In der Gummizelle der Konventionen

von Steffen Becker

München, 23. Februar 2013. Eine Zeit lang waren Comic-Karten in Mode, die den Satzanfang  "Liebe ist ..." mit banalen Halbsätzen beantworteten: "... gemeinsam Geschirr zu spülen". So simpel ist es natürlich nicht. Denn Liebe ist vor allem Quell mannigfachen Leids. So zumindest erscheint sie in der Inszenierung von "Kabale und Liebe" am Münchner Residenztheater.

Regisseurin Amélie Niermeyer zeigt Schillers Stück als düstere Fahrt in den Abgrund – und Liebe als Sekret, das den Griff nach Halt abrutschen lässt. Dabei scheint die Antwort zu Beginn ganz anders und so klar: Liebe ist WIR. Wir ganz allein. Gegen den gesellschaftlichen Graben zwischen der bürgerlichen Luise Miller und dem adeligen Majors Ferdinand von Walter, gegen den Willen beider Väter, setzt das Paar die Absolutheit seiner Gefühle.

Ein Alp auf schmalem Grat

Wie naiv das ist, zeigt schon das genial simple Bühnenbild von Stéphane Laimé. Ferdinand und Luise versichern sich ihre Heiratsabsichten vor einem riesigen weißen Kubus mit Schaumstoffhaut. Er drängt sie auf einem schmalen Grat vor dem Bühnenrand zusammen und fegt sie fast hinweg, wenn er sich dreht. Aus kaum sichtbaren Türen stürzen unvermittelt die Väter von Luise und Ferdinand und die weiteren Figuren, die diese unmögliche Verbindung durch gutes Zureden, Drohung und Erpressung beenden wollen. Wie ein riesiger Alp drückt diese Gummizelle der Konventionen aufs Gemüt.

kabale 06 560 matthias horn xAndrea Wenzl und Michael Klammer © Matthias Horn

Und zeigt Wirkung. Als sich vor Ferdinand die Verantwortung seines Standes auftürmt – der mächtige Vater hat ihn der Geliebten seines Fürsten zum Mann versprochen – springen seine Blicke, als seien seine Liebesschwüre mehr an Zeugen gerichtet als an Luise. Tritt er seinem Vater entgegen, wirken Sätze wie "Mein Glück liegt in meinem Herzen", so kraftvoll wie ein "Liebe ist ..."-Cartoon – eine in der Wirkung nachlassende Selbsthypnose. Michael Klammer spielt diesen Ferdinand als unsicheren Jungen, der seine Hin- und Hergerissenheit in fahrigen Bewegungen ausdrückt, in einem Auflachen im Anschluss an das Pathos des Schillerschen Textes. Er reißt und zerrt an seinem bunten Jackett im Look reicher Söhne, als behalte er dieses Symbol zur Schau getragener Unabhängigkeit nur mangels Alternativen am Leibe. Liebe ist ... Ferdinand ist sich da nicht so sicher.

Raum für Luise

Regisseurin Niermeyer setzt ihm mit Andrea Wenzl eine Luise nah am Borderline-Syndrom entgegen. Kein 16-jähriges Mädel wie bei Schiller, vielmehr eine durch und durch leidenschaftliche Frau, die absolute Liebe will – jedoch, ohne an sie glauben zu können. Für Niermeyer ist dies das zentrale Thema, weswegen sie das Stück zu Beginn und am Schluss verändert hat, um Luise mehr Raum zu schaffen. Liebe ist für Luise vor allem Hingabe. An ihr Herz, an den Mann, dem sie es geschenkt hat. Auch dann noch, als ihr klar ist, dass sie mit dieser Liebe auf verlorenem Posten steht.

Andrea Wenzl Matthias Horn Andrea Wenzl, Michael Klammer und Götz Schulte  © Matthias Horn Aber das Schema "starke Frau, von den Umständen zu Fall gebracht" ist Regisseurin Niermeyer zu einfach. Luise ist zwar die einzige Figur, die den Kubus in Bewegung setzt, aber eben nur in eine Richtung: in die Katastrophe. Liebe ist, wenn ich gut genug für ihn bin – und genau das stellt sie in Frage. Liebe ist Selbstzweifel, Idealisierung von Partnerschaft, die der Realität nicht standhält.

Niermeyer legt damit den zeitlosen Kern von Schillers Stück frei - den das Programmheft mit dem Richard-Sennett-Zitat von der "Tyrannei der Intimität" auf den Punkt bringt. Mit Andrea Wenzl hat sie damit das perfekte Instrument gefunden. Deren Luise ist Gefühl pur – Lebensfreude, körperliche Lust, Angst und zum Schluss tiefe Traurigkeit. Das Wechselbad, in das Niermeyer sie taucht, wirft sie zu keinem Zeitpunkt aus der Bahn, nie wirkt ihr expressives Spiel zu dick aufgetragen. Der stärkste Moment des Abends ist denn auch ein zärtlicher: Luise kündigt ihrem Vater (stark: Götz Schulte) den Selbstmord an, nimmt seinen Schmerz an und kann doch ruhigen Mutes nicht anders. Liebe ist sein Leben zu geben.

Unausgewogenheiten

Die Fokussierung auf diese Luise produziert jedoch auch Schieflagen. Die Rolle des Ferdinand ist bei Niermeyer durch Kürzungen so schwächlich angelegt, dass er wie ein Hampelmann wirkt. So schnell und unausgespielt wie er Luise fallen lässt, will sich deren unbedingte Leidenschaft für ihn nicht erschließen.

Ähnlicher Widerspruch zeigt sich auch in der Inszenierung der Nebenfiguren. Hanna Scheibe überzeugt als Ferdinand zugedachte Frau Lady Milford mit zupackender Zielstrebigkeit – Liebe ist Überzeugung. Guntram Brattia gibt als Präsident und Ferdinands Vater den gepflegten Brutalo – Liebe ist Macht. Den Sekretär des Präsidenten und den zur Intrige benutzten Hofmarschall legt Niermeyer dagegen als Karikaturen für ein paar Späße zwischendurch an. Diese Teilung der Darstellerriege wirkt, als würde sie dem Publikum die ganze Wucht des Pathos und der großen Gefühle nicht zumuten wollen. Damit nimmt sie der Inszenierung einen Teil ihrer – trotzdem beträchtlichen – dunklen Kraft.

 

Kabale und Liebe
Regie: Amélie Niermeyer, Bühne: Stéphane Laimé, Musik: Cornelius Borgolte, Licht: Gerrit Jurda, Kostüme: Kirsten Dephoff, Video: Meike Ebert, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Guntram Brattia, Michael Klammer, Miguel Abrantes Ostrowski, Hanna Scheibe, Shenja Lacher, Götz Schulte, Andrea Wenzl.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Die drei letzten Inszenierungen von Kabale und Liebe, die hier besprochen wurden, kamen aus Mülheim, Regie: Jo Fabian, aus Oldenburg, inszeniert von Jasper Brandis und aus Braunschweig, wo Daniela Löffner Regie geführt hatte. 


Kritikenrundschau

Man könne Schillers Stück auch "einfach so erzählen, wie es geschrieben ist", und genau das habe Amélie Niermeyer am Residenztheater gewagt, schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (25.2.2013). Ihre "kühle Inszenierung" zeige "durchweg mehrdimensionale Figuren"; Andrea Wenzl "stellt Luise unter die schwarze Wolke Depression" und spiele "mit berückender Traurigkeit"; Michael Klammer sei als Ferdinand "der einzige, der Schillers Worte mit der Selbstverständlichkeit des Alltags spricht. Alle anderen leuchten in einem hohen Ton, ohne diesen auszustellen."

Niermeyer erzähle von der "Selbstzerstörungskraft absoluter Liebes-Ansprüche", sagt Gabriella Lorenz in der Abendzeitung (25.2.2013). Michael Klammer und Andrea Wenzl als Ferdinand und Luise seien "ein Paar, das Schillers Liebespathos heute so spricht und spielt, dass man es ihnen glaubt". Die Kabale trete in der Inszenierung in den Hintergrund. "Die Intrige, die Schillers Drama auch zum Krimi macht, wird eher beiläufig abgehandelt". Resümee: "Nicht alles ist stichhaltig, aber das überzeugende Liebespaar macht die Aufführung sehr spannend".

 

Kommentare  
Kabale und Liebe, München: cool und ganz okay
Die Inszenierung ist wohl eine Auftragsarbeit des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kultur. Nun dürfen sich Oberstufenschüler durch das gelbe Reclamheftchen quälen und mit ihren von der Theaterpädagogik mit Infomaterial versorgten Deutschlehrern ins Theater gehen. Dort werden sie die Erfahrung machen, dass Ferdinand ein cooler Typ und Theater ganz okay ist. Schade nur, dass sie bei dieser Inszenierung wahrscheinlich nicht die Erfahrung machen werden, dass Theater weit mehr als nur okay sein kann.
Kabale und Liebe, München: langweiliger Spielplan
Der ganze Spielplan im großen Haus scheint vom Ministerium zu kommen. Schon interessant, dass
ausgerechnet Kusej so vor seinen Dienstherrn einknickt. Jetzt noch der kommende Liederabend mit dem Fernsehstar und der Spielplan im Residenztheater ist langweiliger als beim Vorgänger.
Dazu finden anscheinend die geplanten Inszenierungen von F. Heller und Kornél Mundruczó in Marstall/Cuvilliéstheater nicht statt. Die wären für mich mit das Spannendste an der Saison gewesen.
Kabale, München: mittten ins Herz
ich habe den abend sehr genossen, habe einen großartigen michael klammer gesehen und eine beeindruckende andrea wenzl. deren verzweiflung hat mich mitten ins herz getroffen - was können nicht nur oberstufenschüler besseres im theater erleben? und mit dem in der schule propagierten schiller hat diese inszenierung wenig gemein, weshalb ich die obige kritik in keinster weise nachvollziehen kann.
Kabale und Liebe, München: tolle Leistung, aber Angleichung
Gestern abend habe ich tolle schauspielerische Leistung in vollen Zügen genossen. Doch insgesamt gleichen sich die Stücke im Resi mit ihrer reduzierten Darstellung immer mehr einander an - was für die Abonnenten zuweilen etwas langweilig wird.
Ausserdem frage ich mich, weshalb die unter Kuseji zunehmende Darstellung von sexuell anzüglichen Szenen wie dauerndes Busen-/ins-Gemächt-Gegrabsche oder Zungen-Züngeln-Abschlecken sein muss; es ist oft völlig überflüssig und - im Falle von Kabale und Liebe -eher ab- als antörnend....
Großartig: Andrea Wenzl und Götz Schulte
Kabale und Liebe, München: fehlendes Konzept
Möglicher Weise haben einige der vielen Schüler, die gestern die Zweitaufführung gesehen haben, ihrem Deutschlehrer Abbitte geleistet, denn der hat, wenn er seinen Beruf ernst nimmt, das Pathos und die Wahnsinnsphrasen des Texts aus Schillers Weltsicht heraus legitimiert, denn darauf kommt es an, wenn man sich auf Schillers Jugendwerk einlässt. Aber so hohl und platt klingt diese Sprache selbst im nüchternen Reclamheftchen nicht, wie in dieser gedankenlosen Inszenierung von Amelie Niermeyer. Man kann natürlich dem Schillerschen Weltbild misstrauen, muß es heute vielleicht sogar. Aber dann muß eine Inszenierung etwas dagegen setzen, was dieses Misstrauen rechtfertigt. Der Verzicht auf jede Aussage ist noch keine Aussage, zumindest kein Konzept für lebendiges Theater. Hier aber fallen die hochpathetischen Sätze als bloße Worthülsen auf den Bühnenboden oder versickern in den schwarzen Papierfetzen, die den Bühnenboden bedecken. Das Publikum erreichen sie jedenfalls nicht. Wie gesagt, man kann, sollte sogar, dem Schillerschen Welt- und Menschenbild misstrauen. Es einfach ignorieren ist billig. Heutige, interessante, Regisseure lesen die großen Schauspiel- und Operntexte neu, verweigern dem Zuschauer die vertrauten Verständnis- und Sehgewohnheiten und kommen so oft zu spannenden Ergebnissen. Die Reduktionsdramaturgie hat den "leeren Raum" für ihre Auseinandersetzung mit den Texten entdeckt. Andere, weniger Begabte, verwechseln das mit "leerer Bühne" - auch wenn sie mit einem gelben Plastikkubus ausgefüllt ist -und glauben dass das allein schon ein Inszenierungskonzept ist. Amelie Niermeyer liefert nichts als eine "vom Blatt gespielte, "konzertante" Aufführung, in der hochbegabte junge Schauspieler sich in ihrer Wahnsinnsliebe in den Tod treiben. Warum sie das tun, tun müssen, hätte viel mit Schiller zu tun, aber das interessiert die Regisseurin nicht. Wenn sie von Schiller nichts weiß, wäre das schlimm, wenn sie von ihm nichts wissen w i l l , müsste sie sagen, warum. So aber bleibt die plumpe Intrige, der die Liebendem zum Opfer fallen, nur lächerlich und unglaubhaft. Ein Schüler hinter mir flüsterte seiner Nachbarin nach Ferdinands Wahnsinns-Eifersuchtsgebrüll zu: "Spinnt der jetzt?". Die Antwort kam sofort: "Na klar!". Noch Fragen? Nein. Der Schluss des Stücks: Man muß das Strafgericht über den Präsidenten und seine Schurken nicht zeigen, natürlich nicht, man kann es weg lassen, wenn man der Versöhnung zwischen irdischer und höherer Gerechtigkeit nicht glaubt, wenn man nicht will, dass der Tod der Liebenden sie zu Kronzeugen für die höhere (bei Schiller göttliche) Gerechtigkeit der Liebe macht. Aber zwei Menschen sinnlos am Boden verrecken lassen ist zynisch. Da hilft auch nicht, dass Luise nochmal aufsteht und den Kubus, aus dem die Schurken heraus und hinein krochen (aber warum, bitte, am Schluss auch Miller, der arme Kerl, der doch gewiss nicht zu "denen" gehörte?) in den schwarzen Bühnenhintergrund schiebt.- Stückschlüsse in den großen Texten der Schauspiel- und Opernliteratur werden ja schon seit langem oft völlig umgedeutet. Das hat seinen Sinn und bringt oft spannende Einsichten, wenn es im Kontext der Inzenierung geschieht. Inszenieren heißt in erster Linie einen Text befragen. Amelie Niermeyer stellt keine Fragen, verweigert also Inszenierung. Aber Verweigerung ist keine Kunst, sondern nur pathetisches Geplapper.
Kabale und Liebe, München: konzertant und unecht
Der Gedanke kam mir auch während der Premiere, die ich unendlich langweilig fand. Es ähnelt einer konzertanten Aufführung. Nichts ist konsequent durchgeführt, vieles lächerlich, nichts echt. Bis auf die wunderbare Andrea Wenzl konnte mich nichts und niemand überzeugen. Schade. Ich ging ohne dass etwas blieb als, ausser dem Gefühl es überstanden zu haben.
Kabale und Liebe, München: Jubel auf Reclam-Niveau
Ich kann mich den beiden letzten Kommentaren nur anschließen, und finde die Nachtkritik deshalb etrem fahrlässig: Sich im Theater mit o wenig zufrieden zu geben, praktisch wie ein Fan schon zu jubeln, wenn man schon Reclam-Niveau sieht, kann nicht die Aufgabe von Kritik sein - während andere Aufführungen in München nach einem strengen Raster beurteilt werden. Da ist kein maß
Die Aufführung ist in ihrer gepflegten Langeweile eine Frechheit - und grenzt an Arbeitsverweigerung der Regisseurin. Wenn Theater nur okay ist, ist es sofort ganz furchtbar. Dann lieber gewagt und daneben. Womit wir wieder beim Servicegedanken wären und bei Herrn Baucks´ Verweigerung der 19%. Traurig für die Schüler, die denken, das sei schon Theater.

(Werter Thamas P., Fanzines lesen sich dann aber doch anders. Und bitte, "fahrlässig", "Frechheit", "Arbeitsverweigerung" - das sind schon bannig schwere Geschütze dafür, dass Künstler und Kritiker ästhetische Setzungen machen, die Sie nicht teilen. Mit besten Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
Kabale und Liebe, München: Provokante Theaterpädagogik
Andrea Wenzel beeindruckt durch Ihre im Gym gestählten Oberarme, die einem duchtrainierten Mann oder Madonna ebenso stehen würden. Schauspielerisches Talent kann ich hingegen wenig erkennen. Aber dies mag auch der kleinbürgerlichen Inszenierung geschuldet sein. "Provokante" Theaterpädagogik für Menschen zwischen 6 und 12 Jahren. Ich verweigere mich jetzt einfah mal für den Rest meines Lebens den Einfällen dieser Regisseurin: Uninspiriert bis zur Berufsverweigerung. Schade, dass solche Menschen das Theater denjenigen preisgeben , die nach einer Abschaffung des subventionierten Betriebes schreien.
Kabale, München: Bielefeld!
Kabale und Liebe kann auch beeindrucken und fesseln wie in Bielefeld gesehen!!!!!!
Kommentar schreiben