Terror-Blick nach Innen

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 18. März 2013. Der Grat zwischen Erhabenheit und Lächerlichkeit ist schmal. Aber ist "Grat" überhaupt das richtige Bild? Erhabenheit und Lächerlichkeit als zwei steile, in entgegengesetzte Richtungen strebende Abhänge? Wenn Hyperion auf dem schmalen Grat ausrutscht und auf die eine Seite fällt, dann ist er für die andere verloren?

Bei Romeo Castellucci muss er sich darum keine Sorgen machen, denn die Hölderlins Versroman entlehnte (Haupt-)figur des Abends "Hyperion. Briefe eines Terroristen" ist mit einer ausgefeilten Balance-Gestik ausgestattet – bei allen fünf Schauspielerinnen, die sich als Hyperion abwechseln. Langsam und konzentriert schattenboxend sprechen sie wenige kurze Auszüge aus dem Briefroman, in dem Hyperion seinem Freund Bellarmin sein innerlich und passagenweise auch äußerlich bewegtes Leben – Freundschaft, Liebe, politisches Engagement (Freiheitskampf für Griechenland gegen die Türkei), Verlust nahe stehender Personen (Mentor, Freund, Geliebte) – Revue passieren lässt.

hyperion 560 arnodeclair uOdaliske mit Kamera am Auge und Vibrator am Fuss: Eva Meckbach © Arno Declair

Am Ende dieses Curriculum Vitae steht Hyperion als Bedichter der Natur da. Hölderlin lässt ihn in einem Moment der Harmonie zurück. "Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder", ist Hyperions Glauben erfrischt und sind Lächerlichkeit und Erhabenheit zusammengeführt in ein Bewusstsein.

Hund, Jüngling, Mann, Greis, Karikatur

Bei Castellucci hingegen wird Hyperion durchgängig als Auseinandergefallener porträtiert: Sein seltsames Terroristen-Tai-Chi scheint Ausdruck und zugleich Illustration einer grundlegenden Entfremdung von allem Natürlichen. Der Abend hat mit einem Knall begonnen; die Bühne – eine so schicke wie triste Wohnung, ästhetisch gar nicht so weit weg von denen, auf denen sich die Inszenierungen von Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier abspielen – wird von einem Spezialeinsatzkommando der Polizei erst durchsucht und dann total verwüstet. Mit den Worten "Hier gibt es nichts zu sehen!" wird das Publikum rausgeschmissen.

hyperion 280h arnodeclair uAngela Winkler in Pose vor farbverschmiertem Wolkendunst © Arno DeclairUnd 20 Minuten später wieder hineingebeten. Die Manege ist frei gemacht worden für den Blick nach innen, in das Bewusstsein des Hyperion – das hier wiederum veräußerlicht wird. In einem White Cube kommt Hyperion, in dieser Reihenfolge, als blinder Hund (Fräulein Smilla), altkluges Kind (Amelie Brettschneider/Lejna Hoffmann), statuesker Jüngling (Rosabel Huguet), mit dem Schwert fuchtelnder junger Mann (Luise Wolfram), sinnender alter Mann mit tiefem Blick (Angela Winkler) und blondperückte, verrückte Apokalypse-Karikatur (Eva Meckbach) daher, die uns kündet: "Ich bin hier, und ich bin bewaffnet."

Zur Lächerlichkeit erhoben

Ihre Waffe ist ein Dildo, im Soundteppich, der diese finale Episode unterwabert, wird pornös gestöhnt. Läuft die ausschließlich weibliche Besetzung eigentlich auf noch etwas anderes hinaus als auf diese Szene, die natürlich eine kunstvolle ironische Brechung des Vorangegangenen darstellt? Könnte man sich fragen. Oder auch, ob es einem genügt, mit einem immerhin gründlichen Unbehagen über die pathologische Selbstbezogenheit des fundamentalisierten Bewusstseins aus dem Theater entlassen zu werden. Ob sich das Theater hier nicht andererseits selbst, indem es nichts zu erzählen suchte, sondern nur feierlich ausstellte, zu Lächerlichkeit erhoben hat.

"Wir opfern die eignen Gefühle so gern, wenn uns ein großes Ziel vor Augen steht", wundert sich Hölderlins Hyperion. "Findest du es nicht auch merkwürdig, dass es immer wieder Menschen gibt, die ihr Leben für eine Idee zu opfern bereit sind; dabei hat man doch nur eins?", wurde dieses Sich-Wundern am Abend zuvor, dem Eröffnungsabend des Festivals für internationale neue Dramatik F.I.N.D., im "Terroristischen Tanzsalon" des griechischen Theaterkollektivs BLITZ anders formuliert.

Tortenstückchen kommunistischen Gedankenguts

In diesem Salon, so viel wird schnell klar, wird nicht gelitten, sondern sich in Begeisterung getanzt, gesungen, geredet: Rage mit Showeffekt. Im Studio der Schaubühne sitzt das Publikum an Tischen hufeisenförmig um den Dancefloor herum, an der Stirnseite auf einem Bühnenpodest steht ein Flügel, auf dem Uwe Dreysel die Begleitmusik klimpert.

derterroristischetanzsalon 560 heikoschaefer uUwe Dreysel, Jenny König, Felicitas Madl auf dem terroristischen Dancefloor © Heiko Schäfer"Die Wahrheit ist noch immer komplex", wird einmal aus einem Brief von Marx an Ruge zitiert, und an die Wahrheit dieser Wahrheit hält man sich hier eine enthusiastische Stunde lang. Es buhlen immer mehrere Schauplätze simultan um die Aufmerksamkeit des Publikums. Da geht es gleichzeitig vor-, nach-, und voll revolutionär zu, wenn Ulrich Hoppe als Tod verkleidet hinterm Glitzervorhang steht und erzählt, wie er im Nebenjob als Geisterbahnerschrecker arbeitet und den "Genossen" zum Schreck gratis dazu immer noch ein Tortenstückchen kommunistischen Gedankenguts serviert; währenddessen spielen Ernst Stötzner und Felicitas Madl Diktatoren-Stich ("Mao-6500 – Hitler-7000 – Ha!"), am hinteren Mikro agitiert Jenny König die amüsierten Massen ("Die Revolution lebt!"); und kaum ist der Tod abgetreten, tritt Cathlen Gawlich im blauen Schuluniform-Kleid an seine Stelle und singt mit Kleinmädchenstimme: "Und wenn ich mal groß bin, damit ihr es wisst, dann werde ich auch so ein Volkspolizist."

Soufflée und Kochwettbewerb

Es geht ein Soufflée hoch, das seine Würze aus dem Rampensau-Potential sämtlicher Darsteller bezieht, andererseits aber genau dadurch auch Gefahr läuft, zu doll erhitzt zu werden. Dann fällt es zusammen. Und es bleibt – immerhin – die Erinnerung an diese Anfangsfrage: "Findest du es nicht auch merkwürdig, dass es immer wieder Menschen gibt, die ihr Leben für eine Idee zu opfern bereit sind; dabei hat man doch nur eins?" Auf die Jenny König antwortete: "Natürlich" und zu einem Lied ansetzte.

Am dritten Premierenabend des Festivals kommt erst das Fressen und dann die Moral. "Notizen aus der Küche" von Rodrigo García genügt nur einem Teil des Festival-Titels Festival für internationale und neue Dramatik; denn neu ist das Stück beleibe nicht, die Uraufführung hat 1995 stattgefunden. Vor Fressen und Moral findet ein Kochwettbewerb statt, in dem sich zwei Männer um die Brüste und ultimativ das Herz einer Frau messen. Der eine (Urs Jucker) hadert in einer Standup-Comedy-haften Nummer ad absurdum mit dem Image des leidenden Künstlers, der andere (Niels Bormann) raucht Kette und kommt irgendwann damit raus, dass er seinen Sohn jeden Morgen in die Kneipe ausführt und abfüllt, um ihm den Schulalltag erträglich zu machen. Die Frage, ob das richtig oder falsch ist, wird dem Publikum überlassen – und es wird ihm implizit nahegelegt, sich darüber nicht allzu viele Gedanken zu machen.

notizen 560 gianmaracobresadola uNiels Bormann und Urs Jucker mit dem Biergierde-Objekt Lucy Wirth in "Notizen aus der Küche"
© Gianmaraco Bresadola

Patrick Wengenroth, der die Regie ein paar Tage vor der Premiere von dem "aus künstlerischen Gründen" (Schaubühne) ausgefallenen Egill Heiðar Anton Pálsson übernommen hat, konzentriert sich auf die Frau, um die gekocht wird (Lucy Wirth) und klischiert sie als Verführerin. Von mit unterkühlter Sexiness dargebotener Gesangsnummer bis zu Live-Kamera auf kreisenden Arsch werden so einige Register gezogen. Leider verpuffen im Zuge dessen auch einige Zwischenebenen des Texts, der sich durchaus über die Moral erhebt, die ihm in dieser Inszenierung am Ende zuläuft.

Die Frau, das war einem inzwischen glatt entfallen, hat sich im Prolog als Rodrigo García vorgestellt. Am Ende wird diese Doppelrolle dem Publikum noch einmal in Erinnerung gerufen. Da essen die Männer gerade das, was sie gekocht haben und haben ganz vergessen, warum sie es gekocht haben. Haben die Frau überhaupt ganz vergessen, die sich ihnen nun zunehmend verzweifelt darbietet, erst noch als Frau, dann als Tier und irgendwann als Nahrungsmittel ("Rühr mich! Würz mich! Koch mich!"). Um schließlich zum beleidigten Erfinder des Ganzen zurückzumutieren: "Da kommt eigentlich noch was, aber das habe ich gestrichen." Der Dichter ist einmal mehr an sich selbst gescheitert – Hyperion lässt grüßen.

 

Der terroristische Tanzsalon
Ein Projekt von BLITZ
Raum: Jan Pappelbaum und Elisabeth Weiß, Mitarbeit Kostüm: Oscar Salieh, Dramaturgie: Nils Haarmann.
Mit: Robert Beyer, Uwe Dreysel, Cathlen Gawlich, Ulrich Hoppe, Jenny König, Felicitas Madl, Ernst Stötzner.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

Hyperion. Briefe eines Terroristen
nach Friedrich Hölderlin
Regie, Bühne, Licht, Kostüme: Romeo Castellucci, Musik: Scott Gibbons, künstlerische Mitarbeit: Silvia Costa, Dramaturgie: Florian Borchmeyer und Piersandra Di Matteo.
Mit: Rosabel Huguet, Eva Meckbach, Angela Winkler, Luise Wolfram, Amelie Brettschneider/Lejna Hoffmann, Fräulein Smilla (Hund), Statisten.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

Notizen aus der Küche (DEA)
von Rodrigo García
Realisation: Patrick Wengenroth, Bühne und Kostüme: Magda Willi, Video: Benjamin Krieg, Licht: Erich Schneider.
Mit: Niels Bormann, Urs Jucker, Lucy Wirth.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

Mehr zu Romeo Castellucci und Hölderlin? Auch in der Rothko-Bebilderung The Four Seasons Restaurant, die Castellucci im Herbst 2012 beim Festival Foreign Affairs zeigte, wurde ein bisschen Hölderlin gesprochen.

 

Kritikenrundschau

"Statische Bilder von transparenter Schönheit und luzider Überzeitlichkeit kreieren – das kann dieser Regisseur, der seine Wurzeln in der Bildenden Kunst verortet", schreibt Jenny Hoch in der Welt (19.3.2013). Die brachiale Überwältigungsästhetik, mit der er normalerweise arbeite, ist hier auf ein Minimum reduziert. "Stattdessen vermengt Castellucci appollinisch-strenge Antikenverehrung mit schwelgerischer Anrufung des Künstler-Genies." Auffallend oft geschehe dies in Gestalt nackter Frauen, die er als weißgetünchte Man-Ray-Akte inszeniert, Fantasma-Diotima lässt grüßen. Mit einigem Recht könnte man dagegen vorbringen, das alles sei pathetischer kunstreligiöser Theatermumpitz, doch "in Zeiten, in denen immer mehr Theatermacher nur noch die Realität nachspielen, tut so ein eigensinniger Bilderzauberer und Realitätsverweigerer einfach gut. Denn dafür geht man ja auch ins Theater. Lieber schöne Illusionen als gar keine Hoffnung mehr".

"Hölderlin kann nichts dafür" ist Irene Bazingers Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.3.2013) betitelt. Man könne an dem Abend etwa lernen, dass ein Ophthalmoskop ein medizinisches Gerät zur Augenuntersuchung sei. "Dessen Live-Aufnahmen werden auf eine Leinwand vergrößert, was Assoziationen zu Buñuel oder Bataille erlaubt, ohne im Kontext der Uraufführung nur ansatzweise zwingend zu erscheinen." Mal nackt und komplett puderbestäubt, mal barfuß in Männerhosen und Hemden, deklamieren die Schauspielerinnen kurze Schnipsel aus Hölderlins Prosatext, "alle machen pathetische Gesten und Gesichter, recken heroisch die Hälse, die Arme, die Beine". Fazit: "Mag Castellucci sich auch als bildender Künstler fühlen, der das Theater philosophisch zu transzendieren beabsichtigt, so begnügt er sich diesmal als Regisseur, Bühnen-, Kostüm- und Lichtdesigner mit anbiedernd kommerziellem, ästhetisch hausbackenem Kunstgewerbe."

"Zehn Minuten fadenscheinige Action – und dann siebzig oder achtzig Minuten Hölderlin-Deklamation", so beschreibt es Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (19.3.2013) und bekennt: "Es fühlt sich sehr viel länger an." Hölderlin als Revolutionär im Dienste einer totalen Ästhetik, eines reinen Glaubens an die Kunst? Das klinge faschistoid, doch nicht deshalb komme am Anfang die Theaterpolizei. "Sie zerlegt die Bühne (die Terrorzelle?), weil der Regisseur das so will. Weil er die Brisanz seiner Vision beweisen will. Weil Castellucci seine Coups und Effekte offensichtlich kalt berechnet." Von den Spielerinne müsse einzig Angela Winkler Stille und Noblesse nicht behaupten. "Sie naht sich, und plötzlich ist die Konzentration da, kann man wachen und träumen und ahnen, wie der Dichter an Deutschland, an seiner Zeit der 'Klassik' litt." Ansonsten sei diese von Hölderlin inspirierte Performance aber "so grob wie das, was sie bekämpft".

"Es hat eigentlich ganz nett angefangen mit dem Terrorismus in der Schaubühne", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (19.3.2013). Im "terroristischen Tanzsalon" verhielten sich alle anwesenden Revolutionäre und Terroristen zivilisiert, unterbrächen einander nur, um schnell mal etwas Wichtigeres zu sagen oder vorzumachen. "Ohne Humor wird nichts aus der Weltrevolution. Da sind die netten Leute von Blitz schon mal einen Schritt weiter." Als Romeo Castellucci, über dessen "Hyperion" sich Seidler im folgenden ausgiebig ärgert: "Der italienische Theatermacher Romeo Castellucci riss ein paar Zitate aus Friedrich Hölderlins Brief-Roman 'Hyperion' und dekorierte mit ihnen seinen großformatigen esoterischen effekthascherischen Bilderkunstkitschtheatermumpitz." Auch der "großkotzige Anfang dieses Zinnobers", der als "obszön teure Kurz-und-Kleinkunst-Einlage" beschrieben wird, hat größtes Missfallen des Rezensenten gefunden. Anders als der dritte Eröffnungsabend "Notizen aus der Küche", dem eine eigene Kritik (20.3.2013) gewidmet ist: "Wengenroth hat ungefähr die Hälfte des ohnehin sammelsurischen Textes für ein Nummernprogramm hergenommen, das den drei fast schon schamlos souveränen und in Sachen Selbstironie hoch begabten Schauspielern Lucy Wirth, Niels Bormann und Urs Jucker herrliche, im Fall von Lucy Wirth sogar glamouröse Auftritte ermöglicht." Wie schön sie singe, Teller zerschmeiße; mit welch raffinierter Ungeübtheit sie eine Karotte in Scheiben schneide, eine Leber zerkleinere und roh verschlinge (nicht ohne sich hinterher die Lippen nachzuziehen). "Das ist − seltene Kombination − lustig und erotisch." Das Stück hätte man, meint Seidler, natürlich auch viel direkter, unharmloser und existenzieller zubereiten können. "Danke, dass nicht."

Wie Hölderlin gehe es auch Romeo Castellucci um Selbstfindung. Erstaunlicherweise gelte Castellucci in einem vermeintlich aufgeklärten Deutschland als Skandalregisseur, als Bilderkunstkitsch-Typ und als Ästhet, schreibt Enrico Ippolito in der taz (20.3.2013) und setzt zu einer Apologie an: "Profan ist Castellucci nie, auch nicht gewöhnlich, trotz oder gerade wegen seiner gewaltigen Bildsprache." Jede Szene sitze, sei bis ins kleinste Detail durchchoreografiert. "Neben dem schönen Moment ist Castellucci die Körpersprache wichtig. Die Schauspielerinnen machen nicht viel mit ihrem Körper, eine sanfte Geste hier, ein leichtes Erheben der Hand dort. Der Körper soll nicht Hölderlins Text übertönen, sondern Text und Körper bilden eine Symbiose." Castelluccis Inszenierung von Hölderlin sei auf Schönheit abgestellt, jede Einstellung wirke wie ein Kunstwerk, wie ein Foto. "Und offenbar provoziert Castellucci genau durch die Vermischung der Kunstformen seine Zuschauer." An der Wahrheit der von Angela Winkler deklamierten "Scheltrede an die Deutschen" habe sich, so Ippolito, nichts geändert.

Castellucci mache Hyperion zum Terroristen, obwohl er doch, so Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (21.3.2013), eigentlich das Gegenteil sei: "kein Guerilla-Kämpfer gegen das System, sondern einer, der mit der Masse läuft und vorübergehend der allgemeinen Kriegs-Faszination erliegt". Hölderlins Text sei aber ohnehin eher "Hintergrundrauschen für die Bilder. Castellucci hat Hölderlin nicht missverstanden. Weil er ihn gar nicht verstehen wollte." Zum Glück gebe es Angela Winkler, die den Text nicht nur verstehe, sondern bei der auch "die streng choreografierten Gesten" Sinn machten. Bei ihr wirke es, "so esoterisch das klingen mag, als könne ihr Körper denken". Am Ende verteilten die Polizisten vom Anfang "dunkle Farbe auf dem Boden, die sich zu einer riesigen Pistole formt" – man könne das "als Kommentar zum Thema Staatsgewalt lesen: Die Terroristen, das sind die Polizisten. Für eine solche Aussage hätte es freilich keinen Hölderlin gebraucht." Und das "F.I.N.D.-Festival" als Ganzes? Scheint Meiborg "etwas müde und saturiert geworden" und "mehr um Regie-Stars als um Nachwuchs-Dramatiker" bekümmert. "Von Ostermeier selbst ist eine Produktion zu sehen, die seit drei Jahren erfolgreich an den Münchner Kammerspielen läuft. Weniger Risiko geht kaum."

Dirk Pilz von der Neuen Zürcher Zeitung (21.3.2013) hat in der Schaubühne "etwas sehr Seltsames" erlebt: "Schauspieler, die zu ihren Figuren zu beten scheinen. Als wäre jeder Satz, jeder Schritt ein Altar, auf dem der Schönheit gehuldigt wird." Die "entscheidenden Worte des Abends" seien die vom "'Schrecken der Schönheit', davon, dass das Schönste das Fürchten lehre". Castellucci nehme den Text "als Bildgeber", suche "nach Situationen und Stimmlagen, um dem Schrecken der Schönheit Form zu verleihen", was vor allem "mit dem traurigfrohen Auftritt" von Angela Winkler gelinge. "Das ist gross, weil voller Widersprüche, voll Kraft, voll Geheimnis – als wäre Schönheit göttlicher Offenbarung vergleichbar, als habe (...) der Geist die 'Gestalt des irren Herzens' angenommen." Dass Castellucci außerdem aber zu einer "derb handgreiflichen und damit arg verkleinernden Lesart" (Hyperion als Terrorist) greife und so tue, "als könnten die Hölderlinschen Schönheits- und Freistaatsvisionen geradewegs in die Gegenwart gezerrt werden – das ist so überflüssig wie grobschlächtig".

Kommentare  
F.I.N.D. 2013, Berlin: Fastenzeit
Hallo liebe Redaktion, hat es einen Grund, dass ihr den Artikel so gut versteckt habt, dass man ihn erst angestrengt suchen muss? Jetzt ist er irgendwie schon wieder verschwunden.
Aber ich bin auf meiner Suche ja wenigstens nicht ganz gescheitert, wie die Regisseure beim F.I.N.D. Und mit der Lächerlichkeit ist das auch so eine Sache. Wir finden gern lächerlich, was wir uns nicht erklären können. Ironie und Pathos liegen da oft dicht beieinander. Castellucci verstehe ich so, dass im Künstler an sich immer auch der Aufruhr wohnt und ihm die Flucht in das innere Pathos seiner Kunst der einzig mögliche Ausweg scheint, wenn alle anderen gewaltsam versperrt werden. Siehe Vertreibung aus dem Tempel der Kunst. Das ist manchmal schwer zu ertragen, aber einige der Anwesenden, werden mir da sicher zustimmen, selbst wenn Claus Peymann ob des dargebotenen öfter mit dem Kopf schüttelte. Aber vielleicht war das auch zustimmendes Nicken. Wer weiß? Geschichten vom Scheitern kann er zumindest auch erzählen.
Rodrigo Garcia ist da das richtige Kontrastprogramm. Hier ist die wütende Ironie vorherrschend, wie schon vor zwei Jahren mit Lars Eidingers Tour de Force zu Goya. Auch diesmal sollte man sich davon den Abend nicht versauen lassen. Leider gab es von der lecker riechenden gebratenen Leber nichts fürs hungrige Publikum. Schade eigentlich, aber ich bin ja noch in der Fastenzeit, die den Kunstgenuss jedoch nicht per se verbietet.

(Lieber Stefan,

dass der Text erst spät und dann unter einer anderen Rubrik erschien als zunächst, hat nichts mit dem Inhalt zu tun, sondern mit redaktionell-technischen Abläufen. Jetzt ist aber alles in der richtigen Schublade und deshalb für alle auf der Startseite sichtbar.

MfG, Georg Kasch / Redaktion)
F.I.N.D. 2013, Berlin: echte Kritik?
Es wäre schön, wenn sich mal ein Großteil der Kritiker wieder dazu durchringen könnte nicht nur Beschreibungen der Abende abzuliefern, sondern auch mal tatsächlich eine echte Kritik zu schreiben. Es wird selten auf die Qualität der einzelnen Schauspieler, noch auf gute bzw. schlechte Regieeinfälle etc. eingegangen. Haben die alle keinen richtigen Mut zur eigenen Meinung? Und vor allem habe ich den Eindruck, das die meisten heutigen kritiker keine echten Theaterfreaks sind. Es ist alles so unleidenschaftlich... Keine guten Voraussetzzungen für diesen Beruf!

Ich bin selbst erst 41 Jahre alt, aber ich sehne mich nach Friedrich Luft und den anderen Kritikern, die z.B. in "Die Gallerie des Theaters" regelmäßig gesprochen haben. Auch die Stadelmeyers wird es nicht mehr ewig geben und wer macht den Job dann noch richtig?

Bitte versten Sie mich nicht falsch, ich schätze nachtkritik.de sehr, aber für eine spezialisierte Webseite würde ich mir Tiefgang wünschen, es reicht ja schon, dass z.B. hier die zeitungen Berlins zeimlich schlechte Kulturredaktionen haben.
F.I.N.D. 2013, Berlin: Brüste und Herz
"ein Kochwettbewerb [...], in dem sich zwei Männer um die Brüste und ultimativ das Herz einer Frau messen". Na, wenn da mal keine Ironie drinsteckt, in der Formulierung von Sophie Diesselhorst. Oder steht das auch so im Stücktext?

Es macht jedenfalls einen himmelhochjauchzenden Unterschied, ob man eine Frau nur über ihren Körper (Brüste, Hintern) wahrnimmt oder nicht auch versucht, ihr Herz zu gewinnen. Ach, manch ein Mann weiss wohl nicht, wie Liebe sich anfühlt. Er liebt offenbar noch nicht einmal sich selbst, weshalb er allein die Frau auf das schwache Fleisch ("Schwachheit, dein Name ist Weib!", ja ja) und das verführerische bzw. verführende Prinzip reduzieren muss. So kann mann die eigene Schwäche und Verführbarkeit locker auf die Frau projizieren, im Sinne von "Du bist Schuld!" Nee nee nee. Die Frau ist nunmal kein Stumpsexporno, und wenn ihr da ran wollt, dann müsst ihr euch schonmal bisschen bemühen, Jungs. Von nichts kommt nichts. Sprich: Wer dichten, kochen und musizieren kann, ist klar im Vorteil. Der entdeckt die Frau in sich. Und wird so sicher auch die Herzen der Frauen im Sturm erobern.

Und hier wird also Leber gebraten? Prometheus lässt grüßen, was? Esst euch nicht immer nur gegenseitig auf, ihr Menschen. Ihr seid keine Tiere, ihr könnt euch ent-scheiden. "Das ist der Weisheit letzter Schluss: / Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muss".
F.I.N.D. 2013, Berlin: Hinweis auf weitere Kritik
Hinzuzufügen wäre noch die negative Besprechung in der FT (European Edition) vom 20.3.13, S. 9. (2 Sterne von 5)
F.I.N.D. 2013, Berlin: Geht Hölderlin ohne Pathos?
Die ganze Inszenierung hat mir auch nicht gefallen, aber die Art und Weise wie sich in obiger Kritik damit auseinander gsetzt wird, macht mich rasend. Mit dem lächerlichen Vibrator weiß sich die Kritikerin in ihrem Text besser zu beschäftigen, als zum Beispiel mit der sensationellen Angela Winkler, die mit ihrem Text "An die Deutschen" mehr zu erzählen hat, als ich das seit langem im Theater gesehen habe. Pathos scheint ja das schlimmste zu sein, was es auf der Bühne zu erleben gilt. Warum eigentlich? Und warum insbesondere bei einem Autor wie Hölderlin? Wie wollen sie denn einem solchen Text anders bei kommen, als mit Pathos? Und wer kann dieses überhaupt noch spielen? Die Kritik kann es jedenfalls nicht mal beschreiben. Mir wird Angst und bange, wenn eine Generation von Schauspielern dieses Formats in Deutschland nicht mehr auftreten kann. Dann wird es finster im deutschen Theater. Da bin ich mir angesichts dieser Kritik sehr sicher drüber.
F.I.N.D. 2013, Berlin: Meister der Anfänge
Zum Castellucci-Abend ist vielleicht hinzuzufügen, dass der Regisseur sich - wie schon bei The Four Seasons Restaurant - als Meister der Anfänge erweist. Wie er hier konsequent Erwartungshaltungen aufbaut und dann das Erwartete verweigert, diese konsequente Dramaturgie der Verunsicherung, kontrastiert zumindest insofern mit dem Rest des Abends, als es das Publikum zur Auseinandersetzung zwingt, bis hin zur eigenen Entscheidung: Gehen oder Sitzenbleiben, Anordnungen folgen oder Sich Widersetzen. Der Rest ist fast zwei Stunden hermetische Kunstbehauptung, bei der nicht mal die Bilder wirklich eindrücklich sind. Schön, Angela Winkler gesehen zu haben, aber das war es dann eben auch schon.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/03/21/hochamt-mit-schwarzem-hund/
F.I.N.D. 2013, Berlin: leicht verdauliches Theatermenü
"Notizen aus der Küche" ist ein amüsanter Abend, von dem nicht viel hängen bleiben wird, eine Anekdotensammlung, kurzweilig, gut gespielt, aber ohne, dass irgendein Zugang zum oder Haltung zum Stück sichtbar würde. Oder um im Bild des Abends zu bleiben: Das Theatermenü, das hier serviert wird, ist ist zwar leicht verdaulich und recht wohlschmeckend aber auch nicht so richtig sättigend. Nicht nur der Magen bleibt hungrig, auch der Kopf.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/03/23/nuancen-von-toastbrot/
Hyperion, Berlin: spießiges Publikum
WIe spießig das Schaubühnenpublikum nun doch ist (und doch nicht so hipp!), zeigte sich gestern, als einige/viele Zuschauer/-innen sich widersetzten, den Saal nach ca. 10Min zu verlassen. Das gehört zur Inszenierung...siehe oben.


Insgesamt empfand ich den Abend als schön-meditativ, Angela Winkler ist unbedingt hervorzuheben.
F.I.N.D., Berlin: "Soll mir lieber Goya.." wird Dauerbrenner
Lars Eidingers Monolog "Soll mir lieber Goya den Schlaf rauben als irgendein Arschloch" entwickelte sich seit der Premiere bei F.I.N.D. 2011 zum Dauerbrenner an der Schaubühne.

Im Hasenkostüm hetzt Eidinger zwischen Taxi und DJ-Mischpult hin und her, spricht mit dem Publikum darüber, was guten Sex ausmacht, und lobt seine Schrankwand. Der Monolog plätschert etwas ziellos vor sich hin, bis sich Eidinger kurz vor Schluss auf den – zumindest vor einigen Jahren, zu Zeiten der Premiere – medial dauerpräsenten Philosophen Peter Sloterdijk fokussiert. Mit ätzendem Spott kommentiert er den Mitschnitt eines typischen Sloterdijk-Vortrags, der sich zwischendurch auch mal in einer Endlos-Schleife verhakt.

Autor und Regisseur Rodrigo García schuf mit Eidinger einen frechen Abend, der vor allem von der Präsenz und Spontaneität des Schauspielers lebt. Beim überwiegend sehr jungen Publikum kam das unterhaltsame Stück sehr gut an, es fordert jedoch nicht zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung heraus.

Kompletter Text: http://e-politik.de/kulturblog/archives/1589-lars-eidinger-kann-peter-sloterdijk-nicht-ertragen-soll-mir-lieber-goya-den-schlaf-rauben-als-irgendein-arschloch-an-der-schaubuehne.html
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