Hölle der Sehnsucht

von Kai Krösche

Wien, 9. Mai 2013. Dieser Peter Pan ist nicht der, den wir kennen. Er ist kein gutgelaunter Ewigjunger, der den Kampf gegen die Vernunft der Erwachsenwelt antritt. Er ist vielmehr ein Mann, der einfach nicht erwachsen werden will, sich gegen den Fortlauf der Dinge stemmt, ohne wirklich zu wissen, warum. Und das Mädchen Wendy, das von Peter Pan mit seinen Brüder nach Neverland gelockt wird, jener Insel eben, wo man niemals erwachsen wird, ist hier nun eine Frau, die der Sehnsucht nach Jugend, Schönheit und Unschuld verfallen ist.

Trügerischer Himmel, abgründige Welt

Die Peter Pan-Geschichte, die die spanische Performerin Angélica Liddell in der Wiener Festwochen-Koproduktion "Todo el cielo sobre la tierra (El síndrome de Wendy)" zeichnet, hat also wenig zu tun mit dem kindertauglichen Märchen, wie man es aus Disney-Filmen oder dem Jugendtheater kennt. Schon der "ganze Himmel über der Erde", den der Titel heraufbeschwört, ist ein trügerischer: Statt Wolken hängen ausgestopfte Alligatoren mit feixenden Mienen über einem Haufen Erde mit ein paar Büschen drauf. Statt jugendlicher Freuden offenbaren sich menschliche Abgründe, Perversionen und bis zur Selbstzerstörung entäußerte Sehnsüchte.

Wendy2 560 NurithWagner-Strauss u© Nurith Wagner-Strauss

Zwei Facetten von Wendy zeichnet Liddells Abend: Auf der einen Seite die sehnende Frau, getrieben von der Angst vor dem Verlassenwerden, hingebungsvoll bis zur Selbstaufgabe – schließlich würde sie alles für den Geliebten tun. Auf der anderen Seite ist eine manische, vom Hass und Selbstekel zerfressene Zynikerin zu erleben, die sich gegen ihre bedingungslose Abhängigkeit zu wehren versucht, ausbrechen will durch Selbstbehauptung, sich dabei aber nur in immer schlimmeren Wuttiraden auf Gott und die Welt verliert.

Traum und Spiel

Angélica Liddell strukturiert ihren Abend dabei unter Einsatz von Tanz, Musik, Sprache, Spiel zu einem heterogenen und doch wundersam einheitlichen Ganzen. Die Rahmenhandlung – eine einsame Frau reist nach Shanghai und tut dort: nichts – verschwimmt in einem traumartig-surrealen Durcheinander von Dialogsequenzen, Tanzszenen und einem abschließenden, langen, wütenden Monolog Liddells. Beginnt der Abend mit Liddell selbst, wie sie im weißen Kleid auf dem zentralen Erdhaufen exzessiv masturbiert, so dominiert der Mittelteil der Inszenierung eine lange, von einem Orchester begleitete Szene von Walzertänzen. Ein chinesisches Paar tritt auf und tanzt, einen Walzer nach dem anderen, über 70 sind die beiden schon, tanzen seit 20 Jahren gemeinsam, so erfahren wir, und lieben sich immer noch.

Und wir erfahren, was sie tun würden, um den anderen daran zu hindern, sie zu verlassen. Sie würden dem anderen sagen, dass sie ihn lieben. Dass sie traurig seien. Dass sie ohne ihn nicht leben könnten. Wenn das Paar schließlich den letzten Walzer tanzt, zeigt sich in immergleichen Bewegungsabläufen eine Schönheit und Wahrhaftigkeit, wie sie das Theater nur selten zutage bringt: zum Klang der wundervoll interpretierten Dreivierteltakte entsteht hier eine Melancholie, ein Gefühl der Vergänglichkeit, ja auch die Ahnung einer vielleicht utopischen ewigen und vor allem zeitlosen Liebe.

wendy3 560 nurithwagnerstrauss uPeter Pan und Wendy © Nurith Wagner-Strauss

Spucken, fauchen, wüten, rasen

Dem melancholischen Mittelteil folgt ein endloser aber nie langweiliger Monolog Angélica Liddells: Eine offenbar manisch-depressiv Frau verliert sich in überschwänglich-spöttischen Hasstiraden auf all jene durch ihr "Gutmenschentum" moralisch erhabenen Menschen, die ihre eigenen Abgründe hinter ihren vermeintlich guten Taten zu verstecken suchen. Immer wieder werden auch die "Mütter" als die Ursachen allen Übels umkreist.

wendy2 560 nurithwagnerstrauss uAngélica Liddell  © Nurith Wagner-Strauss

Liddell spuckt, faucht, zischt, wütet, rast und zerreißt sich förmlich bei der Interpretation ihres Textes. Sätze und Worte werden dem Publikum mit enormer wie dringlicher Aggressivität entgegengeschrien, in der sich gleichzeitig Verletzlichkeit und tiefe Verzweiflung offenbart, die mit Augenblicken totaler Aufgabe und Depression konterkariert wird. Darin entwickelt Liddells Performance eine poetische Wucht, die auch an die späten Stücke von Sarah Kane erinnert.

Selten sieht man eine derartige Preisgabe tiefster menschlicher Abgründe, ohne dass diese Offenlegung in einen platten Exhibitionismus verfiele. Ein bemerkenswerter und intensiver Abend, der vom Premierenpublikum mit buchstäblich nicht enden wollendem Applaus bedacht wurde.

 

Todo el cielo sobre la tierra (El síndrome de Wendy) / Der ganze Himmel über der Erde (Das Wendy-Syndrom)
von Angélica Liddell
Text, Bühne, Kostüme und Inszenierung: Angélica Liddell, Musik: Cho Young Wuk.
Mit: Wenjun Gao, Fabián Augusto Gómez Bohórquez, Xie Guinü, Lola Jiménez, Angélica Liddell, Sindo Puche, Zhang Qiwen, Lennart Boyd Schürmann.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at
www.festwochen.at

 

Bei der letztjährigen Ausgabe der Wiener Festwochen war Angélica Liddell mit Haus der Gewalt zu Gast.

Kritikenrundschau

Die Aufführung tauge keinesfalls als Muttertags-Geschenk, schreibt Margarete Affenzeller im Wiener Standard (11.5.2013) über diese radikale Peter-Pan-Auslegung. Allerdings löse sich die Drastik der Performance-Kunst von Angélica Liddell erst im zweiten Teil des Abends ein: wenn die spanische Performerin "mit ihren scharf zugespitzten spanischen Konsonanten zu einer nicht enden wollenden, echauffierenden Suada gegen das ihr zugeteilte Leben" anhebe. Lediglich den Utøya-Neverland-Bezug des Bühnenbildes findet die Kritikerin aufgesetzt.

Um eine "ganz gewöhnliche Festwochen-Aufgeblasenheit" handelt es sich aus Sicht von Norbert Mayer von der Wiener Presse (11.5.2013). Es gehe um "Gewalt in diversen soziopolitischen Ausformungen", um Peter Pan, "den Mann, der nicht erwachsen werden will, der sich hier als Massenmörder Anders Behring Breivik manifestiert, als ausgewachsener Psychopath. Pans Insel ist zugleich das norwegische Utøya, wo vor zwei Jahren 69 Jugendliche ermordet wurden". Der Zeitgeist wirkt allerdings auf den Kritiker so aufgesetzt wie "die bemutternde, depressive Gefährtin Wendy mit ihrem Hang zu Knaben und (zumindest verbal) bizarren Sexpraktiken".

Viel radikale Poesie bescheinigt Egbert Tholl in der Süddeutsche Zeitung (13.5.2013) diesem Abend. Eigentlich wäre der Abend allein mit der "atemberaubenden Suada" zu bestreiten wäre, "der die letzten eineinhalb Stunden der Aufführung einnimmt, den sie – auf Spanisch mit deutschen Übertiteln – spricht und deklamiert, singt und ächzt, ganz allein und doch raumfüllend mit Energie aufgeladen." Doch da die Spanierin Liddell seit inzwischen 20 Jahren Theater mache, wisse sie sehr genau Bescheid über die Wirkungsmechanismen und macht Tholl zufolge aus diesem extremen wie depressiven Abgesang auf alle Formen weiblichen Glücks einen vielschichtigen Abend voller dunkel-schöner Bildern und schöner Musik, dem sich der Kritiker eigenem Bekunden zufolge kaum entziehen kann.

Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (11.4.2014) empfindet Liddells "rätselhaft vielteilige, kitschig-böse Zuspitzung der Peter-Pan-Geschichte" als "energetischen und gedanklich oszillierenden Höhepunkt" des Berliner Dramatikerfestes F.I.N.D. an der Schaubühne 2014. Liddell "leidet, sie grunzt, stöhnt und rattert ihre zungenbrecherischen Sätze ab, dass man nur noch sprechende Gewehrsalven hört. Und über eine Stunde lang steigert sie sich in etwas hinein, das nur noch dem Artaud'schen Prinzip der Nacht gehorcht: Liddell zelebriert eine Feier der Pest als Träger des Wahrheitsvirus."

Kommentare  
Wendy-Syndrom, Wien: nicht enden wollende Abwanderung
In der Vorstellung heute wurde die Aufführung jedenfalls mit nicht enden wollender Abwanderung seitens des Publikums bedacht!
Wendy-Syndrom, Wien: nichts langweiliger als Zustimmung
@Wien: Das ist ein bisschen tendenziös. Das Festwochen-Publikum ist ja bekannt dafür, in viele Vorstellungen nur rein zu gehen, um "dabei gewesen" zu sein, dementsprechend auch die Abwanderungen - das ist in den Vorstellungen leider immer etwas ärgerlich. Zumindest in "meiner" Lidell-Vorstellung sind von den vielleicht 300 Zuschauern 20 gegangen - wenn das "nicht enden wollend" ist, na dann bitte - das finde ich für eine derartig fordernde Vorstellung schon in Ordnung. Nichts langweiliger als einhellige Zustimmung ...
Angélica Liddell, Wien: Direktheit aushalten
Bei Liddell gehen immer Leute, weil sie die Direktheit nicht aushalten. Das spricht doch nur für die Künstlerin.
Wendy-Syndrom, Wien: andere Frage
Doch keine Kritik der Festwochen-"Julia" heute? Schade, hätte mich interessiert ...
Todo el cielo..., Berlin: Immerweiterdrehen der Schrauben
So lange Liddell mit vollem Körpereinsatz eine manische, an der Welt zerbrochene und diese nun ihrerseits zerbrechen wollende in sich selbst und den eigenen Begierden gefangene porträtiert, solange sie die Fragmentierung des Menschen im Individualitätswahn vorführt, hat dieser Abend eine ungeheure – und ungeheuerliche – Kraft, die sich aus der Kompromisslosigkeit dieser Weltsicht speist. Doch sobald Wendy zum Opfer stilisiert wird, zu einer, die an der bösen, feindlichen Welt leidet und doch nur Wahrheit sucht, rückt das zu nahe an die Ideologie heran, die doch eigentlich zu entlarven wäre. Wenn Utøya als spätpubertäres Masturbationsmaterial missbraucht wird und Massenmord zur Auflehnung gegen das falsche zu werden scheint, geht der Abend zunehmend sich selbst auf den nicht ungefährlichen Leim, zu sehr scheint Liddell Gefallen zu finden am Immerweiterdrehen der Schrauben, am austesten, wann sie bricht, an der Entladefähigkeit gespielter Wut und an der Lust zu provozieren. Was bleibt, ist ein verstörender Abend, der Unbehagen erzeugt, für das sich der Zuschauer nicht schämen muss.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/04/11/utoya-in-nimmerland/#more-3300
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