nach meinem Erachten profilbildend und besitzen das Potenzial sich gegenseitig zu Bereichern. Ein gutes Beispiel für eine solche Art von Verschmelzung sind, wie ich glaube, einige Jugendtheaterproduktionen.
(Lieber Simon, die Redaktion hat gestern mit Thomas Oberender telefoniert. Herr Oberender erklärte in diesem Gespräch, dass es ihm - ganz unabhängig von nachtkritik.de - unbehaglich sei, seine Texte von anonymen Kommentatoren diskutiert zu sehen, und dass er daher keine Thesen zur Verfügung stelle. Die Redaktion respektiert diese Entscheidung.
Wolfgang Behrens für die Redaktion)
Vielleicht bedarf es aber auch neuen Häusern mit eigenen strukturellen Bedingungen, die insbesondere bemüht sind verschiedene Kunstformen zusammen zu bringen - wie es beispielsweise beim Radialsystem in Berlin geschieht.
Vielleicht sind eine Art "Zukunftshäuser" als Expermentierlabore für neue künstlerische Formen notwendig, um Strukturen und Bedingungen auszuloten und damit eine Brücke zu den bisherigen institutionellen Häusern zu schaffen, dessen Veränderung eine langwierige Prozedur ist.
Gerade in den Opernhäusern ist ein Umdenken sicherlich notwendig - einerseits aufgrund der massiven finanziellen Subventionen aber auch gegenüber der traditionsbehafteten Vorstellungen. Zeitgenössischere Inszenierungen werden meist nicht von den klassischen Besuchern besucht oder mit Empörung vorzeittig verlassen. Besucher, die ein Interesse für zeitgenössische, abstrakte und neue Formen von Musik und Theater haben, suchen diese sicherlich nicht im Opernhaus, obwohl es schon wenige Formate geben würde, bei denen man dies zusehen bekäme.
Das junge Musiktheater oder in vielen Fällen auch als Kinderoper oder Junge Oper bezeichnet, gibt es tatsächlich viele Produktionen, die anspruchsvoll zwischen Musik, Konzert und Theater changieren. Hier traut man sich neue Formen auszuprobieren und vertraut vielleicht auch auf die künstlerische Offenheit von Kindern und Jugendlichen, die weniger von Vorstellungen "über" Oper und Theater etc. beeinflusst sind. Ja, es bedarf einer Offenheit in den Häusern selbst, aber es setzt auch das Einlassen auf neue Formate bei den Besuchern voraus.
Kann diese Spartentrennung noch bestehen, ist das produktiv oder immer wieder ein Hindernis, sowohl für Kunstproduktionen als auch für die Besucher? Oder sollten im Gedanken einer Utopie Theater zu "Häusern der Künste" umgebaut werden?
Eine gezielte Ausbildung ist selbstverständlich nötig, um eine solide Basis aufzubauen, welche sich nicht nur mit der Umsetzung der Stücke sondern auch mit der Vermittlung der Situation und den Veränderungen beschäftigen sollte.
Alles in allem finde ich die Thesen sehr schlüssig und nachvollziehbar, doch ich denke, dass es sich um einen langwierigen Prozess handelt, der viele innovative Ideen und Engagement benötigt, damit u.a auch kleinere, dennoch vielversprechende Projekte dauerhaft bestehen und sich etablieren können.
MusikTheater heißt auch den anerzogenen Schweinehund überwinden und die heilige pure Musik dem erbarmungslosen Aufführungsmoment preis zu geben und in diesem einzuordnen. Ohne zweifel schade, wenn der Zugriff auf Kultur, die Menschen mit musikalischer Ausbildung auszeichnet, in den Kammerorchestern verborgen bleibt. Mehr Musiker mit Sinn und Interesse für die Form der Aufführung würde mehr Aufmerksamkeit und Qualität für das MusikTheater bedeuten.
Auf einen mutigen Umgang mit Aufführungsformaten hinzuarbeiten beginnt natürlich an den Unis und Hochschulen, an denen ein neuer Musik Begriff im Besonderen eine neue Vorstellung der Musikaufführung angeregt werden kann. Weiter geht es mit der Entwicklung neuer Organisationsstrukturen in der freien Kulturszene wie sie Annemarie Matzke in dieser Vorlesungsreihe schon angebracht hat.
Die wesentliche Kulurpolitische Forderung ist jedoch zunächst diese: weniger Geld und Infrastruktur für elitäre, ermüdende, standardisierte Operninszenierungen, mehr davon für eine innovative freie Szene. So werden auch mehr Festivals und andere Knotenpunkte ermöglicht, die so ein Sparten übergreifendes Programm erstellen können.
Wie schon bereits gesagt, ist es wichtig die Qualität durch finanzielle Unterstüzung zu gewähleisten und in dieser Kunstform das große Potential zu erkennen.
Ein vor allem wirtschaftlich, unterhaltendes Genre, ist so im reinen Theater schwer zu finden. Auch wenn man sich selbstverständlich um deren innovativen, hochkulturellen Gehalt streiten kann, zeigt die ganze Debatte ums Theater, dass sich gegenseitig ignorieren noch nie jemandem etwas gebracht hat.
Musical läuft, in großen Formaten, gut besucht. Vielleicht ist es für die Oper an der Zeit, zu verstehen, dass die eine große Masse niemals kommen wird, außer man spielt jedes Jahr alle populären Klassiker rauf und runter und bewegt sich in eingefahreren Bahnen.
Für mich ist hier der Diskurs wieder nur eine Spiegelung der Diskussiom ums Theater und freies Theater. Die Inhalte sind unterschiedlich, woran gearbeitet werden muss, sind die Strukturen.
Punkt 7 ist meiner Meinung nach sehr wichtig. Ich glaube, dass den weinigsten interssierten Theaergängern (mir eingeschlossen) die Bandbreite der MusikTheater-Formen und Ausprägungen bekannt sind.
Auch der Ansatz bei der Ausbildung ist sehr logisch und richtig. Gibt es überhaupt die Möglichkeit in Deutschland, Musiktheater, das über klassische Formen hinaus geht, zu studieren?