Die swingende Textblase

von Jan Fischer

Göttingen, 23. März 2013. Am Anfang gibt es Sekt für das Publikum, zumindest für die ersten Reihen. Zwischendrin auch bunte Cocktails. Und am Ende gibt es die Frage: "Was bleibt?". Das ist die Frage, um die es in "Der große Gatsby" immer wieder geht, ob im Buch, in den Verfilmungen, im Theater. Was bleibt von allen diesen Affären und Lieben, von den Feiern, was bleibt von der Musik? Was bleibt, wenn alles vorbei ist, wenn die Sonne auf- und das Putzlicht angeht, wenn die Musiker ihre Instrumente einpacken? Was für ein Mensch bist Du dann?

Ich bin ein gestrandeter Mensch. Ich habe den letzten Zug von Göttingen nach Hause verpasst, und jetzt sitze ich in dem einzigen Fast-Food-Laden, der die ganze Nacht offen hat, und treibe auf den Morgen zu. Was bleibt? Die Antwort stolpert im Minutentakt an die Theke. Das, was von der Samstag Nacht übrig ist, schwankende Menschen, immer ein bisschen zu laut, immer ein bisschen zu unhöflich bei diesem Versuch, noch den letzten Rest Spaß für diese Nacht irgendwie aus dem Burgerfett zu kratzen.

Nutzlose Traumschlösser

Klar, ein Fast-Food-Laden in Göttingen im Jahr 2013 ist nicht das New York des Jahres 1925. Es mag sein, dass Fitzgeralds Roman mal etwas über den Zustand der Welt, der USA in den zwanziger Jahren gesagt hat. Aber die Inszenierung in Göttingen zeigt: Der Text hat sich längst von seiner Zeit gelöst, ist aufgestiegen und zu einer in sich geschlossenen Textblase geworden. 

"Denken Sie nur, alter Knabe, ich habe den ganzen Sommer den Pool nicht benutzt", sagt Gatsby gegen Ende, und darin schwingt alles mit, der ganze Roman: Die Tragik des nutzlosen Luftschlosses, das Gatsby für seine verlorene Liebe baut, sein einsames Leben, sein brutales Ende. Fitzgeralds Sätze sind so: hochverdichtete Nichtigkeiten, Sätze, die einfach sind, fast beiläufig, und sich dann irgendwo ganz tief unten doch zu Bedeutungsungetümen auffalten.

gatsby3 560 clemenseulig uAuf der Bühne 20er-Jahre-Feeling © Clemens Eulig

Vor allem aber sind sie eigentlich nicht zum Deklamieren gemacht, eher dafür, sie mal eben bei einer Poolparty fallen zu lassen. Dass die Schauspieler in Göttingen sie trotzdem deklamieren – allen voran Gintas Jocius als Jay Gatsby und Dirk Böther als der Erzähler Nick Carraway – ergibt eine interessante Verschiebung: Plötzlich wirkt der Text wie das künstliche Konstrukt, das er ist, die literarisch glattpolierte Oberfläche des Textes wie auswendig gelernt.

Göttingen nach der Party

Nur zwischendrin brechen die Darsteller immer mal wieder in kleinen Improvisationen aus. Bei einem Tischgespräch, zum Beispiel, aber das sind immer nur kurze Momente, die Textoberfläche saugt die Darsteller schnell wieder an. Sie sprechen, als wollten sie den Text, der eigentlich nicht so ganz passt, als Blaupause für ihre eigene Situation nehmen, weil sie im Grunde gar nicht so genau wissen, was sie sagen sollen. Und damit hebt der Regisseur Andreas Döring in seiner Inszenierung den Text aus seiner Enstehungszeit heraus.

Es ist ein Glücksfall, dass ich hier in meinem Fast-Food-Laden gestrandet bin: Diese Menschen, die hier reinströmen, in ihrer schönsten Ausgehkleidung, die Haare sorgfältig zurechtgemacht: Sie könnten auch die Reste einer von Gatsbys Parties sein. So ein großer Unterschied ist da nicht. Schöne Menschen, die sich einen guten Abend machen wollen, vielleicht ihre Langeweile wegtanzen wollen, vielleicht schon das eine oder andere Drama hinter sich haben, und irgendwie hier angeschwemmt wurden, in diesem festen Glauben, dass da heute Nacht doch noch was kommen muss, dass das doch nicht alles gewesen sein kann. Die Inszenierung von "Der große Gatsby" behauptet eine Verbindung des alten Textes in unsere Zeit. Ich kann sie hier und jetzt nachprüfen.

Teil des Publikums

Tatsächlich ist die ganze Inszenierung in Göttingen darauf ausgerichtet, eine Verbindung zum Publikum herzustellen: der halbe Zuschauerraum ist zu einem Tanz- und Cocktailpartysaal umfunktioniert, ein paar der Zuschauer sitzen an Tischen direkt auf der Spielfläche. Immer wieder wird Swing eingespielt, während Nick Carraway die Zuschauer direkt anspricht: "Kennen Sie Gatsby?", fragt er, als seien alle Teil derselben Party, und er betriebe Smalltalk mit den anderen Gästen.

Einmal bedient er sich am Cocktail einer Zuschauerin. Der größte Teil der Handlung findet dort statt, immer wieder unterbrochen von grandiosen – und, dem Schweiß auf den Gesichtern nach zu urteilen, sehr anstrengenden – Swing- und Charleston Tanznummern auf der eigentlichen Bühne, die aber auch wieder über eine Freitreppe mit dem umfunktionierten Zuschauerraum verbunden ist. So fließt in Göttingen alles zusammen, Bühne, Publikum, Darsteller und Inszenierung.

Traum von Glück und Liebe

Fitzgerald geht es in "Der große Gatsby" darum, den amerikanischen Traum zu dekonstruieren, die hohle Wirklichkeit darunter offen zu legen: Die Armen sind arm und bleiben arm, während die Reichen sich zu Tode amüsieren. Die Göttinger Inszenierung möchte das gar nicht so hoch hängen, sie ist mehr Liebesgeschichte als Sozialdrama, sie legt mehr die Motive und Abgründe der Figuren offen als gesellschaftliche Zustände. Und das macht ja auch Sinn: Auch, wenn sich das ein oder andere vielleicht noch übertragen ließe, sind doch die amerikanischen 20er Jahre weit weg vom heutigen Göttingen. Eine tragische Liebesgeschichte in der intriganten und gelangweilten Oberschicht nicht so sehr, Träume von Liebe und Glück mitten in verfeierten Nächten sicherlich gar nicht.

Was bleibt? Die Träume von Liebe und Glück sind auch die Träume, die in "Der große Gatsby" in Göttingen am Ende in sich zusammenfallen, genau wie sie im Fast-Food-Laden morgens um drei in sich zusammenfallen, wo ein paar der schönen und zurechtgemachten Menschen in ihre Handys weinen, von der besten Freundin getröstet, oder sich schreiend eine Szene liefern. "So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu", möchte ich ihnen gerne noch zuflüstern, aber dann kommt auch irgendwann der erste Zug, und eigentlich möchte ich nur noch nach Hause.

Der große Gatsby
von F. Scott Fitzgerald
Regie: Andreas Döring, Bühne: Axel Theune, Kostüme: Sonja Elena Schroeder, Musik: JT-Ensemble, Dramaturgie: Udo Eidinger, Choregraphie: Jennifer Helm. 
Mit: Elisabeth-Marie Leistikow, Constanze Passin Dirk Böther, Gintas Jocius, Philip Leenders, Jan Reinartz, Sascha Werginz.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause.

www.junges-theater.de

 

Mehr zu Der große Gatsby: Besprochen wurden Inszenierungen des Stoffes von Markus Heinzelmann im Januar 2012 in Hamburg, Matthias Fontheim im Dezember 2011 in Bonn und Christopher Rüping im November 2012 in Frankfurt/Main. 

 

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Kritikenrundschau

"Unter der kalten Oberflächlichkeit von Liebe, Leidenschaft, Macht und Geldsucht hat Döring das Lebendige hervorgeholt, die Liebe zwischen Gatsby und Daisy in den Mittelpunkt gestellt und damit auch die Frage nach den Lebenslügen", schreibt Carmen Barann in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen (24.3.2013). "Ginas Jocius verkörpert beeindruckend Gatsby als einen Mann, der in seinem fokussierten Wahn längst den Blick für die Realität verloren hat." Daisy werde von Elisabeth-Marie Leistikow sehr überzeugend als eine sich zwischen Zynismus und Selbstkritik arrangierende Frau dargestellt, die das eigene Lebensglück längst aufgegeben hat. "Leider weist das Stück einige für das Verstehen nicht notwendige Längen auf und hat auch ein paar kurze im Hintergrund ablaufende Szenen, wie zum Beispiel ein von Gatsby begangener Mord, die unerklärt im Raum stehen." Wettgemacht werde dies jedoch durch die gekonnten Sing- und Tanzeinlagen (Choreografie: Jennifer Helm), die dem Stück immer wieder Schwung und Würze geben.

"Die Verhältnisse der hier gezeigten Reichen, von Überfluss und Langeweile geplagten Menschen sind mehr als faul", schreibt Marie Varela im Göttinger Tagblatt (25.3.2013). Einnehmend und äußerst unterhaltsam an Andreas Dörings Roman-Inszenierung seien die swinglastigen Tanzchoreographien, die den Zeitgeist der Golden Twenties transportieren und neben den zahlreichen Gesangsbeiträgen zum Musicalcharakter des Ganzen beitrügen. Doch gegen Ende verliere sich die Inszenierung, stagniert die Spannung, die Auflösung der Geschichte wirke gehetzt und ist zuweilen schwer nachvollziehbar. "Der Premierenapplaus fällt anerkennend, aber wenig enthusiastisch aus."

 

Kommentare  
Gatsby, Göttingen: Widerhall bei McDonalds
Das Lob verpaßter Theaterabende, das habe ich wohl schon versucht zu singen, aber
das verpaßter Züge nach einem erreichten Theaterabend, wie Eindrücke eines Theaterabends bei McDonalds ihren Widerhall erfahren: wieder so eine schöne lebendige Nachtkritik, die daran erinnert, daß man sich nicht nur nach SIGNA-Abenden auf der Straße befinden kann (mitunter mehr als einem lieb ist , zunächst oder auch
nachhaltig), um eine Art "Müdigkeitsabend" anzuschließen. Es freut mich, daß nach einem Abend am JT eine solche Kritik möglich ist..
Gatsby, Göttingen: erfüllt nicht den Anspruch einer Theaterkritik
Was für eine schlechte Kritik. Ich erfahre viel über den Abend des Kritikers und ganz wenig über die Inszenierung. Keine Spur einer Einordnung, keine Diskussion im Vergleich zu den anderen Inszenierungen der derzeitigen Gatsby-Welle, ja nicht einmal ein plastisches Bild dieses einen Abends entsteht. Nachtkritik sollte ganz dringend die Texte seiner Autoren kritisch gegenlesen, dieser Text erfüllt den Anspruch einer Theaterkritik nicht.
Gatsby, Göttingen: schlechte Kritik, gute Kritik
Sehr geehrter J.A.,
keine Sorge, wir redigieren alle Kritiken in der Redaktion sehr sorgfältig, bevor wir sie veröffentlichen. So ist auch Jan Fischers Text, der einen unkonventionellen Zugang wählt, ganz in unserem Sinne. Hier auf nachtkritik.de darf gern auch ein bisschen mit der Form 'Theaterkritik' experimentiert werden. Steht es denn so fix und für immer fest, wie eine gute Kritik zu sein hat? Oder sollte man nicht – im Idealfall – immer im Einzelfall schauen, was für ein Text einem bestimmten Theaterabend adäquat sein könnte?
Meiner Meinung nach macht dieser Text in seiner Verschränkung der Beobachtung der Göttinger Nachtschwärmer, die im Fast-Food-Laden reinschneien, und der Beschreibung der Gatsby-Partygesellschaft wunderbar anschaulich, inwiefern Fitzgeralds Stoff und Dörings Inszenierung an die uns umgebende Gegenwart andocken (Figuren/Liebesgeschichte) und was im Jungen Theater eher nicht akzentuiert wird (Verhandlung gesellschaftlicher Zustände). Besonders in den Absätzen 5-10 wird übrigens durchaus viel von den Bühnenvorgängen plastisch – vielleicht lesen Sie einfach noch mal nach?
Mit freundlichen Grüßen,
Anne Peter / Redaktion
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