Das missbrauchte Theater

von Ralph Gambihler

Dresden, 15. Februar 2013. Es gibt eine erzählerische Ausgangssituation in diesem neuesten Pollesch-Palaver, die in Variation wie ein Loop durch die den Abend geistert. Sie geht so: Ein Theaterregisseur ist sauer. Er hat spitz gekriegt, dass die Darsteller und die "Praktikanten" aus dem Regiestab während der Probenpausen Filme drehen und dazu die Theaterkulissen nutzen, also frech zweitverwerten. Natürlich kränkt ihn, was da hinter seinem Rücken abläuft, menschlich und künstlerisch. Der Regisseur revanchiert sich, indem er während der Proben die Darsteller grob herumkommandiert. Mehr noch: Er degradiert sie zu bloßen Puppen, indem er ihnen jede Bewegung einer Gliedmaße vorschreibt.

Die Second-Hand-Filmerei der Praktikanten

Die ganze Sache ist an einen Querverweis zu Woody Allen gekoppelt. Anfangs wird nämlich erzählt, dass diese cineastischen Pausenaktivitäten erstmals einem gewissen Broadway Danny Rose widerfahren seien (einem Loser aus Woody Allens gleichnamiger Komödie, der im Film aber Künstleragent ist, nicht Regisseur). Außerdem – das ist die Pointe – sei die Second-Hand-Filmerei verantwortlich für die Entstehung aller großen Spielfilme, denn von Lubitsch bis Schlöndorff seien doch alle solche "Praktikanten" gewesen. Wir haben es also mit nichts weniger als der Geburt des Films aus dem Missbrauch des Theaters zu tun.

kapital-der-puppen 280 matthias-horn uKulissen-Zweitverwertung. © Matthias HornDas ist das Narrativ, auf das der Abend im Kleinen Haus am Staatsschauspiel Dresden immer wieder zurückkommt. Drumherum wirft René Pollesch nach bekannter Art seine Phrasendreschmaschine an. Fünf Spieler zelebrieren einen intellektuell durchwirkten Text, der viel von darstellender Kunst handelt, von den emotionalen und existenziellen Nöten des Kunstschaffenden, von der paradoxen Dialektik des Spiels – und natürlich von Materialismus, Geld, Liebe usw. Man kennt das: den Pollesch-Diskurs-Quirl, den Turbodialog, die Verhedderung in der Metaebene, das gedanklichen Enteilen, die Flucht vor dem Verstehen.

Kostprobe: "Man muss immer alles ausklammern, um leben zu können. Man muss immer alles ausklammern und verwerfen, um Sinn zu produzieren. Damit sind die Sachen eben nicht sinnvoll, die wir leben, sondern die, an denen wir andere so behandeln, als seien sie nur auf der Welt, um uns zu verstehen."

Postdramatische Rundumversorgung

Auf der Bühne von Janina Audick herrscht ein geordnetes Durcheinander von verschiebbaren Kulissenteilen. Der Raum wirkt zerteilt. Die Sicht ist tendenziell versperrt. Und was da so herum steht, sieht aus, als habe Ikea auf die Schnelle einen Kulissenfundus recycelt. Das Disputieren der fünf Spieler wird in dieser Theater-im-Theater-Umgebung laufend gefilmt und großformatig auf ein vorderes Kulissenteil projiziert, so dass man das Bühnengeschehen in perspektivischer Verschiebung und teils in Nahaufnahmen permanent noch einmal sieht. Aus dem Off ertönen bisweilen große Filmmusiken, und zwar so laut, dass die Anlage fast "autsch" sagt.

kapital-der-puppen-ii 560 matthias-horn uSecond-Hand-Film-Diva: Antje Trautmann raucht in die Kamera. © Matthias Horn

Kurzum: Man wird postdramatisch rundumversorgt und intellektuell durchgewalkt (das Programmheft nennt als Begleit- und Hintergrundlektüre Robert Pfallers "Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie"). Mit Slapsticks und Witzen geht Pollesch diesmal aber auffallend sparsam um. Das mindert einerseits den Spaßfaktor und hat den unschönen Nebeneffekt, dass alles ein bisschen zu aufgeblasen, zu maschenhaft und zu selbstreflexiv wirkt. Die höhere Wirrnis, auf die sich Pollesch so gut versteht, dieses prickelnde Dampfgeplauder über die Widersprüche unserer Zeit, hat in "KapiTal der Puppen" den Beigeschmack des Faden und Abgestandenen. Man würde diesen 70 eher unrasanten Pollesch-Minuten mehr Dringlichkeit wünschen. Die fehlt aber oder verschwindet im Abstrakten.

Rätseln kann man ansonsten, weshalb sich das Stück im Titel auf den Hollywood-Film "Tal der Puppen" aus dem Jahr 1967 bezieht. Außer der besagten Degradierungsszene, bei der den Darstellern vom Regisseur alle Individualität genommen wird, bleibt der Bezug zu Mark Robsons seichtem Filmdiven-Duell (es geht um Tablettenmissbrauch in der Schlangengrube Hollywood) im Vagen. Typisch vielleicht für diesen verwischt wirkenden Abend.

 

KapiTal der Puppen (UA)
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne und Kostüm: Janina Audick, Video: Ute Schall, Dramaturgie: Julia Weinreich.
Mit: Cathleen Baumann, Antje Trautmann, Thomas Eisen, Sascha Göpel, Benjamin Pauquet.
Spieldauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause.

www. staatsschauspiel-dresden.de

 

Ein eingespieltes Team: Janina Audick ist eine von René Polleschs Leib-und-Magen-Bühnenbildnerinnen. Zuletzt arbeiteten die beiden für Wir sind schon gut genug! (3/2012, Frankfurt am Main), Sozialistische Schauspieler ... (10/2010, Frankfurt am Main) und Peking Opel (5/2010, Wien) zusammen.

Kritikenrundschau

Gefühlte alle drei Wochen inszeniere René Pollesch ein als neu angekündigtes Stück auf deutschsprachigen Theaterbrettern. Da könne nicht alles neu und originell sein, und es könne auch nicht immer sorgfältig inszeniert sein, sagt Hartmut Krug im Deutschlandfunk (16.2.2013). "So wie bei dem wenig mehr als einstündigen Dresdner Abend. Er kommt thematisch und sprachlich redundant und inszenatorisch flüchtig und spannungslos daher." Der Abend unterfordere den Zuschauer und überrolle ihn zugleich mit großer, leerer Geste. Das engagierte Ensemble sei sichtlich vor allem damit beschäftigt, die kompliziert verdrehten Texte zu reproduzieren. "Für Darstellerglanz und Darstellungswitz hatte ihnen der Autor Pollesch diesmal zu wenig Material geboten, und zu Tempo, Spielideen und Bühnenwirkung war dem Regisseur Pollesch auch nichts eingefallen."

"Dieser nicht vorgefertigte, sondern im Rahmen der Stückentwicklung entstandene Text kommt als ein einziges Misstrauensvotum gegen Alles im Allgemeinen und das gefühlsechte Theater im Besonderen herüber", konstatiert Michael Bartsch in den Dresdner Neuesten Nachrichten (18.2.2013). Vieles scheine auf den ersten Blick dialektisch gedacht, bleibe aber beim Nachlesen einfach nur widersprüchlich. "Das ist auch nicht entscheidend – Hauptsache, es wird apodiktisch verkündet." Nach einer Stunde sei es genug, und man habe zumindest die Absage an ein Theater verstanden, das so nicht gebraucht wird. "Vorsichtshalber hat uns vorab das Programmheft auch gleich die Absage an Sinn vermittelt." In der Darstellung des Schauspielerquintetts sei das Bemühen erkennbar gewesen, die szenische Lesung "auswendig sicher und einigermaßen lebendig" herüberzubringen.

"Spieler und Zuschauer haben es bei Pollesch nicht leicht", findet Sebastian Thiele in der Sächsischen Zeitung (18.2.2013): "bildarm, kopflastig und im intellektuellen Trockenraum hoch aufgehängt" sei der Abend. Der Funke springe nicht über. Mehr Improvisation, mehr Humor und weniger Sprechkrampf hätte sich der Rezensent gewünscht, findet aber gut, dass Pollesch überhaupt endlich in Dresden zu erleben ist. Und das Publikum? "Ist verwirrt."

"Trotz einiger witziger Momente" gelinge Pollesch in Dresden nur eine Light-Version seiner Lieblingsthemen, schreibt Marius Nobach in der Süddeutschen Zeitung (19.2.2013). Es fehlt an einem echten Reibungspunkt: "der Abend dreht sich nur um sich selbst, und dass die Darsteller für Pollesch-Verhältnisse eher entschleunigt agieren, macht das harmlose Ganze auch nicht spannender". Wirklich Spaß mache dieser Spielplatzbesuch nicht.

Kommentare  
KapiTal, Dresden: Puppen oder Tränen
... rätseln kann man auch, ob sich der Titel des Stücks mit seiner Groß- und Kleinschreibung im Wort KapiTal auf die Show "KapiTal der Tränen" aus dem Jahr 2012 bezieht. Die war übrigens fantastisch:

http://www.sophiensaele.com/produktionen.php?IDstueck=1031

(... und sicher ihrerseits von Polleschs Vorgehensweise inspiriert gewesen, also ein gerechter Deal)
KapiTal der Puppen, Leipzig: Sinn oder Nichtsinn
Wie wärs damit:
Man muss nicht immer alles ausklammern, um leben zu können. Man muss nicht immer alles ausklammern und nicht verwerfen, um Nichtsinn zu produzieren.
Damit sind die Sachen eben sinnvoll, die wir nicht leben, sondern die, an denen wir andere nicht so behandeln, als seien sie nur auf der Welt, um uns nicht zu verstehen.
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