Tausende von Blüten im Kopf

von Susann Oberacker

Hamburg, 9. Dezember 2007. Das "Zehntagewerk" des Giovanni Boccaccio ist hundert Geschichten lang und zwei Bände dick. Insofern ist es Zuschauers Glück, dass Stefan Otteni seine Theaterfassung des "Decamerone" auf zwei Stunden eingedampft hat. Das Ergebnis ist im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zu sehen – und zwar im kleinen, intimen, aber leider bisweilen arg stickigen Foyer im zweiten Rang.

Und so wird das Lüften des Raumes gleich mit in die Aufführung hineininszeniert: "Türen auf! Fenster auf!", brüllt der Schauspieler Daniel Wahl etwa zur Halbzeit der Vorstellung und vergisst auch die Pinkelpause nicht. Die Damen rechts, die Herren links. Aber nur kurz. Denn: "Fertig gepinkelt? Es geht weiter!" Der Ton ist familiär bis flapsig. Man ist unter sich – und im Jahre 2007. Boccaccios Novellensammlung liegt mehr als ein halbes Jahrtausend zurück. Und so wie 1350 spricht heute kein Mensch mehr. Also erzählen die fünf Schauspieler von heute die Geschichten von gestern mit ihren eigenen Worten nach. Da gibt es manches "Zack" und "Zisch" – so als spielten sich zwei Jungs einen Comicstrip vor.

Zu Land, zu Wasser und zu Pferd

Das ist dann aber auch schon alles, was an unsere schöne neue Welt erinnert. Der Rest sind alte Geschichten. Groß ist ihre Zahl – klein die Vielfalt der Themen. Ach, im Grunde geht es nur um eines: Scharfe Männer jagen schöne Frauen – zu Land, zu Wasser und zu Pferd. Das endet manchmal mit heißem Sex, jedoch meistens in Mord und Totschlag – und nur ganz selten happy.

In der Rahmenhandlung des Originals flüchtet eine Gruppe junger Menschen vor der Pest aus der Stadt Florenz in ein abgelegenes Landhaus in den Bergen. Hier genießen sie die Natur und die Ginsterblüten im Esszimmer, den frischen Wind und das gesunde Leben. Pest, Tod und Teufel sind nicht nur viele italienische Meilen entfernt, sondern werden auch noch verbannt, indem man sich Geschichten erzählt, die Freude machen.

Nur frohe Nachrichten – das ist die Bedingung. Mögen sich in Florenz die Toten stapeln – hier lebe die Idylle! Und die Fantasie! Jeden Tag wird ein "König" gewählt. Und der oder die darf sich was wünschen: Märchen, in denen die Liebe alle Hindernisse überwindet. Legenden voller Hingabe und Großzügigkeit. Oder Liebesgeschichten, die in der Katastrophe enden. Man erzählt einzeln und zu zweit, gibt Stichwörter und spornt sich an. Jeder ist jederzeit auf dem Quivive, um einzuspringen und die Handlung voran zu treiben. Denn Stillschweigen bedeutet hier den Tod.

Erzählen, um zu vergessen

Das Gieren nach dem persönlichen Glück im Augenblick und die Angst vor dem Tod – beides entspricht unserem Zeitgeist. Regisseur Stefan Otteni wollte diesem, so steht es im Programmheft, auch nachspüren. Den Geist der Zeit auf der Bühne hervorzulocken, vermag er jedoch nicht. Allein, dass seine Schauspieler ab und an einen Dreh zu laut sind, genügt nicht als Hinweis auf eventuelle Furcht. Denn vor allem sehen wir: Menschen, die versuchen, zu unterhalten – sich und uns.

"Wir sind sieben Frauen und drei Männer", verkünden die drei Frauen und zwei Männer kühn. Der erste Lacher. Prima Einstieg. Das Publikum ist dabei. Keine Frage: Dieser Abend ist amüsant. Irene Kugler, Anna-Maria Kuricová, Monique Schwitter, Lukas Turtur und Daniel Wahl entpuppen sich als virtuose Märchen-Tanten und -Onkel.

Leidenschaftlich stürzen sie sich in die Geschichten. Erzählen atemlos von der Prinzessin zu Babylon, die erst Italiener und dann Griechen um Verstand und Samen bringt, von dem Studenten, der vor Trauer um seine "Ex" die Luft anhält und stirbt, von Brudermord und Ehebruch, von notgeilen Nonnen und einem überforderten Gärtner, von einem großzügigen Ehemann und einem rachsüchtigen Liebhaber. Sie machen mit einem schwarz-blauen Vorhang Nacht und mit einem Scheinwerfer den Sonnenaufgang. Sie bauen ein Zelt und waten in Tausenden von Blüten. Kurz: Sie lassen eine ganze Welt in unserem Kopf entstehen. Und damit beglücken sie. Und dafür seien sie gepriesen.

Sind doch nur Märchen!

Und dennoch: Was diesem Abend fehlt, ist Irritation. Einen Moment flackert eine Ahnung davon auf, als Irene Kugler wütend aus einer Heile-Welt-Story ausbricht und die anderen des Märchenerzählens bezichtigt. Ähnliches wiederholt sich am Ende des Stücks: Alle versuchen, gemeinsam eine einzige Geschichte zu erzählen, "die sich lohnt", und landen doch wieder bei der Mutter, die ihre einst entführten Kinder als Erwachsene heil und glücklich wieder findet. Ende gut, alles gut? Für Stefan Ottenis "Decamerone" gilt die Formel leider nicht. Wir haben vieles gehört. Aber nur wenig erfahren.

 

Das Decamerone
von Giovanni Boccaccio
in einer Fassung von Stefan Otteni
Regie: Stefan Otteni, Bühne und Kostüme: Alexandre Corazzola.
Mit: Irene Kugler, Anna-Maria Kuricová, Monique Schwitter, Lukas Turtur, Daniel Wahl.

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Im Hamburger Abendblatt (11.12.2007) notiert -itz, Otteni habe einen "Erzähl-Wettstreit unter fünf mehr oder weniger beredten, im Improvisieren gewandten Schauspielern" inszeniert. Nur die Rahmenhandlung sei im Originalton belassen, der Rest werde in eigene Worte gefasst. "Doch der dünne Bezug zu heute ist rasch durchschaut, gerät in komischem Aktionismus-Eifer und dekorativem Stoffblütenmeer zunehmend aus dem Blick."

 

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