Erinnern, durchspielen, wiederholen

von Martin Krumbholz

Essen, 1. Februar 2013. "Ein Priester, ein Rabbiner und eine Prostituierte kommen in eine Bar. Sagt der Barkeeper: 'Soll das ein Witz sein?'" – Niemand im Publikum lacht – leider. Der Witz ist nämlich gar nicht schlecht. Das Schöne daran ist, dass er auf eine ähnliche Art und Weise mit der Metaebene spielt, wie Noah Haidle dies in seinem Stück "Skin Deep Song" tut. Es werden an diesem Abend auch sehr viel lausigere Witze erzählt. Es hat damit folgende Bewandtnis: Die Witze gehören Stacey, dem Vater der Mädchen Woden und Mimi. Und Stacey ist, ebenso wie die Mutter der Mädchen, tot. Massakriert in einem namenlosen Krieg, von einem wahnsinnigen Killer. Einfach so. Die Mädchen sind schwer traumatisierte Überlebende in einem ausweglosen Endzeit-Szenario. Sie führen die Leichen ihrer Eltern quasi im Handgepäck mit sich. Irgendwann werden sie sie beerdigen. Vorerst aber spielen sie in verzweifelten Ritualen immer wieder Szenen durch, die sich mit den Eltern verbinden. Das klassische Sujet dafür ist: Mimi hat ein Date. Und eben: Vater erzählt einen Witz.

skin-deep-song 560a thilobeu uTraumatisierte Schwestern: Floriane Kleinpaß, Silvia Weiskopf © Thilo Beu

Nicht so sehr an Samuel Beckett, den der 1978 geborene amerikanische Dramatiker Noah Haidle sehr bewundert, mit dem er gerne einmal Billard gespielt hätte, von dem er aber (unbedingt zutreffend) sagt, dass man von ihm nichts lernen, ihn allenfalls nachahmen könne – weniger an Beckett also erinnert "Skin Deep Song" als an Jean Genet und die "Zofen". Zwei Mädchen spielen sich nach genau festgelegten Regeln ihr eigenes Schicksal vor. Erinnern, durchspielen, wiederholen – es ist nicht zuletzt das Motto der Psychoanalyse, das diese Szenen inspiriert. Jede Regelverletzung löst Schmerzen aus. Es gibt da noch Hal, den Freund in spe eines der Mädchen. Er ist ein lausiger Spieler. Die Witze versteht er nicht, und dass dem hoffnungsvollen Paar im Restaurant statt der versprochenen Ente eine blutige tote Taube samt Federn serviert wird, bleibt ihm ebenfalls ein Rätsel. Aber er gibt sich immerhin Mühe.

skin-deep-song 280h thilobeu uRückblende: Die Haare sitzen. © Thilo BeuNoah Haidle erzählt also nicht bloß eine ziemlich traurige Geschichte – er liefert auch gleich einen Therapievorschlag: Theater spielen! Hier schließt sich ein Kreis, und das ist ein smarter Einfall. Nur dass der sogenannte "Attentäter", der die Eltern kaltblütig mit einer Riesenknarre erschießt, so völlig aus dem Nichts kommt (einziger dramaturgischer Einwand), das wirkt ein bisschen willkürlich. Dagegen erweist es sich als eine gute Idee, das Stück nicht im altehrwürdigen Grillotheater, sondern im Saal der ehemaligen Tanzschule Wachtmeister in der Maxstraße aufzuführen: Musik und Tanz spielen nämlich auch für die Handlung eine wesentliche Rolle. Eine zentrale Szene zeigt, wie Vater Stacey seinen Geburtstag feiert (vermutlich den vierzigsten), Platten auflegen lässt und seinen Leuten demonstriert, was für ein toller Hecht er ist, wo der Bartel den Most holt und wo überdies die Glocken hängen: ein bizarrer "König" in seinem kleinen Reich. Der abgedankte König dagegen  – es ist sein Schwiegervater – ist dement, trägt Windeln und mutiert urplötzlich zum Killer.

Thomas Krupa, der das Stück auch ins Deutsche übersetzt hat, lässt es ohne Eingriffe oder Veränderungen sehr seriös from page to stage bringen. Die Bühne von Andreas Jander nutzt das Ambiente, das der Raum bereits anbietet: einen Tresen, hinter dem der Großvater Platten auflegt; großflächige Spiegel, in denen die Garderobe und das Make-up überprüft werden. Der Rest ist leere (Spiel-)Fläche. In den aktuellen Szenen tragen die Mädchen Glatzen, in den Rückblenden lange blonde Haare, um die beiden Spiel-Ebenen voneinander zu trennen. Da der Autor textimmanent eine Lizenz zum phantasievollen Agieren erteilt, hätte man sich ganz gut auch einen etwas freieren, gelösteren Umgang mit dem Text vorstellen können. Die sechs Schauspieler jedenfalls machen ihre Sache sehr ordentlich.

 

Skin Deep Song (UA)
von Noah Haidle
Deutsch von Thomas Krupa
Regie: Thomas Krupa, Bühne: Andreas Jander, Kostüme: Sabina Moncys, Musik: Mark Polscher, Dramaturgie: Carola Hannusch.
Mit: Floriane Kleinpaß, Silvia Weiskopf, Jörg Malchow, Tom Gerber, Bettina Schmidt, Heiner Stadelmann.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspiel-essen.de

 

Mehr zu Noah Haidle? 2012 wurde am Staatstheater Nürnberg sein Stück Saturn kehrt zurück aufgeführt.

 

Kritikenrundschau

Noah Haidle verstehe "sich auf schnelle, spannende Dialoge", und mit "Skin Deep Song" sei er "im deutschen Theater angekommen", meint Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen (4.2.2013). Indem Haidle "seine beiden Hauptfiguren zwischen Kriegskatastrophe und Familientragödie bewegt (…) setzt er sie extremen Belastungen aus: Eine Konstellation, die forciert und konstruiert wirkt, zumal der Zusammenhang nur angedeutet, nicht erklärt wird. Doch aus der doppelten Bedrängnis wächst nach und nach etwas Rettendes: Spiel. Woden und Mimi spielen Theater, um zu verstehen, was geschehen ist, um zu verarbeiten, was sie nicht begreifen können, um ihrem Leben wieder Sinn zu geben." Die Inszenierung von Thomas Krupa spiele das Stück "sauber vom Blatt. Das Spiel im Spiel erhält den Charme einer kindlichen Unbekümmertheit und wird nicht bedeutungsvoll ausgestellt." Und die Schauspieler "laufen zu Form auf".

Noah Haidle habe ein "traurigkomisches Stück" geschrieben, "das Well-Made-Play-Tradition und Existenzialismus-Fragen vereint", schreibt Martina Schürmann auf dem Internet-Portal Der Westen (4.2.2013). "Krieg ist immer und Terror und Traurigkeit. Für diese Zustände existenzieller Not braucht es bei Haidle keine konkrete Benennung." der schäbigschöne Saal, Dem Regisseur Thomas Krupa, dem Ausstatter Andreas Jander und dem "famosen Ensemble"  gelinge es, den "schäbigschönen Saal" der alten Tanzschule "mit Licht, Phantasie und purer Spielfreude" zu füllen.

Haidles "Endzeit-Szenario" sei in Essen "berührend, bedrückend mit einem überzeugend agierende Ensemble inszeniert" worden, meint Britta Helmbold in den Ruhrnachrichten (4.2.2013). Floriane Kleinpaß und Silvia Weiskopf gäben "nicht nur vortrefflich verstörte Verlassene ab, sondern auch hübsche, giggelnde Teenies in schicken Kleidern".

"Krupa setzt aufs Grelle, auf den dicken Pinselstrich und das laute Auftrumpfen, auf die schnelle Sitcom eher als die leise Leere, " beschreibt Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (13.2.2013) seinen Eindruck bvon dieser Uraufführung. Bereits das Stück (das zwischen "Vorstadt und Kriegsfront" spiele) braucht aus seiner Sicht niemend: es sei weder richtig gut noch richtig schlecht. "Und das ist das Problem." Lauter Versatzstücke sieht der Kritiker darin eklektizistisch durchanderpurzeln. Regisseur Thomas Krupa nun tilge auch noch leise Beckett-Anspielungen, womit der dem Stück, so Boenisch, keinen Gefallen tut.

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