Geblöke vorm Alpenpanorama

von Andreas Klaeui 

Zürich, 13. Dezember 2007. Vor zehn Jahren in Paris zeigte die Grande Dame des märchenlichten Polittheaters, Ariane Mnouchkine, den Tartuffe in schwarzem Bart und Djellabah, bedrohlich sekundiert von sechs vor Glaubenseifer blitzenden Doppelgängern. Vorgestern in Bern hat das Schweizer Parlament den milliardenschweren Businessmann und rechtspopulistischen "Volkstribun" Christoph Blocher aus dem Bundesrat geworfen.

Minarette waren der Leuchtturm seiner Politik, sozusagen; seine Partei machte zuletzt mit einem Plakat international Ärger, auf dem weiße Schafe ein schwarzes Schaf vom kreuzförmigen Schweizer Grund wegkicken. Und natürlich: Gleich nach der Abwahl riefen Blochers Freunde "Komplott!", wie Orgon in Molières Komödie zu seiner Familie.

"Le Tartuffe, ou L’Imposteur" war das Skandalstück seiner Zeit. Molière wurde seinetwegen regelrecht verteufelt, selbst der König konnte ihn nicht schützen vor den Kirchenfürsten. "Der Tartuffe" ist eine bitterböse Komödie, vielleicht Molières böseste, und liefert die Muster auch für heutige Betrüger.

Unterm Hirschgeweih
In Zürich hängt ein Hirschgeweih über dem Bühnenportal, als würde da eine Farce von Labiche gespielt. Und die längste Zeit sieht es in Matthias Hartmanns Inszenierung tatsächlich so aus, als interessiere ihn einzig die Hahnrei-Geschichte zwischen Tartuffe, Orgon und dessen Frau Elmire. Es beginnt drei Akte lang zähflüssig, sehr zähflüssig und disparat.

Maria Becker, die Grand Old Lady der Zürcher Hochdramatik, wird – mit Auftrittsapplaus – im Rollstuhl zur Bühnenmitte gekarrt und verharrt dort, ganz alte Schule, den Blick unverwandt ins Publikum gerichtet. Mit unnachahmlichem Bühnendeutsch und expressiver Zornesmimik gibt sie Orgons glaubensstrenge Mutter und liest ihrer Lotterfamilie die Leviten. Schwiegertochter, Schwager, Kammermädchen und Kinder stehen drum herum und wissen nicht viel damit anzufangen, jeder plänkelt ein bisschen auf seine Weise.

Jörg Pohl zeigt den jungen Damis in Halbstarken-Pose, tätowiert, gepierct an Auge, Mund und Nase, er lässt sich jetzt "Deimis" rufen. Seine Schwester Mariane (Catherine Seifert) rauscht mit Prada-Tüten auf die Bühne und verbleibt dort ein wenig rotzig und meist unauffällig. Dörte Lyssewski stattet die Magd Dorine mit etwas abgestandenem Sexappeal und frischem Mutterwitz aus; sie ist schwanger – vom Hausherrn?

Schwangerschaftsbäuche und andere Kalauer
Dessen vernachlässigte Gattin Elmire wiederum erweist sich in Corinna Kirchhoffs Interpretation als alkohol- und tablettendepressives Wrack, sie schlingert auf einer Achterbahn der Zerrüttung, das hat Größe. Einzig bei ihr ist etwas von jener Echtheit greifbar, die es braucht, damit Tartuffes Falschheit sich offenbart.

Dieser windet sich so verschnupft und zerknittert auf der Bühne, wie es nur Michael Maertens hinbringt (dieser aber immer gern), schlau freilich, aber weniger ein Heuchler als einer, der sich wirklich auserwählt glaubt. Tilo Nests Orgon bleibt von Anfang bis Schluss ein unglücklich in seinen Meister verliebter Einfaltspinsel. Valère, der jugendliche Liebhaber, ist bei Johannes Zirner ein infantiler Homeboy; Mariane und er pflaumen sich an – man müsste Tartuffe bedauern, würde er diese Mariane tatsächlich bekommen.

Matthias Hartmann interessiert sich nicht für Molières Figuren, er denunziert sie. Da sind ihm schnelle Lacher sicher. Aber Spannung wird sich so nicht aufbauen. Zu schweigen von einer Auseinandersetzung mit dem Stoff. Was es zu sehen gibt, ist Ausstattung. Staffage wie der Schwangerschaftsbauch von Dorine, und wie dieser ohne weitere Verbindlichkeit: ein Kalauer. Zeichen, die auf nichts verweisen, und Schauspieler-Handschriften, die nichts miteinander zu tun haben.

Rettender Bote unterm Gletscherfirn
Bis Tartuffe endlich Elmire zu verführen versucht und Orgon unter dem Tisch zusehen muss – da wird’s packend, da schnurrt natürlich Molières Komödienlaufwerk ab, doch da bekommt auch die Inszenierung tatsächlich Gestalt, wenn sie auch immer noch nicht unter die Textoberfläche geht.

Am Ende rettet sie die politische Aktualität. Die Bühnenrückwand (Volker Hintermeier) öffnet sich unter Brahms’ Alphornklängen aus der ersten Sinfonie zum Schweizer Kreuz, dahinter eine 1A-Alpenlandschaft mit Gletscherfirn und dem rettenden Boten des Königs (Jean-Pierre Cornu), der Tartuffe verhaftet, diesen Heuchler, den sein Ehrgeiz "bis hinauf ins höchste Amt" trieb. Mit Schweizer Akzent und unter Szenenapplaus beruft er sich auf das Volk, "das Lügen hasst"; und blökend ziehen weiße Holzschafe hinter einem schwarzen her. Kohärenter wird die Inszenierung dadurch nicht. Aber eine schöne Schlusspointe hat sie bekommen.

 

Der Tartuffe
von Molière
ins Deutsche übertragen von Wolfgang Wiens
Regie: Matthias Hartmann, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Su Bühler, Licht: Peter Bandl, Dramaturgie: Klaus Missbach. Mit: Maria Becker (Madame Pernelle), Tilo Nest (Orgon), Corinna Kirchhoff (Elmire), Jörg Pohl (Damis), Cathérine Seifert (Mariane), Johannes Zirner (Valère), Christian Heller (Cléante), Michael Maertens (Tartuffe), Dörte Lyssewski (Dorine), Fabian Krüger und Jean-Pierre Cornu.

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Kritikenrundschau

Zu den "Vorzügen" dieser "breit ausgekosteten Inszenierung" gehöre, schreibt Barbara Villiger Heilig (NZZ, 15.12.2007), "dass sie Molière (in Wolfgang Wiens schlanker Versübersetzung) beim Wort nimmt – was ihr auf die Länge aber wiederum zum Nachteil gereicht". Denn Hartmann, der Regisseur, traue "der bitterbös-gesellschaftskritischen Komödie zu wenig zu". Sich selber möglicherweise auch: "Seine klare und schlüssige Interpretation – Orgon, ausgehöhlt von der Midlifecrisis, sucht spirituelle Erfüllung und findet sie scheinbar in Tartuffe – instrumentiert Hartmann phasenweise derart opulent, dass einem Hören und Sehen vergeht." Dies sei vor allem eine Frage des Maßes: "Was zuerst überrascht, amüsiert, provoziert und überzeugt, erliegt schließlich, überstrapaziert, dem detailversessenen Nachdruck, mit dem es uns immer wieder beigebracht wird." Der Abend gerate deshalb ins Karikaturale. Hartmann hebe die Komödie aus den Angeln: "Sie wird, bei aller Gediegenheit, zum Schwank."

Auch Tobi Müller (Frankfurter Rundschau, 15.12.2007) hat weniger eine Komödie, sondern "Comedy der Esoterik" gesehen. Am Anfang denke man noch: "Droge, Esoterik, Askesegebot und Exzess, alles da." Was dann aber übrig bleibe, seien "ein, zwei Slapsticknummern von Nest, der erste Auftritt von Maertens sowie Kirchhoffs präzise Verstrahltheit. Der Rest ist Klamotte. Und ein Bühnenbild, das zum Abschweifen einlädt." Am Ende münde die Angelegenheit in "ein tagespolitisches Schweizer Modul mit Akzent von Jean-Pierre Cornu. Bundesrat Blocher von der rechtspopulistischen SVP wurde vom Parlament ja gerade abgewählt. Man zitiert die fremdenfeindliche Kampagne der Partei. Ein Witz so sicher wie ein dicker Hiphopper. Und gleichermaßen folgenlos."

Monsieur Tartuffe sei in Hartmanns Inszenierung ein "ziemlich sanfter Zeitgenosse", befindet Gerhard Stadelmaier (FAZ, 15.12.2007): "Der Unruhe- und Zappelschauspieler Michael Maertens ringt dem Tartuffe eine geradezu gespenstische Gelassenheit ab." Wenn am Ende aber die Parallelen zum "rechtspopulistischen Tartuffe namens Blocher" gezogen werden, mache sich Maertens "lässig zum politkabarettistischen Kasperl". Überhaupt erfinde Hartmann als ein Regisseur, dem die Oberfläche "oft schon genug Tiefe ist", für jede Figur eine "hübsche Eigenart, für deren Folgen er nicht haftet". Jeder sei für sich amüsant. "Nur: Es folgt nichts daraus. Eine gesellschaftslose Gesellschaft." Und wenn  dann Jean-Pierre Cornu zum Finale "den Beelzebub Blocher mit dem Heuchler Tartuffe" austreibt, schmecke der "hübsche Marottenreigen" zwar wenigstens kurz nach "bitterkomischer Politik". Außerhalb der Schweiz gehe das jedoch keinen was an. "Tartuffe aber ist international."

Von Anfang an setze die Inszenierung auf die "Trümpfe des sicheren Triumphs", schreibt Cornelia Niedermeier im Standard (15.12.2007): Als Gläubiger darf etwa Tilo Nest "seinen von einem sympathischen Bauch gerundeten Körper in den Yoga-Kopfstand verkehren (sicheres, zudem bewunderndes, Lachen!) und geschmeidig weich Qigong-nahe Bewegungsfolgen exerzieren". Befreit aufatmen aber könne hier vor allem das Publikum, auch ohne Yoga: "Nach den anstrengenden Jahren der Infragestellung durch des gebürtigen Zürchers Christoph Marthaler berückende Bühnenkunst darf es beruhigend traditionelles Schauspiel betrachten. Und die Klischees in seinem Kopf humorvoll bestätigt sehen. Ja, die Esoterik. So lächerlich." Und "was, wenn das Misslingen im Glücken liegt? Wenn, anders, das Wohlgefallen erkauft wird – durch Heuchelei, oder, sanfter, durch Anpassung?"

Und auch Oliver Schneider (Wiener Zeitung, 15.12.2007) hat letztlich nur "mittelmäßiges Boulevardtheater" gesehen. Hartmann, der künftige Intendant des Wiener Burgtheaters, mache aus der Komödie ein "derbes Boulevardstück mit Slapstick-Einlagen und Türengeklapper". Denn die "von Molière scharf gezeichneten Personen haben bei Hartmann kaum Kontur, spulen den Text nur ab. Stattdessen herrschen vor allem bis zur Pause platte Gags vor".

Einen boulevardesken "Abonnenten-Tröster" nennt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (18.12.2007) Hartmanns "gepflegte … ein wenig gelackte Schauspielroutine". Erst am Ende wenn Jean-Pierre Cornu sich als Vertreter des Schweizer Bundesrates mit zotteliger Strohhaarperücke aus der Almwiese erhebe, finde die "Inszenierung am Schauspielhaus Zürich ihre Errettung in der Politik". Vor diesem coup de théâtre sei man "unbeschwert, gemächlich und ohne jede Stolpergefahr" allenfalls auf "dem höheren Boulevard gewandelt". Es handele sich um gut anzuschauendes "Schauspielerpersönlichkeitstheater", vom "Oberflächenpolierer" Hartmann, der weiß, "dass Kleider Leute und Schauspielstars einen Abend machen", allen "gesellschaftspolitischen Sprengstoffs" beraubt.

 

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