Sag's durch den Rüssel!

von Esther Boldt

Brüssel, 3. Mai 2013. Jemand steht am Mikrophon, in schwerer, schwarzer Lederjacke. Strähnig hängt das Haare in die Stirn, ein nackter Bauch quillt über den Hosenbund. Mit ungeheuer klarer, heller Stimme haucht diese Figur schwebende Laute ins Mikrophon: "aiii", könnte man sie transkribieren, oder "h-h-h-h", ein lauthaftes, rhythmisches Atmen. Wir hören und sehen: Antonia Baehr, die im Auftrag des Musikers Frédéric Bigot das Lied des Chinesischen Flussdelfins singt. Mit wenigen Handgriffen hatte sie zuvor die Verwandlung vollzogen: Weste auf, Lederjacke drüber, Bauch aus der Hose und Haare durchgestruwwelt.

In ihrer neuen Performance "Abecedarium Bestiarium" erkundet Baehr den Grenzbereich zwischen Mensch und Tier. Beim Brüsseler Kunstenfestivaldesarts wurde sie uraufgeführt – einem Festival, das 1994 von Frie Leysen begründet wurde, um die zeitgenössische Kunst in die belgische Hauptstadt zu bringen und ein Programm zu präsentieren, das von Anfang an eigenwillig und kompromisslos war, heterogen, interdisziplinär und international. Heute hat es einen festen Platz im Festivalkalender der Theaterreisenden, ein Großteil der künstlerischen Arbeiten wird fürs Kunstenfestival produziert und startet von hier aus seine Reise durch den europäischen Festivalsommer.

Zwischen den Künsten, zwischen den Geschlechtern
Zum Konzept gehört auch, dass man am Eröffnungstag gleich zwischen vier Produktionen wählen kann – von der einen, großen Eröffnungsinszenierung hält Christophe Slagmuylder, der das Festival seit 2006 leitet, ebenso wenig wie die Gründerin. Zudem wird Baehrs Uraufführung in einem eigenen Kontext präsentiert: Seit März ist in der Spielstätte Beursschouwburg die Ausstellung "Make Up – at Antonia Baehr and Werner Hirsch's Table" zu sehen, die mit Videos, Büchern, Installationen und Performances Einblicke in 15 Jahre künstlerischen Schaffens gibt. Und auch der streifende Blick errät, dass diese Künstlerin sich stets im Dazwischen situiert: zwischen den Künsten und zwischen den Geschlechtern. Mit Judith Butler begreift sie Geschlecht – und also Identität – als den performativen Akt, sich immer wieder neu hervorzubringen. Dies schließt natürlich die Freiheit ein, sich diese Normalisierungsprozesse spielerisch, intervenierend, kritisch anzueignen. Kategorien werden zugleich ein- und ausgesetzt. Auf der Bühne trägt Baehr stets dreiteilige Herrenanzüge; ausrasierte Geheimratsecken, gebleichte Brauen und Wimpern verschieben ihre Gesichtskontur ins Offene. In "Abecedarium Bestiarium" sind es nicht nur Wesen zwischen den Geschlechtern, die hervorgebracht werden, sondern auch zwischen Mensch und Tier.

abecedarium2 560 almudenacrespo uW wie Wildschwein? Nein, T wie Tasmanischer Tiger. "Abecedarium bestiarium"
© Almudena Crespo

Wie schon bei "Lachen / Rire" (2009) hat Antonia Baehr Freunde aufgefordert, für sie Kompositionen, Scores und Spielanleitungen zu schreiben. Ausgestorbene Tierarten als Metaphern verwendend, sollen sie die Beziehung zwischen ihr und ihren Freunden porträtieren. Das klingt komplizierter, als es ist: In sieben Stationen geht es durch den Raum, federleicht und zugeneigt tanzt und trippelt Baehr den Vogel Dodo, mit nackten Brüsten auf schwarzem Samt wird sie zur dämonisch-lustvollen Grinsekatze, die sich die bunten Krallen schleckt. Als der letzte Tasmanische Tiger namens Benjamin rollt sie sich auf dem Boden zusammen, während ein Lautsprecher ihre Geschichte erzählt. Und in einem Multimediavortrag über das Waldwildpferd, den Tarpan, überlagern sich Pferdezeichnungen, die Baehr und ihre Freundin Isabell Spengler in Kindertagen anfertigten. Von den ausgestorbenen Arten gibt es wenig Zeugnisse, und so sind die Tiere, die Antonia Baehr auf den Leib gedichtet werden, unverfügbar – ähnlich wie Fabel- oder Märchenwesen. So besetzt das Imaginäre spielend die Leerstelle, vor dem physischen und vor dem geistigen Auge entstehen Hybride, die wiederum an Zentauren erinnern und an Meerjungfrauen, diese mythologischen oder märchenhaften Halbwesen aus Mensch und Tier.

Verschwinden in der Struktur
Jeden Score erfüllt Baehr mit derselben Aufmerksamkeit und Konsequenz. Dabei beweisen ihr großzügiges Gesicht und ihre Stimme eine enorme Wandlungsfähigkeit, entspannt gleiten ihre Züge in jede Miene, und sie bringt Laute hervor, deren Vielfalt sich der Niederschrift verweigert. Je länger man diesem Solo zusieht, desto mehr scheint Antonia Baehr in der Vielheit der entworfenen Spezies, der Körper und ihrer Kostümierungen in den Hintergrund zu treten. Als setze die Überdeterminierung die Wiedererkennung aus, als verschwände die Performerin in der Spielstruktur, die für sie geschaffen wurde. Und so ist es sicher kein Zufall, dass das "Abecedarium" mit einer Séance endet, bei der der Geist einer ausgestorbenen nordafrikanischen Antilope die Performerin wie im Vollplaybacktheater an sanft gezupften Tönen grimassieren und gestikulieren lässt. Ist das Verschwinden der Choreografin in der Performance die höchste Kunst? An diesem Abend kann die Frage getrost mit ja beantwortet werden.

 
Abecedarium Bestiarium. Portraits of affinities in animal metaphors (UA)
Konzept, Produktion & Performance: Antonia Baehr.
Mit Kompositionen von: Fred Bigot, Pauline Boudry, Velérie Castan, Lucile Desamory, Vinciane Despret, Sabine Ercklentz, Andrea Neumann, Stefan Pente, Isabell Spengler, Steffi Weismann, William Weeler u.a.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.kunstenfestivaldesarts.be

Kommentar schreiben