Was vor dem Ende gespielt wird

von Juliane Streich

Leipzig, 9. Mai 2013. Mit psychischen Störungen geht dieser Beckett-Abend von Martin Laberenz los. Bald kommt das DSM 5 heraus, das Handbuch zur Diagnose psychischer Leiden, das geistige Krankheiten definiert. Und die werden immer mehr, man nehme nur die Macke, sich immerzu kratzen zu müssen, das nun als Spin Picking geführt wird. "Demnach wird die Mehrheit der Bevölkerung bald psychisch gestört sein", erklärt ein Mann im Anzug mit leicht französischem Akzent. Er steht in der Mitte der Festspielarena des Leipziger Centraltheaters und zeigt mögliche Zusammenhänge auf zwischen Pharmaindustrie, Arbeitsverhältnissen und Depressionen. "Also mir geht's gut im Kopf, aber das ist ja schon ein Affront, wenn man das behauptet." Spricht's und setzt sich ins Publikum.

Die Bühne ist nun frei für Peter René Lüdicke und Sebastian Grünewald, die sich selbst spielen. Oder vielmehr zwei Schauspieler, die zwei Schauspieler spielen, die scheinbar Samuel Becketts "Endspiel" spielen wollen. Was aber erstmal egal ist, schließlich müssen essentiellere Fragen geklärt werden: Wie spielt man den Tod? Warum sollte man mit dem Ende beginnen? Wie oft muss man vorher den Text lesen? Reicht es nicht, sich dem Material zu nähern? Ein Streitgespräch, das immer heftiger wird, in einem gegenseitigen Bashing mündet: "Du bist doch so ein Ich-muss-mich-erst-reinfinden-Schauspieler!"

Realitäts-Bezüge
Grünewald ist der junge, engagierte Typ in Hemd und Stoffhose, der sich Zeit lässt, seine Rolle zu finden, Lüdicke dagegen der abgebrühte, leicht angepisste in geripptem Unterhemd und Schlangenlederjackett, der hier die Anweisungen gibt (Kostüme: Aino Laberenz). Beide geben Kurzperformances ihres darstellerischen Könnens. Lüdicke den Tod, Grünewald die Geburt mit übertriebenem Gestus, um dafür mit einem "Was ist denn das für ein Ballett?" abgespeist zu werden: "Hast du gehört? Der einzige, der gelacht hat, war ein kleines Kind." Und tatsächlich sitzt ein kleines Mädchen mitten im Publikum und hat einen Heidenspaß. Ob das nun geplant war oder nicht, bleibt unklar. Improvisiert wirkt das Spiel der Hauptdarsteller ständig, aber dabei so überzeugend, wie man sich Proben zweier nicht ganz einfacher Charaktere vorstellt.

endspiel2 560 R.Arnold u"Dreh dich mal!" "Endspiel" in der Festivalarena des Centraltheaters © R.Arnold

Immer wieder wird die Realität mit einbezogen. "Die Bühne hier ist aber auch schwierig, da kann ich nicht einfach nur nach vorne in eine Richtung spielen" – "Dann dreh dich!", "Du kommst aus Berlin angereist" – "Du wohnst hier in der Provinz." Lüdickes frühere Engagements an der Berliner Volksbühne werden genauso thematisiert wie der Altersunterschied der beiden oder die Requisiten, zu denen im ersten Teil vor allem eine gerollte Eintrittskarte, an der Lüdicke immer wie an einer Zigarette zieht und zwei Autos für Kinder zählen, wie man sie aus den Eingangsbereichen von Kaufhäusern kennt, in denen verzweifelte Eltern immer 50 Cent nachschmeißen müssen, damit sie das kreischende Kind weiterbewegen.

Ende mit Beckett
Spärlich ist zunächst auch das Bühnenbild, das aus nichts weiter besteht als aus einem kleinen auf den Boden geklebten Kreuz als Orientierungshilfe, neben das Lüdicke die Manuskriptblätter knallt. Später taucht ein Streichquartett plus Pianistin auf, vier Damen in High Heels und sexy Krankenschwesterkluft, bei denen man sich fragen darf, wieso nun gerade wieder dieses Outfit gewählt werden musste für die einzigen auftretenden Frauen der Vorstellung. Doch spielen sie von ihren hinteren Plätzen herzzerreißende Musik, während das sehr unterhaltsame, witzige Stück  immer absurder wird. Die Zuschauer einer halbe Reihe haben bereits den Saal verlassen, was den eh schon am Boden liegenden Lüdicke in tiefe Zweifel zieht. "Das hat mich jetzt gekillt." Daraufhin stirbt er gleich nochmal, um als Jäger in voller Montur samt trashigen Dschungelhemd wieder zu erscheinen, während Grünewald Tennis spielt, mit Zwieback als Ball. Und dann wird geschossen. Rauch steigt auf, Kriegslärm herrscht, beide werden verwundet.

Jetzt ist die Zeit von Beckett. Die Dialoge stehen tatsächlich ausschnittsweise so in seinem "Endspiel", in dem sie Hamm und Clov miteinander führen. Über die Küche, drei Meter mal drei Meter mal drei Meter, über die Müdigkeit, über die Trennung. Das Ende ist bekannt vom Anfang. "Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende" in Endlosschleife. Nur der Mensch, der keine psychische Störung hat, der kommt nicht nochmal wieder.   

Endspiel
von Samuel Beckett, deutsch von Elmar Tophoven
Regie: Martin Laberenz, Bühne: Lena Schmid, Kostüme: Aino Laberenz, Musik: Frederike Bernhardt, Dramaturgie: Michael Billenkamp.
Mit: Peter René Lüdicke, Sebastian Grünewald, Streichquartett: Katharina Deißler, Angela Hodgson, Sehee Kim, Augusta Romaskeviciute
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.centraltheater-leipzig.de

Kommentare  
Endspiel, Leipzig: Hausphilosoph
Der "Mann im Anzug mit leicht französischem Akzent" ist seit 2008 der Hausphilosoph des Centraltheaters, Guillaume Paoli. Er macht unter der Bezeichnung "Vorglühen" die Einführungsvorträge bei den Leipziger Festspielen. Deswegen hat er sich auch einfach ins Publikum gesetzt und kam am Ende - psychisch gestört oder ungestört - auch nicht mehr vor.
Endspiel, Leipzig: nicht verboten
Dass der "Mann im Anzug mit leicht französischem Akzent" mittlerweile 5 Jahre Hausphilosoph des Centraltheaters ist und Gillaume Paoli heißt, ist ebensowenig verboten zu wissen, wie von einer Rezensentin eine profunde Textkenntnis vorausgesetzt werden sollte, die es erlaubt, auch aus dem improvisierten ersten Teil der Veranstaltung diverse Zitate und Anspielungen auf Becketts Text herauslesen zu können.
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